3. Das Suggestionsmoment der Ehe
Kritik der freien Liebesverhältnisse von heute – Die Gefahr der vogelfreien Sexualgemeinschaften – Die Gefahr der »probelosen« Ehe – Die historische Probeehe – Das Konkubinat.

[30] Jene Form des Zusammenlebens der Geschlechter, welche heute durch die Ehe repräsentiert wird, bewahrt das Individuum vor vernichtender Einsamkeit, verhilft ihm zu einem geregelten Geschlechtsleben, zu erleichterter Elternschaft und zur sozialen Zugehörigkeit zu einem anderen Menschen, resp. zu einer ganzen Gruppe. Diese Form des legitim-sozialen Zusammenlebens hat aber noch einen anderen Vorzug, der im Hinblick auf die Suggestibilität des menschlichen Gemütes nicht zu unterschätzen ist: daß die legitime Ehe das Gefühl des »Verheiratetseins« mit sich bringt, ist ihr schönster Vorzug, wenn er auch gerade am allerhäufigsten mißbraucht wird.

Die Liebesgemeinschaft als Experiment hat ein gefährliches Element in sich. Das ist die Voraussetzung, auf[30] der sie beruht, selbst. Nicht wirtschaftliche und soziale, nicht moralische Gründe sprechen so sehr für eine offizielle Eheschließung als dieses Moment, dessen Gefährlichkeit nicht zu übersehen ist, eben diese Suggestibilität des menschlichen Gemütes. Die Gewißheit, daß die Gemeinschaft jeden Augenblick aufhören kann zu bestehen, daß sie Gefühlskrisen gänzlich ausgeliefert ist, gibt ein unbehagliches, unsicheres Gefühl von vornherein. Sie widerstreitet übrigens vollständig der Idee der Liebe, welche seit den Zeiten des Urmenschen danach verlangt, den wirklich geliebten Menschen sich zu verbinden. »Verbindung«, dieser Ausdruck der intimsten Gemeinschaft, enthält ja schon in seinem Stamm den Begriff »binden«. Diese Suggestion der Unverbundenheit entzieht den Liebenden den Boden der Sicherheit, der Unbefangenheit. Die fortgesetzte »Werbung« beider Teile um einander, welche ernste moderne Reformatoren, gewiß aus tief sittlichen Motiven heraus, verlangen, birgt aber wieder die Gefahr in sich, daß sie gerade das entgegengesetzte Resultat zeitigt, indem allzuviel Bemühung des einen Teils um den anderen, diesen – besonders den Mann – nicht selten erkalten läßt. – Auch ist diese beständige erotisch-seelische Emotion wenig geeignet, die Menschen in jene ruhige, starke, nüchterne und freie Stimmung zu bringen, die zu ihrem sozialen Schaffen notwendig ist. Gerade heute, wo für die »freie Liebe« so viele Lanzen – und von edlen Händen – gebrochen werden, können wir nicht umhin, die inneren Gefahren eines solchen Verhältnisses – zumindest unter der heutigen sozialen Konstellation und in Anbetracht des vorhandenen Menschenmaterials – zu beleuchten, wenn wir auch weit entfernt sind, die Momente, die gerade heute zur Knüpfung solcher Bündnisse führen, in ihrer zwingenden Gewalt zu unterschätzen und, natürlich noch weiter entfernt, von der sozialen Massenlüge der Verurteilung solcher Verhältnisse.[31]

Diese innere Gefahr indessen besteht und nimmt in der »Praxis« des freien Verhältnisses größere Dimensionen an, als man meinen sollte.

Im freien Verhältnis erwarten die Leute eine fortwährende »Anregung« voneinander, eine Voraussetzung, die bei der Ehe wegfällt und durch soziale Gemeinsamkeiten ersetzt wird. Das freie Verhältnis nimmt das Individuum über Gebühr in Anspruch und bietet dabei weniger persönlichen Kontakt mit dem Partner als die eheliche Gemeinschaft. In der Ehe fallen, durch die gesicherte Gemeinsamkeit des Milieus, viele Gründe zu Reibereien und Gereiztheiten fort – natürlich ist hier von solchen Paaren die Rede, die gerne zusammen sind. Ein Verhältnis, das abhängig ist von Stimmungen und Milieuschwierigkeiten, entbehrt des Friedens. Insbesondere diese letzteren sind die ärgsten Feinde der unverbunden Liebenden. Außerdem birgt die äußere Form des Liebesverhältnisses, das nicht auf sozial anerkanntes gemeinsames Hausen gegründet ist, die Besuchsform, eine schwierige »technische« Aufgabe. (Das wesentliche Merkmal der ehelichen Gemeinschaft ist, wie wir erfahren haben, die gemeinsame Häuslichkeit, daher auch das Konkubinat ehelichen Charakter trägt, sobald es der offiziellen Anerkennung nicht entbehrt.) Die Besuchsform ist, insbesondere in Anbetracht der Arbeitsüberbürdung der Männer und neuerdings auch teilweise der Frauen, wie gesagt, geradezu eine »technische« Schwierigkeit. Wann und wo und wie sollen die Leute einander sehen und wie sollen sie die knappen Stunden ausfüllen, um die beste Befriedigung in ihnen zu finden! Wenn die Frau die »besuchte« ist, verbraucht sie nicht selten zuviel ihrer geistigen Energie, ihrer seelischen Spannkraft in Erwartung dieses Besuches, insbesondere da ja im Getriebe des modernen Lebens mit Verhinderungen gerechnet werden muß, die zerstörend auf das nervöse Gewebe, das sich im Zustande der Erwartung[32] befindet, wirken müssen. Für den Mann wieder ist die Regelmäßigkeit dieser Besuche oftmals mehr, als ihm seine Zeiteinteilung erlaubt. Dazu kommen – unter den heutigen Verhältnissen – die Erschwerungen, die das Aufrechthalten der Heimlichkeit des Verhältnisses verursacht. So entstehen bald Mißhelligkeiten, vor allem aber ist gewöhnlich, durch die Technik des Wartens, Verabredens, Treffens, Verfehlens, ein peinlicher Kraftverbrauch zu verzeichnen. Das »Warten« auf irgend jemandes Besuche, das bei den Frauen nicht selten zu qualvollem »Harren« wird, ist der Tod der inneren Freiheit.

Die Frau in solchem Verhältnis hat gewöhnlich auch noch einen anderen Feind. Das ist die asketische Stimme im modernen Mann, die gerade unter der Suggestion, daß es sich um ein »Liebesverhältnis« handle, am schnellsten laut wird. In der Ehe steht das suggestible Tier kat exochén, der Mann, unter dem Eindruck, durch den Verkehr mit dem Weibe und der Familie auch seine Pflicht zu erfüllen. Das beruhigt ihn. Beim »Liebesverhältnis« beängstigt ihn bald die Suggestion der »Lust«. Besucht er seine Freundin regelmäßig, so erscheint er sich bald als eine Art Tannhäuser in Duodezausgabe. Und es ist kein behaglicher Gedanke für eine Frau, für jemanden den »Sündenpfuhl« zu repräsentieren. Die Ehefrau genießt, wenn sie geliebt wird, alle Freuden der Liebe, ohne daß die gemeinsame Kemenate als der Hörselberg erschiene, den man fliehen müsse, um seine Mannheit zu retten.

Die Geliebte kostet Zeit. Diesen Vorwurf hat die Ehefrau nicht zu ertragen und »hat« den Mann doch, d.h. lebt mit ihm, sieht und spricht ihn, ohne daß er zu diesem Zweck seine Zeit zu »Besuchen« verwendet. Die asketische Stimme des Mannes rechnet die Zeit nach, die diese Besuche ihm kosten, die besuchte Frau wieder hat die Aufgabe, diese seine kostbare Zeit »anregend« auszufüllen.[33] Die Ehefrau hingegen hat nicht nötig, während sie mit ihrem Manne ist, immer anregend zu sein. Bleierne Stunden sind im Leben unausweichlich. Wenn sie sich bei den Besuchen der Liebenden einstellen, genügen sie, das Verhältnis zur Auflösung zu bringen. – In der Ehe ist man füreinander jederzeit erreichbar, ohne umständliche mise en scène, man verbringt nicht lange kostspielige Stunden mit Konversation und erotischem Geplänkel und ist dabei doch in engstem Kontakt, schöpft Kraft durch die gegenseitige Nähe und die Möglichkeit, sich jederzeit aussprechen zu können. Auch die Gefährdungen psycho-physischer Art, die die erzwungene Trennung Liebender um die grauende Morgenstunde mit sich bringt, der »Lendemain«, an dem das Tagwerk nur mit einem Bruchteil von Kraft vollbracht werden kann – all dies gehört mit zu dem Komplex von Schädlichkeiten, die die Hausgemeinschaft Liebender notwendig erscheinen lassen. Und dabei hängt das »freie Verhältnis« – darüber können wir uns nicht täuschen – in der Luft, lebt von einem Tage zum anderen, abhängig von jeder Stimmung, jeder Störung, äußeren und inneren Feinden – Dämonen – ausgeliefert. Das wissen die Beteiligten. Und einer von beiden – manchmal beide abwechselnd – »zittert« um den Bestand des Glückes. Die psychologisch bedenkliche Folge dieses Umstandes ist die, daß die auf diese Art vereinigten Menschen eigentlich niemals ganz unbefangen miteinander werden. Ein ewiges Berechnen und Erwägen aller möglichen Konstellationen, eine gefährliche Beobachtung der eigenen Haltung und der des anderen sind die Begleiterscheinungen dieser Form des Liebeslebens. Das kostbarste Erleben, das Menschen gemeinsam haben können, wird geschmälert: die Hinwendung zum Objekt. Das gefährliche persönliche Moment läßt die innere Freiheit, die zu dieser Hinwendung nötig ist, nicht aufkommen. Erst das Bewußtsein des »Geheges«, das den Bestand[34] des Verhältnisses gegen jene »Dämonen« schützt, gibt Frieden.

