Entwickelung

[251] Kennst du den Stoff? Ich kenne ihn noch nicht;

Ich hab noch kein Atom, kein Molekül gesehen.

Er liegt zwar vor mir, schwer genug und dicht,

Doch sein Entstehn ist leider ohne mich geschehen.

Ich weiß nur, daß er sich verändert, schwindet,

Und frage fleißig mich: Wozu, wohin?

Und wenn dann meine Kraft die Antwort findet,

Erfahr ich nur, daß ich ein Stoff auch bin.


Kennst du die Kraft? Ich kenne sie noch nicht;

Ich hab von ihr bisher die Wirkung nur gesehen.

Zwar hör ich's, daß sie Stahl und Felsen bricht,

Doch ihr Entstehn ist leider ohne mich geschehen.

Ich weiß nur, daß sie mir zuweilen schwindet

Und frage forschend mich: Warum, wohin?

Und wenn sodann mein Geist die Antwort findet,

Erfahr ich nichts, als daß auch Kraft ich bin.[251]


Kennst du den Geist? Ich kenne ihn noch nicht,

Ich habe nur Beweise, daß er wirkt, gesehen.

Zwar hör ich seine Stimme, wenn er spricht,

Doch sein Entstehn ist leider ohne mich geschehen.

Ich weiß nur, daß auch er dem Menschen schwindet,

Und frage mich erstaunt: Weshalb, wohin?

Und wenn die Seele dann die Antwort findet,

Erfahr ich nichts, als daß auch Geist ich bin.


Kennst du die Seele? Nein, du kennst sie nicht,

Und auch mein Auge hat noch keine je gesehen.

Sie ist zwar meines Daseins Zuversicht,

Doch ihr Entstehn ist leider ohne mich geschehen.

Ich weiß nur, daß sie uns nie, niemals schwindet,

Schwebt sie auch oft zu ihrem Ursprung hin,

Und weil mein Glaube mich mit ihm verbindet,

Weiß ich von dort, daß ich auch Seele bin.[252]


Quelle:
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May. Freiburg i.Br. (1900), S. 251-253.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Himmelsgedanken
Himmelsgedanken. Gedichte
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May