Ein inneres Land

[338] Schau dir die Menschen geistig an;

Dein leiblich Aug sieht weiter nichts,

Als was es eben sehen kann

Im Schein des äußerlichen Lichts.

Es wohnt in einem andern Lichte

In ihm ein andres, zweites Sein,

Und dieses zu erkennen, richte

Den andern Blick in ihn hinein.


Es dehnt sich da ein weites Land

Oft abgrundstief, oft steil empor.

Es dürstet da der Wüste Sand,

Es spritzt der Sumpf, es weint das Moor.

Es rauscht der Wald; es stehn zur Ernte

Der Garten und das Feld bereit,

Und sonnig hell steigt das entfernte

Gebirge auf zur Ewigkeit.[338]


Und dieses Land ist reich belebt

Von flüchtgen Wesen ohne Zahl.

Das lacht und weint, das sorgt und strebt,

Bald hoch empor, bald tief zu Thal.

Es sind die rührigen Gedanken,

Die niemals schweigen, nimmer ruhn,

Heut aufrecht gehn und morgen schwanken,

Hier Gutes und dort Böses thun.


Schau dir die Menschen geistig an,

Dann siehst du diese andre Welt,

Die ihr Gebiet nicht Jedermann

Bequemlich vor die Augen stellt.

Dann tagt wohl auch in deinem Innern

Die Welt, die dort vorhanden ist,

Um dich zu mahnen, zu erinnern,

Wie viel du ihr noch schuldig bist.[339]


Quelle:
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May. Freiburg i.Br. (1900), S. 338-340.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Himmelsgedanken
Himmelsgedanken. Gedichte
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May