Das tiefste Glücksgefühl, das einem Menschen von einem anderen kommen kann, ist nicht das Bewußtsein seiner Leidenschaft, sondern das der wirklichen Vertrautheit und unbedingten Zusammengehörigkeit. Nur ein Verhältnis, das Ehe ist, freilich seinem Wesen, nicht der bloßen Form nach, kann dieses Gefühl erwecken und auch dann nur, wenn es durch eine Reihe von Jahren bestanden hat. »Ruhe in einem anderen Herzen finden« – wenn ich nicht irre, war es Julie von Lespinasse, die mit diesem Wort das tiefste Glück bezeichnete. »Du bist die Ruh, du bist der Frieden«, das ist die Formel der Erlösung. Und wenn ein Mensch in einem andern diesen tiefsten Frieden fand – dann wird er immer auch nach dem Gehege verlangen, das ihm und dem Geliebten ein Schutzwall sei gegen Dämonen – feindliche Mächte – die Verbundenes trennen wollen.


Ich habe hier ganz abgesehen von den sozialen Gefahren und Schädigungen, die das »vogelfreie« Liebesverhältnis für die Beteiligten heute mit sich bringt. Denn diese entspringen Zeitkonstellationen, sind daher veränderbar und tragen kein der menschlichen Natur anhaftendes Moment in sich, wie jene anderen, die inneren Gefahren. Mit dieser Feststellung soll aber nicht behauptet werden, daß nicht gerade diese Form der Liebe für viele Menschen die erwünschteste und unter den heutigen Schwierigkeiten und Gefahren der Legitimität die einzig mögliche ist, da die Menschen heute eben sehr oft nur die Wahl haben zwischen dieser Liebesform oder dem erotischen Hungertod. Ein reinliches Kulturempfinden wird einen »besten Zustand« (und der ist die gute Ehe) niemals mit Erpresserhand verbreiten wollen, und soziale[35] Freiheit für alle Formen des Liebeslebens, die die Generation nicht schädigen, ist eine Forderung, deren Nichterfüllung dem natürlichsten Selbstbestimmungsrecht des Menschen Hohn spricht. Gerade diese sich hier notwendig ergebende Nebeneinanderstellung der Schäden und Schwierigkeiten der Ehe sowie der Gefahren des freien Liebesverhältnisses läßt die Krise, in der wir stehen, deutlich erkennen.


Ob diese freien Verhältnisse meist nur deshalb so kläglich ausgehen, weil die Ehe daneben steht? Ob sie besser verlaufen würden, wenn es diese Institution, nach der aus jedem freien Verhältnis heraus geschielt wird, nicht geben würde? Feststellen läßt sich nur so viel, daß die Menschen von heute, insbesondere der Mann, in der Praxis mit dieser Freiheit nichts Gedeihliches anzufangen wissen. Sind die beiden Partner ledig, so fürchtet der Mann zum Heiraten »eingefangen« zu werden, ist einer oder beide schon gebunden, so steht das Gespenst des Ehebruches, der fortgesetzten Lüge zwischen ihnen. Oder aber eine Ehenotwendigkeit mit einem anderen Partner, wo »die Verhältnisse stimmen«, treibt den einen Liebenden vom anderen. So scheitern die meisten freien Verhältnisse – an der Ehe. Vielleicht würde der Mann, wenn es keine andere Sexualform, als die freie, geben würde, in dieser fraglosen Freiheit das Weib auch ohne legitime Bindungen und eheliche Erpressungen zu besitzen lernen und das Verhältnis mit jenem notwendigen Anstand durchzuführen wissen, der ihm in der heutigen, hinter dem Rücken der Gesellschaft sich abspielenden »Freiheitlichkeit« so vollkommen zu fehlen pflegt. Warum »drückt« er sich meist nach kurzem Genuß? Zu allermeist aus dem Gefühl heraus, das Verhältnis könnte ihn irgendwie verpflichten. Er kann sich dieser Situation,[36] die den Namen der Freiheit trägt, in Wahrheit nicht »frei« überlassen, weil sie, offenbar, die Fläche tangiert, die er sich für das Gebäude der Ehe »auf alle Fälle« reservieren will. Darum gedeiht noch am besten unter allen Variationen der freien Liebe die der »galanten Liebe«, auf deren Psychologie wir noch an besonderer Stelle zu sprechen kommen werden. In operettenhafter Heiterkeit, bei sexueller Degagiertheit, erhält sich die Suggestion der Unbefangenheit am längsten. Diese Suggestion aber braucht der Mann, um das freie Verhältnis nicht zu fürchten. Sowie die Sache »ernst« wird, wird sie für ihn auch kritisch, und er sucht, so schnell er kann, wenn er nicht entschlossen ist, sich ehelich zu binden, den »Weg ins Freie«...


Das typische Verhalten des heutigen Mannes in einem freien Verhältnis führt bei kaltblütiger Prüfung zu Schlußfolgerungen, welche von den Verherrlichungen der freien Sexualgemeinschaft, die zumeist auf profunder Unkenntnis der männlichen Natur aufgebaut sind, bedenklich abweichen. Auf das freie Verhältnis ist sonderbarerweise der Mann nicht eingerichtet, er weiß damit nichts anzufangen. Er fühlt sich »zu Hause« als Junggeselle und in dem abgeschlossenen Zustand der Ehe. Aber als Junggeselle, in einer freien Verbindung lebend, fühlt er sich belästigt, befangen, und nur die Leidenschaft vermag ihn zu einer solchen Verbindung zu veranlassen. Diese Leidenschaft sieht er selbst aber als eine »Gefahr« an, gegen die er »kämpft« und von der er sich freizumachen sucht. Ist sie glücklich »besiegt«, so verbindet ihn der frei Geliebten nichts und er geht seiner Wege. Wieder sind da Momente suggestibler Natur im Spiele. Denn in der Ehe überläßt der Mann seine eigene Neigung nicht führerlos ihrem Schicksal, er hegt und pflegt sie vielmehr[37] ganz bewußt und ist froh, wenn das Verhältnis sich gut gestaltet. Er stellt die Beziehung nicht auf Leidenschaft, sondern auf Zufriedenheit. Während er die »Geliebte« nicht schnell genug verlassen kann, wenn die Leidenschaft nachläßt, fühlt er sich als sehr glücklicher Ehemann, wenn nur Sympathie und Hausfrieden vorhanden sind. »Wie leicht ›löst‹ sich's, wenn man ›nur‹ durch Gefühle verbunden war! Ein Streit – und sie gehen auseinander, als wären sie nie eins gewesen. Nicht nur der äußere Schutz, dessen die Frau heute noch bedarf und der ihr durch das Eheband garantiert wird, läßt also dieses Band heute noch notwendig erscheinen. Nein, auch innere Gründe: einzig durch dieses Band wird gewöhnlich etwas wie eine innere Dauerbeziehung erzielt. Nur die Unfreiheit ist's, die diese Helden von heute in eine Dauerbeziehung zu einem anderen Wesen bringt.«3 Wie weit diese Suggestion geht, kann man daraus ersehen, daß es fast ein typischer Fall ist, daß ein Mann sich nur schwer entschließt, eine Frau, wenn sie ihm auch wiederholt die Ehe bricht, fortzujagen. Er fühlt sich in diesem Fall nicht selten genötigt, sie zu »beschützen«. Die Geliebte hingegen verläßt er oftmals ohne ein Wort, nicht nur wenn sie ihm die Treue bricht, sondern wenn sie ihm ein einziges Mal mißliebig erscheint.

Die Suggestion der Ehe ist meist so groß, das Gefühl der »Zusammengehörigkeit« durch dieses Band wird so mächtig, daß in den Fällen, wo ein Mann seine Ehe bricht, ein Verhältnis mit einer anderen Frau daneben eingeht, meistens die Geliebte die Betrogene ist und die »Rückkehr zur Ehefrau« der moralische Imperativ, unter dem der Ehebrecher fast immer steht. Das »andere« war immer nur ein »Seitensprung« – was immer es gewesen sein mochte! Nichts charakterisiert den Pharisäer[38] so deutlich, als die Wertung illegitimer Erlebnisse – welcher Art immer sie gewesen sein mögen – als »Seitensprung«.

Das schlechte Bestehen der verschiedenen Formen des Geschlechtslebens nebeneinander erklärt sich durch die Zwitterstellung, in die die Menschen dann geraten. Es entsteht ein Zustand, dessen Gefährlichkeit nur jenem zu vergleichen ist, der sich durch die Verwendung der verschiedenartigsten Fuhrwerke in unserem Straßenleben ergibt. Nicht daß das Automobil mit Blitzesgeschwindigkeit heransaust, macht die Kreuzung der Straße gefährlich, sondern daß ein Lastwagen uns gleichzeitig die Möglichkeit versperrt, mit einem schnellen Sprung hinüberzukommen. Nicht daß die Elektrische um die Ecke jagt, bedroht uns an Leib und Leben, sondern daß das Tempo der Droschke uns beim Ausweichen den Weg versperrt. Neben den realen Eindrücken, die die Ehe sowohl als das freie Verhältnis auf die Menschen ausüben, steht ein Heer von Suggestionen, die mit im Spiele sind. Ein mir bekannter Herr, der durchaus zu den besseren zu rechnen ist, hat mir selbst zugestanden, daß, wenn man eine Geliebte eine Zeitlang besessen habe, sich unfehlbar ein »Dégoût« herausstelle; auf physischen Überdruß könne aber dieses Gefühl nicht zurückgeführt werden, da man der jungen Gattin gegenüber durchaus nichts von diesem Dégoût empfindet, d.h. wenn die Ehe mit Sympathie geschlossen wurde. Derselbe Herr gab zu, daß mehr oder weniger im Unterbewußtsein die Vorstellung mitwirke, daß durch die Verbindung mit der Gattin seine soziale Lage gefördert, während sie durch die Verbindung mit der Geliebten gefährdet wird. Die »Achtung« vor der Gattin steigt im selben Grad, in dem der betreffende Mann das Weib, das nicht seine Gattin ist und sich doch seiner Liebe ergab, mißachtet. In der Gattin achtet er nicht nur, wie er glaubt, die Gefährtin[39] und die Mutter seiner Kinder, sondern vor allem die Vermittlerin günstiger sozialer Konjunkturen. Was der ehelichen Neigung, wenn sie überhaupt vorhanden war, einige Dauerhaftigkeit sichert, ist auch der Umstand, daß die Beziehung nicht a priori auf »Leidenschaft« gestellt ist, wie im freien Liebesverhältnis. Der Ehefrau gegenüber hat der Mann noch ein anderes Gefühl in Reserve, eine gewisse stillere Neigung. Der Geliebten gesteht er dieses Gefühl gar nicht zu. Für sie ist ihm »Neigung« ein viel zu geringer Einsatz. Jeder Frau aber, die einen Mann liebt, wäre diese verbindende stillere Zärtlichkeit der Herzen, der Interessen viel mehr wert als das Rasen der Leidenschaft. Das Liebhaben ist unter Umständen mehr wert als die »Liebe«. Aber nur die Ehe übt die Suggestion aus, daß diese friedliche Sympathie hier am Platze sei. Man hört nicht auf, zusammen zu leben, wenn die Leidenschaft ihr weichen mußte. Die Geliebte wird verlassen, wenn die Begierde gestillt ist, und die »organische Tragödie« – wie Altenberg den Vorgang fortschreitender Entfremdung nennt – setzt sofort ein, sowie die Leidenschaft nachläßt.


Nicht daß der Mann die Frau im freien Liebesverhältnis meist verläßt, ist bedenklicher Erwägungen wert, denn Menschen sollen sich voneinander trennen, wenn sie miteinander keine Gemeinschaft mehr haben wollen – aber die Art, wie er sie verläßt, ist ein soziales Phänomen, das nicht übersehen und wegretouchiert werden kann. Es gab einmal in der Vergangenheit der europäischen Völker einen Typus Mann, in dem die vornehmsten Möglichkeiten, deren die männliche Natur überhaupt fähig ist, zur Entfaltung gekommen waren. Dieses Mannideal war im Ritter verkörpert. Der Ritterlichkeit vornehmstes Merkmal war: Treue gegen Gott,[40] gegen den Herrn, gegen das eigene Ideal und gegen das Weib. Und wenn selbst die Ideale des Gottesdienstes, des Herrendienstes und der eigenen Begeisterung ins Wanken gerieten – die des Minnedienstes standen über jeder Krise. Das einst geliebte Weib durfte unter gar keinen Umständen beleidigt werden, ihre Kränkung wäre gleichbedeutend gewesen mit Verrat. Was diesem Minnedienste, diesem Ideal der Ritterlichkeit zugrunde lag, war das Prinzip der freiwilligen Unterordnung des stärkeren Geschlechtes unter das schwächere. In diesem Prinzip ist die Wurzel aller Kultur verborgen. Denn hätte es nicht in der Geschichte der Menschheit Gestalt gefunden, so wäre die Kreatur niemals über den Zustand, daß der Stärkere den Schwächeren frißt, verschlingt, zerreißt, zertritt, hinausgekommen. Nur seit sich das Stärkere in zarter Unterwerfung dem Schwächeren zu Füßen legte, konnte der Gedanke der Menschlichkeit über dem der Tierheit triumphieren. Die Vorsorge des Mannes für das Weib ist übrigens schon der höheren Tierwelt eigen. Unter den Menschen ist sie tief begründet durch die leichtere physische, moralische und seelische Verletzlichkeit und Zerstörbarkeit der Frau, durch ihre biologische und wirtschaftliche Schwäche, durch ihr bedeutend verfeinertes und daher leichter lädierbares Gefühlsleben. Und an diesem Standpunkt muß unter allen Umständen und bei allen Veränderungen der Formen des sexuellen Lebens und vor allem angesichts der Frauenbewegung festgehalten werden. Das Ideal der Ritterlichkeit hat dieses Prinzip zur höchsten Blüte entwickelt. Dieses Ideal ist ja auch nicht verloren gegangen, wenigstens nicht im Kulturbewußtsein der Völker, wenn auch größtenteils in der Praxis. Die Ritterlichkeit von einst wurde zur Galanterie von heute. Und der Epigone des einstigen Ritters ist der moderne Gentleman. Er beobachtet auch tatsächlich die Formen und mehr noch[41] die Formeln des ehemaligen Ritterdienstes, aber – und hier kommt eine Einschränkung, die den Glauben an den Bestand von Ritterlichkeit leider in Grund und Boden bohrt – aber: zumeist nur soweit die Kontrolle der Gesellschaft reicht. Ein Mann, der Mann der guten Gesellschaft, ist ein Ritter, ein Gentleman, ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle – für alle die, die ihn offiziell kennen. Dieser selbe Mann benimmt sich nicht selten – unter hundert Fällen neunundneunzigmal – einer Frau gegenüber, die sich seiner werbenden Liebe ohne Garantien und ohne die kontrollierende Aufsicht der Gesellschaft ergab, durchaus nicht als ein Gentleman. Es kommt vor, daß ein Mann, ein Ehrenmann der besten Gesellschaft, einer Frau gegenüber, die sich ihm bedingungslos ergab, handelt wie ein Rowdy. Es kommt vor, daß solch ein Mann eines Tages von einer intimen Stunde von dieser Frau weggeht und nie mehr etwas von sich hören läßt. Es kommt vor, daß er sie auf der Gasse nicht mehr sieht. Gerade mit solchen Frauen, die sich beharrlich an den Mann heften, werden gewöhnlich mehr Umstände gemacht, als mit Frauen edlerer Art, die durch freiwillige Resignation dem Mann, der sie nicht mehr liebt, den Rückzug erleichtern. Der »Gentleman« hat allermeistens nur ein offizielles Gewissen. Er ist der Gattin und der Familie gegenüber und unter Männern um seine »Ehre« sehr besorgt. Ja er ist bereit – und nach dem herrschenden Sittenkodex verpflichtet – unter Umständen sein Leben für diese »Ehre« hinzugeben. Sonderbar nur, daß er sie nur offiziell verlieren kann!

»Ich denke oft, wie wenig Ahnung Männer von Edelsinn haben, obwohl sie dieses Wort immer im Munde führen,« sagt Anna Karenina.

Die Spartaner haben einen Knaben, der einem Vögelchen, das sich an seine Brust geflüchtet hatte, den Hals umdrehte, zum Tode verurteilt.[42]

Wie viele Männer tun, der einst Geliebten gegenüber, was dieser Knabe tat – aber kein Mensch verurteilt sie deswegen.

Diese Brutalisierung des Weibes, das sich hinter dem Rücken der Gesellschaft ohne deren Kontrolle einem Mann anvertraut, kann das Weib aller Klassen, aller Bildungsstufen, von der Königin bis zur Proletarierin, vom Mann aller Klassen und aller Bildungsstufen erfahren. Gerade hier in diesem Buche, wo Kritik geübt wird an der alten Eheform, sollen diese grausigen Vorgänge, die sich im Rahmen unserer »Gesittung« außerhalb der Ehe abspielen, gekennzeichnet werden. Und in die Hymnen, die auf die »freie Liebe« gerade von ernster ethischer Seite heute gesungen werden, können wir ohne den Vorbehalt einer offiziellen Veränderung unserer gesamten Sexualordnung nicht einstimmen.

Fast wäre man versucht zu folgern, daß die Frau in ein nicht endendes Dilemma gerät, wenn sie gegenüber dem Mannestyp, der heute der überwiegende ist, aus der Befriedigung ihres Geschlechtslebens eine Angelegenheit des Herzens macht. Das Dilemma ist dann in der Tat endlos, und darum sehen wir auch eine so ungeheure Anzahl blühender, junger Frauen und Mädchen ihr Leben in Einsamkeit vertrauern. Denn ebenso wie sie unter den heutigen Schwierigkeiten zu der richtigen Ehe nicht gelangen, ebenso finden sie auch keinen Geliebten, dem sie sich anvertrauen dürften, ohne in Schmach und Kränkung gestürzt, ohne entkräftet und erniedrigt zu werden. Daß der Abschluß dieser Verhältnisse ein minder roher sein könnte, als er gewöhnlich ist, ist eine Vorstellung, die dem Manne noch nicht deutlich geworden ist. Daß Menschen, die einander Zärtlichkeiten erwiesen haben, auf jeden Fall in einer fröhlichen, kameradschaftlichen Beziehung bleiben könnten, auch wenn die Ewigkeitsperspektive ihres Verhältnisses in den Hintergrund[43] getreten ist, daß sie auch dann – im Zeichen der freien unabhängigen Kameradschaft – wenn keine neue Liebe sie bindet, sogar noch erotische Erlebnismöglichkeiten füreinander bieten könnten und schon aus diesem Grunde einander gut bleiben müßten – diese Vorstellung ist noch ungeboren im Hirn des heutigen Mannes und zum Teil auch der heutigen Frau. Das Motiv, warum der Mann oftmals schon dann geht, wenn er selbst noch bleiben möchte, ist ja nicht zu übersehen: er würde das Verhältnis sehr oft noch sehr gern weiter führen, aber was er fürchtet, sind »Verpflichtungen« und »Unannehmlichkeiten«. Und darum das endlose Dilemma, der schier unlösliche psycho-physische, Konflikt jener Frauen, die weder zur richtigen Ehe gelangen, noch mit der Prostitution etwas zu schaffen haben, noch das Zölibat akzeptieren.

So heißt es bei einer Sexualordnung wie der unsrigen: friß Vogel oder stirb. Das heißt für die Frau: heirate oder werde Prostituierte oder versauere in Einsamkeit, die bestenfalls durch vielfach wechselnde kurz währende Intermezzi während der Jugendjahre unterbrochen ist. Für den Mann heißt die Alternative: Ehe mit Prostitution als Vorstadium, oder altes Junggesellen-Sonderlingstum mit Prostitution als Notausflucht, solange die Sinne Forderungen stellen und möglichster »Abgewöhnung« dieser Forderungen.

So sieht das sexuelle Leben aus im Bezirke der Möglichkeiten von heute. Und es ist sehr wohl möglich, daß man, obwohl im Prinzipe Gegner der Ehe, unter dem Druck der herrschenden Situation sich für sie als die relativ beste Form des heutigen Sexuallebens entschließt. »Es ist besser zu heiraten als zu brennen.«

Daß das Morgen kommender Generationen ein anderes sei als dieses Heute, ist die Aufgabe der bewußt unter diesem Heute Leidenden.
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Alles dies beweist, daß wir die offizielle Anerkennung auch der freien Verhältnisse brauchen, wenn saniert werden soll, sowohl in bezug auf erotische Beziehungen, die ohne Absicht auf Nachwuchs und auf Dauer eingegangen werden, als auch in bezug auf die Mutterschaft und das Kind. Wenn die Gesellschaft diese Beziehungen für notwendig anerkennt, dann entfällt der Grund, sie von vornherein als eine Gefahr zu betrachten und sie schon mit der Absicht eines baldigen Bruches einzugehen. Dann entfallen die entwürdigenden Heimlichkeiten, die tausend Schwierigkeiten der Milieufrage, die gefährlichen Stimmungskrisen der verstohlen Liebenden, der ganze Komplex von Suggestionen, der das Verhältnis von vornherein als unhaltbar erscheinen läßt. Auch scheint uns parallel mit der leichteren Scheidungsmöglichkeit der legitimen Verhältnisse, die Einführung festerer Verpflichtungen bei freien Bündnissen unerläßlich. Das Gesetz beschützt die Frau in der Ehe, es beschützt sie in vielen Staaten bereits im Verlöbnis, aber es beschützt sie nicht im freien Verhältnis und das ist falsch, denn gerade da ist sie am meisten gefährdet. Außerdem lebt ein größerer Teil der Menschen in freien Beziehungen zum anderen Geschlecht als in legitimen, zumindest während einer ganzen Reihe von Lebensjahren – infolgedessen müßten auch für diese notwendige Form des Geschlechtslebens schützende Bestimmungen vorgesehen sein. Dadurch würde es auch klar werden, welche Frauen geliebt und umworben werden und welche anderen sich dem Manne aufdrängen. Durch die Usance von Privatkontrakten, die beide Kontrahenten einzugehen haben, die sogenannten Notariatsehen, wie sie heute schon manchmal eingegangen werden, müßte eine Einrichtung geschaffen sein, die die vollkommen bedingungslose Hingabe der Frauen nicht nötig macht. Heute würde eine Frau, insbesondere in Deutschland,[45] sofort als berechnende Buhlerin erscheinen, wollte sie vor Eingehung eines erotischen Bündnisses irgendwelche »Bedingungen« machen. Nur wenn diese Gepflogenheit einer allgemeinen Sitte entspräche, würde sie in dem Maße zur Anwendung gelangen, als sie tatsächlich notwendig ist. Ein Anfang in dieser Richtung ist, soviel mir bekannt, in Schweden gemacht, wo das Konkubinat gesellschaftlich anerkannt und einer offiziellen Anmeldung unterworfen ist und gleichzeitig auf einem notariellen Kontrakt der beiden Kontrahenten basiert.


Der Wert der dauernden Einehe eines Paares überragt ohne alle Zweifel an Kulturresultaten alle anderen Formen der sexuellen Verbindungen. Charakterfestigung beider Partner, Friede in Blut und Seele, gute Bedingungen der Aufzucht der Generation können ihre Früchte sein. Wenn wir dennoch die Freiheit aller sexuellen Verbindungen, die der Generation nicht schaden, neben dieser Dauerehe fordern, ja sogar deren gesellschaftliche Akkreditierung verlangen, so ist es, weil diese Dauerehe, wie wir gesehen haben, nur unter den größten Schwierigkeiten (zumindest zwischen Partnern, deren Wahl auf freier Auslese beruht) zustande kommt, weil ein Fall, der so selten ist, nicht als alleinige Form der Fortpflanzung und des Liebeslebens in Betracht kommen kann. Ehe als Dauergemeinschaft eines Mannes und eines Weibes, die durch körperliche und seelische Qualitäten sich innig zueinander hingezogen fühlen und ihre Ansprüche an das andere Geschlecht aneinander voll befriedigt finden, ist der erstrebenswerteste Zustand. Vater, Mutter und die Kinder dieses Paares in Harmonie verbunden, das ist und bleibt das Ideal. Aber da dieses Ideal von zu schwer zu erfüllenden Bedingungen abhängt, werden neben dieser Form auch noch andere Formen des Geschlechtslebens[46] als gesetzlich und gesellschaftlich berechtigt anerkannt werden müssen.

Ein scharfes Beispiel für Ehenot und Eheschwierigkeit finden wir in Frenssens Roman »Hilligenlei«, wo der Held Pe Ontjes Lau erst jahrelang an seiner wirtschaftlichen Situation zu arbeiten hat, bevor er an das Weib, das einzig für ihn in Frage kommt, auch nur denken kann, während dieses Weib in dieser Zeit der Verbitterung und der Verzweiflung ob seiner Einsamkeit anheimfällt. Am Tage, an dem er wußte, daß sein Geschäft gehen würde, hob Pe Ontjes Lau den Kopf und fragte: »Wo ist Anna Boje?« – Anna Boje aber hatte schon lange gewartet, daß er kommen sollte, hatte nichts anzufangen gewußt mit der Blüte ihres Leibes, mit der Sehnsucht ihres Blutes, hatte sich dann mit der Verzweiflung des Verhungernden kurze Zeit an einen Freund geschmiegt, den sie verstohlen »am Heckenweg« traf und der einer anderen Frau gehörte. Pe Ontjes Lau hat auch keinen Augenblick vorher Zeit, an Anna Boje zu denken. Ja ich sehe ein feines Symbol darin, daß, als nach erfolgter Erklärung das Paar die nächtliche Schiffahrt auf dem Segler macht, auf dem es sich »finden« soll – der Mann auch dazu nicht Zeit hat, vielmehr im entscheidenden Augenblick aus der Koje des Mädchens hinaufeilen muß an Bord, um das kämpfende Schiff durch die Brandung zu bringen.

Um so notwendiger erscheint es angesichts dieses aufs äußerste gespannten Daseinskampfes, der den Mann so völlig in Anspruch nimmt, daß die Augenblicke, an denen er »Mensch« sein darf, immer seltener werden, jene Momente, die »technisch« ein Beisammensein ermöglichen, und die heute nur die Ehe ergibt, auch in andere Formen der Sexualgemeinschaft hinüber zu retten, wenn anders die Verbindung nicht weit eher aufreibend als erlösend wirken soll. »Man kann niemand lieben, als[47] den, dessen Gegenwart man sicher ist, wenn man seiner bedarf«4. An erster Stelle steht die gemeinsame Wohnung. Wenn man unter einem Dach haust, nun, so findet man einander eben, wenn man nach Hause kommt. An zweiter Stelle sind die gemeinsamen Mahlzeiten da, um auch für das Beisammensein benutzt zu werden. Es ist gut und gesund und ökonomisch, einen großen Teil des Gemeinsamkeitsbedürfnisses zweier Menschen aneinander während der Mahlzeiten zu befriedigen. Ökonomisch ist es, weil die Zeit, die man allein oder zu zweit beim Mahle verbringt, ungefähr dieselbe ist, gesund, weil das einsame Essen dem Organismus weniger zuträglich ist als das durch sympathisches Geplauder belebte (allerdings kann unsympathisches »Geplauder« die Mahlzeit zur Hölle machen, der man so schleunig wie möglich zu entgehen sucht). – »On peut être seul plutôt à minuit qu'à midi,« schrieb Karoline an Schelling.

Der Karren der sexual-sozialen Möglichkeiten ist für die, die der Zwangsheirat widerstreben, schnell verfahren, und gerade die Besten werden auf diese Art vielfach an der Fortpflanzung gehindert, denn die Besten das sind die Wahlbedenklichsten. Wenn sie einem endgültigen Zwangsverhältnis in jugendlichen Jahren widerstreben, so verfahren sie entweder den Karren der Legitimität durch die Eingehung freier Bündnisse (besonders die Frau läuft heutzutage dadurch noch die Gefahr gesellschaftlicher Ächtung), oder sie verblühen allzuschnell in erzwungener Einsamkeit. Es ist wenig gewonnen, wenn Leidenschaften, die sich mit der Kraft des Elementes in gesunden, jugendlichen Körpern und Seelen melden, glücklich »unterdrückt« sind. Aus dieser Unterdrückung entsteht eine schwere Belastung des psychischen und leiblichen Organismus; andererseits ist es noch[48] schlimmer, wenn um dieser Leidenschaft willen die Menschen gleich in das Verlies der heutigen Eheform hineingedrängt werden und die Tür sich hinter ihrem Schicksal für immer schließt. Der Wechsel der Sexualgemeinschaft innerhalb eines langen Menschenlebens und im Laufe einer Entwicklung muß von der Gesellschaft als selbstverständlich und notwendig anerkannt werden. Der freie Spielraum, die dauernde Bindung einzugehen, muß beiden Geschlechtern bis zur Erlangung der richtigen Reife und der geeigneten Lebensverhältnisse ermöglicht sein. Mann und Frau müssen sich sowohl als soziale als auch als erotische Kräfte erst entwickeln, bevor sie in die richtige Gemeinschaft mit dem bestpassenden Weggenossen einmünden. Die Fortpflanzung aber muß frei werden von dieser einzigen Form der sexual-sozialen Dauergemeinschaft, sie muß in jenen Jahren, in denen die Kraft und Schönheit des Individuums sowohl wie die seines Keimplasmas auf der Höhe steht, stattfinden dürfen, unabhängig davon, ob die Verbindung der zeugenden Eltern eine endgültige sei und ohne daß der Boden für weitere gesellschaftlich vollgültige sexuelle Schicksale ihnen sozial dadurch abgegraben wird. Den Kindern der Kraft, der Jugend und der freien Auslese muß, unabhängig von der Ehereife, Ehefähigkeit und Ehewilligkeit der Eltern, der Weg zur Geburt frei stehen. Durch welche Reformen unserer Sexual- und Wirtschaftsordnung dieser möglicht werden wird, soll an anderer Stelle untersucht werden. Die Versorgung der Frau, die ihr heute durch die Ehe tatsächlich noch am ehesten geboten ist, muß sich auf einem anderen Wege erzielen lassen. Der Schutz für Mutter und Kind, der immer und für alle Zeiten und unter allen Voraussetzungen eine elementare Notwendigkeit ist und durch Frauenarbeit niemals gewährleistet sein kann, muß auf anderem Wege erreicht werden als auf dem der heutigen[49] Ehe, die den Mann so sehr belastet, daß er in immer späteren Jahren zu ihr gelangt. Und die Gesellschaft selbst wird es übernehmen müssen, Mutter und Kind zu sichern und zu stützen. Denn wenn jugendliche, kräftige Männer an der Fortpflanzung verhindert sind und sie ihnen erst in fortgeschrittener Karriere ermöglicht wird, wird die Gesellschaft selbst um die besten Früchte eines aufsteigenden Rasseprozesses betrogen. Nur der gutgezeugte Mensch wird zur Persönlichkeit. Die hochentwickelte Persönlichkeit trägt die Entwicklung. Sie entstehen zu lassen in möglichst großer Zahl muß das Ziel des Kulturstaates sein. Durch die heutige legitime Ehe resp. die Erschwerungen der Bedingungen, unter denen sie rassefördernd zustande kommen kann, wird diesem Ziel entgegengearbeitet.


Das Argument: »der Mann wird die Frau ohne legitime Bindung viel schneller verlassen« hat zweifellos seine Richtigkeit – unter den heutigen Verhältnissen, welche den Stand der Ehe als den einzig geordneten der geschlechtlichen Beziehungen gelten lassen, so daß der Mann jede andere Beziehung nur als ein Provisorium betrachtet, welches ja nicht zu fest, zu bindend werden dürfe, um ihn im entscheidenden Moment nicht von der Heirat (als der höheren, geordneteren Etappe seiner sexual-sozialen Beziehungen) abzuhalten oder gar ihn zur Heirat mit dem betreffenden »Verhältnis« zu zwingen. Darum läßt er, sowie die Sache ernster zu werden »droht«, die Frau gewöhnlich im Stich, am schnellsten, wenn er merkt, daß sie sich etwa Kinder wünscht. Panikartig ergreift er die Flucht. Darum wird im Rahmen der heutigen Gesellschaftsvoraussetzungen die Frau, die eine freie Beziehung eingeht, tatsächlich zumeist verlassen. Da das Liebesbedürfnis, einmal geweckt, um so stärker in ihr besteht,[50] der Weg zu dessen legitimer Befriedigung aber aus vielfachen Gründen der schwierigste ist, gerät sie denn nicht selten von einer Hand in die andere, ein Vorgang, der gewiß geeignet ist, zutiefst zerrüttend auf das weibliche Seelenleben zu wirken, zumal er durch soziale Gefährdungen aller Art – im Rahmen der heutigen Ordnung – kompliziert ist. Der Mann verläßt sie heute im freien Verhältnis, weil er schon bei Eingehung dieses Verhältnisses im tiefsten Untergrund seines Gefühls, vielleicht im Unterbewußtsein, sie nach einiger Zeit zu verlassen beabsichtigt; im Oberbewußtsein stellt er ihr allerdings frei, ihn zu »fesseln«. Darauf soll ja die Beziehung (vorausgesetzt, daß nicht sie ihn verläßt, was viel seltener geschieht) beruhen, daß sie ihn »fesselt«. Kein Individuum aber bringt es fertig, ein anderes zu fesseln, wenn dessen tiefster Grundwille dagegen ist, es müßte denn eine bewußte Hypnose geübt werden, die aber auf die Dauer den Hypnotiseur mehr erschöpfen würde als den Hypnotisierten. Verlegt sich die Frau auf dieses »Fesseln«, um sich den Mann zu erhalten, so wird der tiefste Sinn der Geschlechtsgemeinschaft – der Sinn der Beruhigung durcheinander, der tiefen Verwurzelung ineinander – untergraben. Hangen und Bangen, immer neue entwürdigende Künste, seelische Akrobatenstückchen, um immer frisch zu interessieren, im Verein mit körperlich-sinnlichen Tricks treten dann für die Frau an dessen Stelle. Ihre Hauptelastizität wird an diese Fesselungsarbeit verwendet, darum ist ein Verhältnis auf solcher Basis für die Frau, die auch soziale Arbeit zu leisten hat, schlechterdings unmöglich, oder es begräbt alle anderen produktiven Kräfte, auf deren Betätigung sie nicht selten angewiesen ist, um ihre Persönlichkeit ökonomisch und moralisch zu erhalten. Steht sie nicht auf dem Fesselungsstandpunkt, sondern auf dem, »wenn er nicht mehr will, soll er gehen«, – nun, dann geht er eben unter den[51] heutigen Verhältnissen sehr bald oder – er heiratet sie. Ein drittes ist kaum jemals zu beobachten. Die Atmosphäre der Ehe als der einzig approbierten Institution der Geschlechtsgemeinschaft umgibt jedes solches Verhältnis, dringt ein mit tausend Influenzen, die die Gemüter ungeeignet machen, ein freies Verhältnis dauerhaft und schön zu erhalten. Warum aber dreht sich immer alles darum, daß die Frau den Mann »fesselt?« Warum ist nicht die Rede davon, ob er sie fessele – wenigstens nicht im allgemeinen. Deutet das auf eine grundverschiedene, in der Natur begründete Stellung der Geschlechter zueinander – oder ist diese Erscheinung das Ergebnis der sozialen Zwangslage? Der ganze »Kampf« dreht sich immer darum, daß er, wenn er das Ziel seiner Wünsche, meist die sexuelle Hingabe der Frau, erreicht hat, weg will, weiter schweifen, »genug hat«, während sie, nachdem sie sich hingegeben, um so inniger an dieser Gemeinschaft hängt. Warum ist nun er das weitereilende Element und sie das haftende? Offenbar weil er leichter Ersatz findet als sie. Und warum findet er leichter Ersatz? Erstens Zahlenfrage. Es sind mehr Frauen da. Zweitens weil er außer seiner Person einen sozialen Wert zu vergeben hat. Drittens weil es ihm die Gesellschaft nicht verwehrt, sie ihn weder öffentlich noch stillschweigend verurteilt, wenn er seine Beziehungen wechselt. Die Frau aber wird gerichtet, wenn sie es tut.

Es hängt mit dem sozialen Apparat der Ehe zusammen, daß die Männer sich immer als Beute betrachten, wenn sie in Liebe zu einer Frau geraten, daß von »Netzen, Schlingen« gesprochen wird, wenn das geschieht, was er doch nicht minder wünschte als sie. Die Welt sei voll von Netzen und Schlingen, in denen die Männer von den Weibern gefangen werden, jammert der Held in Shaws »Mensch und Übermensch«. Warum nennt sie es nicht »ins Netz geraten sein«? Offenbar weil die Dauerverbindung für ihn[52] Verpflichtungen, für sie Versorgung bedeutet. Solange sie auf diese Versorgung angewiesen ist, wird sie immer die netzewebende gefährliche Spinne für den Mann sein, dessen sexuelle Energien sie durch eine scheinbare Passivität anstacheln, dem sie sich berechnend versagen muß, um ihn, sowie er schwach wird, am Schopf zu fassen und den erotisch Benebelten zum Standesamt zu schleifen. Nach unseren gesellschaftlichen Voraussetzungen, die nur die Ehe als Mittel zur Hervorbringung von Kindern sanktionieren, muß aber die Menschheit aussterben, wenn die Frau dieses Manöver unterläßt!

Erst durch Veränderungen auf dem Gebiete der wirtschaftlichen und sexuellen Ordnung der Gesellschaft dürften die tiefen Werte, die dem freien Verhältnis – verglichen mit dem Zwangsverhältnis der Ehe – zugrunde liegen, nutzbar werden.

Es ist wahrscheinlich, daß der Mann die Frau weniger oft und nach weniger kurzen Intervallen verlassen wird, wenn das Konkubinat als ein anerkannter Status, der selbst schon ein Ziel darstellt, zu betrachten sein wird, wenn er erstens weder fürchten muß, die dauernde Bindung werde irgendwelcher Gründe halber (Kinder, moralische Verpflichtungen, gesellschaftlicher Zwang usw.) doch erfolgen müssen. Der Antrieb, sich vor diesem Moment zu drücken, fällt damit fort. Zweitens, wenn er selbst nicht zu anderer Heirat von der Voraussetzung der Umwelt und seiner eigenen, der heutigen »Ordnung« angepaßten Absicht, sowie aus Rangierungsnötigungen usw. sich gedrängt fühlt, weil diese Voraussetzungen und Absichten und Nötigungen innerhalb einer veränderten Sexual- und Wirtschaftsordnung nicht existieren.

Wenn das freie Verhältnis kein anti-soziales Provisorium, sondern eine vollgültig anerkannte, niemanden gefährdende und daher von niemanden verfolgte sexual-soziale Beziehung zweier Menschen wird – eine Beziehung,[53] die weder den Mann in der Karriere stört, noch die Frau um Ehre und Existenz bringt, noch das Kind in den Abgrund stößt – dann wird die Tatsache, daß Menschen nicht mit Wällen und Klauseln verbarrikadieren, was seiner innersten Natur nach frei ist: ihr gemeinsames geschlechtliches Leben – aufhören, ein verzweifeltes Hasard zu sein, das in 99 von 100 Fällen mit dem Bankerott eines der Beteiligten endigt, sondern wird jener heiter-freie, das Individuum und die Rasse höherführende Vorgang werden, der er im Grunde seiner Wesenheit ist.

Wenn solche Verhältnisse dann auch oftmals gelöst werden dürften, so bedeutet das nicht im entferntesten die Katastrophe, die ein solcher Vorgang heute ist. Es ist dann kein Zusammenbruch, unter dem Leichen oder Krüppel verschüttet liegen, sondern eine Veränderung, die niemandes Existenz unterminiert, niemanden weiterer Lebensmöglichkeiten, sowohl als Geschlechtswesen als auch in seiner sozialen Existenz beraubt. Heute hat die Frau (um von dem gefährdeteren Teil zu reden) viele, ja meist alle »Chancen« eingebüßt, wenn es in einem, zwei oder gar noch mehr Verhältnissen zum Bruch gekommen ist. Und doch ist nichts natürlicher, besonders während der Entwicklungsjahre jugendlicher Menschen und in der heutigen wirtschaftlich-sozialen Zwangslage der Beteiligten, als daß ein solcher Wechsel der Beziehungen sich ergibt. In einer Zeit, die auf allen Punkten – in denen die Funktionen des Individuums die Interessen der Gesellschaft schneiden, sozusagen Unfallstationen errichtet, Hilfsstationen, um das Interesse der Generation zu beschirmen, es aus der beschränkten Machtsphäre der Individuen in die weitere der Gesellschaft herauszuheben – braucht auch die Veränderung der sexuellen Beziehungen keine Katastrophe für die Beteiligten zu bedeuten, sondern eben nur eine Lösung, eine Veränderung. Und gerade die Frau wird durch solche Veränderungen nicht vor die Eventualitäten[54] gestellt werden, die ihr heute nach solchem Erleben zumeist einzig bleiben – Prostitution oder Zölibat – sondern ihr Leben ihrer Natur gemäß zu Ende führen können.


Ein Einwand, der der Forderung erleichterter und vermehrter Wahlfreiheit im Sexualleben entgegengehalten wird, lautet dahin, daß durch die Möglichkeit dieser Freiheit die Frauen oftmals, wenn sie ihre Jugend mit einem Manne verbracht haben, allein gelassen würden. Ja, warum soll denn da nicht das Gesetz der Auslese, des Sieges der Tüchtigsten, freien Spielraum haben? Warum soll ein Wesen, das nicht mehr anzieht und trotz ungestörter Gemeinschaftsjahre, trotz des Mangels feindlicher Suggestionen, nicht die Macht hatte, wertvoll zu erscheinen, jemanden behalten? Außerdem würde der große Überwert, den der Mann heute hat, der eigentlich nur eine Art Börsenwert ist, dann vermindert werden, wenn die Frauen wirtschaftlich gesichert wären, wie es im Plane einer Sexualreform der Zukunft liegt. Nur darum kriegt ja heute der jämmerlichste Wicht jederzeit so viele Frauen, als ihm zu nehmen beliebt. Gefühlskatastrophen sind wohl unvermeidlich, aber die Misere, die entsteht, wenn ein Mensch gegen seinen Willen bei einem anderen bleiben muß, ist kaum geringer. Aber vielleicht ist dieser Zwang, beieinander zu bleiben, insofern gut, als er vor neuen Überstürzungen bewahrt? Auch untergräbt doch allzu häufiges »Verändern« auf diesem Gebiet die psychische und physische Elastizität der Menschen – wie wir ja schon bei häufigen Wohnungsveränderungen beobachten können – geschweige denn da, wo die inneren Verhältnisse gänzlich »auf neu« gestellt werden? Allerdings: aber aus einer schlechten Wohnung kann man nicht schnell genug fortkommen! Es ist zwar eine Verfolgung des Schicksals, wenn man gezwungen ist, häufig seine[55] Wohnung zu wechseln, schlimmer aber ist es noch, wenn man die ungeeignete Wohnung durchaus behalten muß.

Man verkenne mich nicht: ich halte es für das günstigste Schicksal, insbesondere für die Frau, Einem nur anzugehören im Leben, ihm als erstem zu begegnen, keine Enttäuschungen an ihm zu erleben und ihm in Liebe verbunden zu bleiben bis zum Tode. Dieses glückliche Schicksal läßt sich aber von der Vorsehung nicht erpressen. Solch ein Erpressungsversuch an der Vorsehung aber ist unsere Eheform. Sie setzt das Wunder als allgemeines Menschenschicksal voraus, und das ist falsch.

Eine Verpflichtung auf Ewigkeit bei Vorgängen geschlechtlicher Natur ist nicht einzugehen. Wohl aber wäre statt solcher Erpressung geboten, alle Verhältnisse, auf denen die Geschlechtsbeziehung ruht, so einzurichten, daß sie auch ohne zwangsweise Verpflichtung dauern kann. Die gänzliche Bedingungslosigkeit der Hingabe, wie sie beim heutigen vogelfreien Verhältnis vorwaltet, widerspricht ebensosehr dem Sinne einer befriedigenden Sexualgemeinschaft, wie die Zwangsehe. Es bestehen eigentlich außerhalb der Prostitution nur diese zwei Formen des Geschlechtslebens, das Zwangsverhältnis und die Vogelfreiheit. Beide sind Gefahren, wirken als solche und werden als solche gefürchtet. Unzählige Menschen weichen jeder Geschlechtsgemeinschaft überhaupt aus, vertrauern ihr Leben im Zölibat, weil sie an diesen beiden Klippen zu stranden fürchten. Einerseits können sie die unzähligen Faktoren, die bei einer Eheschließung stimmen müssen, nicht zum Klappen bringen, andererseits haben sie im wilden Verhältnis zu schlechte Erfahrungen gemacht. Man denke an den Fall Grillparzers mit Kathi Fröhlich. Ein reiches Frauendasein wurde in der Mühle der sozialen Konstellation, die den Mann zum Heiraten oder zum Entsagen zwingt, zerrieben. Er hat sie nicht genommen wegen der weitgehenden Entschließungen,[56] die damit verbunden gewesen wären, und zu denen er sich nicht aufraffen konnte. Fiele der ganze Hokuspokus mit seiner Verpflichtung auf Ewigkeit weg, so hätten die beiden (und mit ihnen Millionen anderer) die Gesetze ihrer Liebe erfüllt, ruhig sich entwickeln lassen, was sich entwickeln mußte und gesehen, was es seiner Natur nach werden wollte, ohne vorheriges Zwangsprogramm.

Aber die ganz gefährliche Seite der legitimen Eheschließung von heute ist die, daß man in den wichtigsten Punkten, die zum Bestande der Ehe gehören, nichts voneinander weiß. Abgesehen vom Gesundheitszustand, der ja in naher Zukunft durch Atteste wird bekannt gegeben werden müssen (eine Einrichtung, zu der sich die Menschheit spät genug entschließt und nur im Hinblick auf das Herunterkommen der Rasse, die in Ehen Belasteter oder Minderwertiger verdorben wird), abgesehen von den Charaktereigenschaften, die ja auch erst bei näherem Zusammenleben zu erkennen sind, ist doch auch vor allem die Übereinstimmung im geschlechtlichen Empfinden die Grundlage und Voraussetzung einer glücklichen Ehe. Und gerade hier werden erst Erfahrungen gemacht (in der sittlichen Ehe, wie sie der »Ordnung« nach vollzogen wird), wenn die Tür unwiderruflich ins Schloß gefallen ist. In Anbetracht dieses unerhörten Hasards muß man an eine Sage der jüngeren Edda denken, der zufolge Skade selber unter den Asen einen Gatten wählen sollte, doch wurden die Bewerber hinter einem Vorhang derart versteckt, daß sie nichts von ihnen sah – als die Füße. Und danach hatte sie ihre Wahl zu treffen!

Ob zwei Eheleute sexuell zueinander taugen, ist nicht die geringste der Fragen, die bei der Erhaltung ihres Bündnisses in Erwägung kommen müssen. Die dunkelsten Geheimnisse des Sexuallebens werden aber erst nach abgeschlossener Ehe klar; ein Zurück müßte da jederzeit[57] möglich sein. Die Probeehe, die bis ins späte Mittelalter reichte und unter Mitgliedern von Fürstenhäusern ebenso üblich war wie im Bauernstande (überall da, wo Grundbesitz zu vererben war), stellt nichts anderes dar als den Versuch einer Geschlechtsgemeinschaft – sozusagen mit »unterlegtem Kontrakt« auf eventuell ewiges Engagement. »Brautkinder«, zwischen Verlöbnis und Eheschließung geboren, hatten die Erbrechte ehelicher Kinder. Diese Probenächte dienten nicht etwa nur zur Feststellung der Fruchtbarkeit der Frau, sondern auch zur Erkenntnis der sexuellen Beschaffenheit des Mannes. So erhielt, wie in einem Aufsatz von Hermann mitgeteilt wird5, Graf Johann IV. von Habsburg einen Korb von seiner Braut, Herzland von Rappoltstein, »nachdem er schon ein halbes Jahr die nächtliche Probezeit mit ihr gehalten hatte, da sie ihn der Unmännlichkeit beschuldigte.« – Diese Tauglichkeitsproben waren zur Sicherung des Erbganges historisch in der Entwicklung des Erbrechts durchaus nötig, scheinen aber auch aus rassenhygienischen und individuellen Gründen berechtigt. »Probenächte!« Schon über das Wort würden unsere Moralheuchler Zeter und Mordio schreien. Und doch liegt dieser Einrichtung der augenfällig vernünftigste Sinn zugrunde.

In gewissen Gegenden auf dem Lande hat sich die Sitte der Probenächte heute noch im Bauernstand erhalten, zum Beispiel im Schwarzwald. Das Geheimnis der sexuellen Beschaffenheit der Partner ist einer der dunkelsten Punkte der heutigen Ehe.

Eine andere ihrer gefährlichsten Eigenschaften ist das Moment der Versklavung, sowohl der sexuellen als auch der sozialen Hörigkeit, die sie mit sich bringt. »Was ist es, was das Wesen der Ehe ausmacht?« wird bei Rüdebusch gefragt. Und die Antwort, die dort gegeben wird, lautet: »Es ist der Besitz eines menschlichen Wesens für[58] lebenslängliche ausschließliche geschlechtliche Dienstbarbeit.« In der Tat trifft diese Definition das Richtige, nur muß man noch hinzufügen »und für unentrinnbaren sozialen Kontakt«. Eine Freiheitsberaubung, die sich die Menschen in gar keinem anderen Verhältnis bieten lassen würden, angefangen von der Einteilung von Tag und Nacht, der Art der Hausführung bis zum weitgehendsten Verluste von Eigen-Raum, Eigen-Zeit und Eigen-Selbst, ist da selbstverständliche Voraussetzung. Ohne die andere »Hälfte« kann die eine gar nicht gedacht werden, und so kommt es, daß Menschen, die sich nur in einem Punkt oftmals berührten, nun mit der weiten Fläche ihrer ganzen Existenz zusammengeschmiedet sind und es bleiben müssen, auch wenn sie anderen Komplementen begegnen, deren Wesensart die ihre weit besser deckt als die der legitimen Hälfte. Das Gesetz bedroht ja sogar den Ehebruch mit Freiheitsstrafe. Dieses Gesetz bedenkt wohl nicht, wie sehr von aller Scham und allem Stolz ein Mensch verlassen sein muß, der seinen Partner oder dessen Geliebten wegen Ehebruchs hinter Schloß und Riegel setzen läßt. Daß man aus diesem Motive jederzeit die Ehe lösen und ihrem Brecher das Verhältnis kündigen dürfe, ist sehr recht und billig, ihn aber dafür einsperren zu lassen, geht wider die Scham. Andererseits wieder kann man trotz gebrochener Ehe keine Scheidung erlangen, wenn nicht durch Zeugen »bewiesen« wird, wozu man gewöhnlich keine Zeugen einlädt.

Die Gatten gelten als »Eigentum« – dies der Grundgedanke der Ehe. Erst in einer Zeit, wo Eigentum Diebstahl bedeuten wird, wird auch der legitime Besitzanspruch eines Menschen an einen anderen fallen. »Wer kann sagen – ich repräsentiere alles, was du lieben kannst?« So sagt eine Bewohnerin des freien Mars in einem Roman von Laßwitz (von dem wir später noch mehr hören werden) zu dem erstaunten Erdensohne.[59]

Unter den ewigen Motiven des Wagnerschen Ringes fehlt auch dieses nicht, welches die Ehe als Zwangsanstalt charakterisiert. Was die Gattin »als solche« über den Mann vermag (nicht als Weib oder als Individualität, nein, als »Gattin«), wird uns an Wotans höchsteigener Person gezeigt. Mit allem Schreckenspomp der Legitimität fährt Fricka auf. Brünhilde kündet sie an:


»Dir rat' ich, Vater,

rüste dich selbst;

harten Sturm

sollst du bestehn:

Fricka naht, deine Frau.«


Den eigenen Liebling zu töten, bestimmt ihn – seine Frau. »Der Wälsung fällt meiner Ehre: – empfang' ich von Wotan den Eid?« Wotan (in furchtbarem Unmut und innerem Grimm auf einen Felsensitz sich werfend): »Nimm den Eid!«

Nicht im mindesten komisch wirkt diese Pantoffelszene aus Walhall, nein, tragisch.

Gewiß: viele Paare bleiben zusammen dank dieser Institution, und es ist gut so. Aber was ist ihre Zahl verglichen mit der jener, die besser längst auseinander wären, weil die Menschen in diesen abgestorbenen Bündnissen bei lebendigem Leibe vermodern. Es gibt Ehen, die geradezu an Leichenschändung erinnern: mit Toten wird da Verkehr gepflogen und Lebendes bleibt ausgesperrt. Und was den besonderen »Hafen« betrifft, der diese Institution gerade für die Frau sein soll, so muß allerdings gesagt werden, daß viele Frauen ohne diese Institution niemals in den sicheren Hafen einer Gemeinschaft gelangen würden, ja niemals irgendwelche Zugehörigkeit zu einem Menschen und einer Menschengruppe erreichen würden, wenn nicht auf der Basis der Familienzugehörigkeit und der Familienehe. Aber warum sollen solche, die nur durch diese Schiebung – und durch keinerlei Leistungen – einer Gemeinschaft einzufügen sind, besonders geschützt werden? Wir sehen, wie viele dieser »Gattinnen«[60] unberechtigterweise den Platz an der Seite eines Mannes an der Spitze der Familie behaupten, die verdienen würden, längst allein gelassen zu sein, die durch keinerlei Eigenschaften diese bevorzugte Stellung rechtfertigen, und wie viele Menschen andererseits eine passende Gemeinschaft nicht mehr eingehen können, weil sie dem betreffenden Partner zu spät begegnen, gebunden an ein Wesen, das ihn nicht befriedigt.

Die Ebner-Eschenbach sagt in ihren Aphorismen: »Soweit die Erde der Himmel sein kann, ist sie es in einer glücklichen Ehe.« Das ist wohl wahr. So eine glückliche Ehe ist aber nur darum so selten, weil sich nur in den wenigsten Fällen die Typen zusammenfinden, deren Lebensansprüche und Lebensformen wirklich harmonisch ineinandergreifen und wachsen, wo keiner dem anderen zur Last, jeder dem anderen zur Erquickung wird. Die beste Gewähr für das Zustandekommen dieses Zustandes bieten noch solche Verhältnisse, in denen beide Teile, also auch die Frau, ein reich erfülltes, persönliches Leben führen und dabei beide von der hohen Idee der Toleranz für die andere Persönlichkeit beseelt sind. Gewöhnlich schmarotzt die Frau als die Unbeschäftigte, vampyrartig an der Person und Zeit des Mannes. Freilich darf die Beschäftigung der Frau nicht so weit gehen, daß ihr keine Zeit mehr bleibt zur Pflege ihrer Weiblichkeit. Wo beide Gatten abgehetzt und müde vom Beruf einander begegnen, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihen. Mit dem Entzug an sozialer Arbeitsleitung der Frau zugunsten nicht nur ihrer Mütterlichkeit, sondern auch der Erhaltung ihrer Weiblichkeit, wird eine vernünftige Gesellschaft immer rechnen müssen. Die Hauptsache bleibt, daß die Frau ein eigenes Kulturleben führe, um so fest in sich zu ruhen wie der Mann in seinem sozialen Werke ruht. Dann werden die übertriebenen Ansprüche, die die Gattinnen an ihre Männer zu stellen pflegen, von selbst schwinden.[61]

Die größte Gefahr der Schwerlösbarkeit der legitimen Ehe liegt aber in ihrer Nichtbeachtung der Qualität der Brut, die sich aus der Verbindung eines Paares ergibt. Eine durchaus verfälschte Zuchtwahl kann da flott und unbehindert ihr Spiel treiben. Die Früchte, die sich aus der Verbindung eines Paares ergeben, können durchaus minderwertige sein, während die Verbindung des einen Partners mit einem anderen Genossen viel bessere Resultate ergeben würde. Aber das nützt nichts, immer dieselbe falsche Zucht produziert solch ein Paar weiter. »Nicht nur fort sollt ihr euch pflanzen, sondern hinauf! Dazu verhelfe euch der Garten der Ehe.« Also sprach Zarathustra.


Da in diesem Garten der Ehe so manche Gewächse gedeihen, die ihn zu wenig behaglichem Aufenthalt machen, da aber auch andererseits das vogelfreie, auf Besuchen beruhende Verhältnis nicht geeignet ist, den Vorgängen des Geschlechtslebens ein günstiges Milieu zu bieten, da gleichzeitig das Bewußtsein, daß die Veränderbarkeit der sexuellen Gemeinschaft ein notwendiges Moment im Leben des einzelnen ist, aus dem Empfinden unserer Zeit nicht mehr herauszulösen ist, so wird sie danach gravitieren müssen, dem Konkubinat jene Würde wiederzugeben, die ihm gemäß seiner historischen Vergangenheit und seiner Entwicklungsfähigkeit – in die Gesellschaftsformen der Zukunft hinein – gebührt. Wenn einer offiziellen Schließung der Ehe ein hoher Gemütswert zuerkannt werden muß, so scheint es um so notwendiger, auch dem Konkubinat durch gesellschaftliche Anerkennung zu jenen Rechten zu verhelfen, die es in der Geschichte schon einmal besessen hat. Das Konkubinat ist eine Zeitehe ohne lebenslängliche Verpflichtungen, die aber dennoch des wesentlichsten Momentes[62] der Ehe, des gemeinsamen Hausens eines Paares, nicht entbehrt. Da es außerdem die Erzeugung von Kindern gewöhnlich zur Folge hat, ist seine Beschützung durch das Gesetz und durch die moralische Wertung der Gesellschaft um so notwendiger. Die Verfemung und Verfolgung der Beteiligten, die im Gegensatz zu dem Schutz, den die Gesellschaft dem Konkubinat angedeihen lassen müßte, heute noch in manchen Staaten geübt wird, ist eine der traurigsten Erscheinungen einer auf Polizeimoral gestellten Weltordnung. Das römische Konkubinat gewährte der Mutter und dem Kind einen sehr bedeutenden Schutz vor Verwahrlosung. Beide waren sogar vom Erbrecht auf den Mann und Vater nicht ausgeschlossen, die Kinder der Konkubine erhielten 1/6 des Nachlasses. Verboten wurde das Konkubinat im 9. Jahrhundert von Papst Leo Philosophus. Trotz dieses Verbotes wurde es geübt und war durch keine besondere Verordnung angreifbar. Eine spezielle Polizeiverordnung dagegen existiert in Deutschland erst seit dem tridentinischen Konzil (1545–1563). Von da an war das Konkubinat vollständig und auf allen Linien entrechtet, ja in verschiedenen Staaten landesrechtlich strafbar, ein Zustand, der sich in manchen dieser Staaten bis zum heutigen Tage nicht nur auf dem Papier erhalten hat, sondern auch praktisch geübt wird. In Hattingen a.d. Ruhr ist folgende polizeiliche Anzeige gegen ein Paar, das im Konkubinat lebte, erstattet worden: »Sie haben Unzucht miteinander getrieben, wie es nur unter Eheleuten gebräuchlich ist.« (Diese Tatsache wurde von einer Dame aus Hattingen in einer Generalversammlung des Bundes für Mutterschutz mitgeteilt.) Eine Wiederherstellung der Rechte des Konkubinats unter Aufstellung neuer Pflichten sowohl für die Beteiligten, Mann und Weib, als auch für die an den Folgen ihres Bundes im höheren Sinne beteiligte Gesellschaft scheint[63] unerläßlich. Daß die Eltern von der Durchfütterung des Nachwuchses nicht vollkommen zu dispensieren sind, ja sogar ihren Verhältnissen entsprechend von Gesetzes wegen hierzu verpflichtet werden müssen, und zwar in weit höherem Grade als es heute durch die Alimentationspflicht des Mannes seinen unehelichen Kindern gegenüber geschieht, ist sicher, sicher aber auch, daß die Gesellschaft die Aufzucht der Generation als eine Angelegenheit, die in hohem Grade ihre eigene ist, betrachten müssen wird, und daß sie dem Kinde gegenüber die Stelle eines Obervormunds wird einnehmen müssen, sowohl um es zu beschützen gegen die Willkür seiner Erzeuger, als um es systematisch zur Entwicklung seiner sozialen Kräfte zu bringen. Wenn auch die Pflichten von Mann und Weib im Konkubinat ihren Kindern gegenüber keine wesentlich geringeren sein werden als in der heutigen Ehe, so hat diese Form der Gemeinschaft doch den ungeheuren Vorteil, daß die Kontrahenten frei und dennoch verbunden sind und daß der Nachwuchs, den sie erzeugen, der der freien Auslese ist. Diese freie Auslese wird freilich nur dadurch ermöglicht, daß die Überbürdung des einzelnen, die Verpflichtung, durch die eigene Arbeit eine ganze Gruppe von Menschen zu ernähren, innerhalb einer Ordnung, die die Mutterschaft als eine hohe soziale Leistung wertet, von selbst entfällt.


Sowohl die Betrachtung der Ehe als die der Formen und Folgen ihrer Umgehung lehrt, wie notwendig Konventionen sind. Nur müssen es Konventionen sein, in denen das lebendige Leben wirklich Spielraum hat. Solch eine Konvention scheint das gesellschaftlich approbierte Konkubinat. Mit dieser Einrichtung sind zumindest die drei schlimmsten Übel: Zwangsehe, wildes[64] Verhältnis oder vollkommene Entraffung des Geschlechtslebens, behoben. Insbesondere die Benützung der Prostitution würde durch die gesellschaftliche Sitte des Konkubinats sicherlich eingeschränkt. Wir sehen das an der arbeitenden Klasse, die das Konkubinat (welches in neun von zehn Fällen zur Ehe führt) längst als vollgültigen Ersatz der Ehe akzeptiert hat und die Prostitution in viel geringerem Maße benützt. Das gesellschaftlich anerkannte Konkubinat scheint als Übergangseinrichtung zu einer neuen Sexualordnung, deren Grundzüge wir später zu fixieren haben werden, unerläßlich. Gewiß ist durch die Tatsache, daß ein solches Verhältnis leichter und schneller gelöst werden kann als die Ehe, auch die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß sich sehr oft auch nur ein Teilglück ergeben wird. Vielleicht werden Menschen nur eine Spanne Zeit lang miteinander glücklich sein, vielleicht auch da nur unter großer gegenseitiger Nachsicht und nur mit Hilfe von einem guten Teil Resignation. Aber das ganze volle Glück ist ja überhaupt von keinem Lebensschicksal programmäßig zu erwarten, und ein Teilglück, das einem Menschen von einem anderen Menschen kommt, ist schon deswegen nicht abzuweisen, weil man ja die Garantie, daß die ganz seligmachende »Erlösung« für einen auch wirklich kommt, nicht in der Tasche hat. Will man sein Leben nicht als eine Wüstenwanderung zurücklegen, um einer Hoffnung willen, die vielleicht immer nur ein Phantom bleibt, so bleibt nichts übrig, als mit dem Schicksal zu kompaktieren.


Die Geschichte der menschlichen Ehe ist die Geschichte einer Verbindung, in welcher die Frauen allmählich den Sieg davongetragen haben über die Leidenschaften, die Vorurteile und die Selbstsucht der Männer. So[65] Westermarck in seiner Geschichte der Ehe. Wir sind aber der Meinung, daß die Ehe noch durch andere Phasen hindurch muß, um dem Ideal, das ihr ihrer Idee nach zugrunde liegt, näher zu kommen. So wie die Vatergewalt infolge der Ausbildung der Ahnenanbetung entstand, die das primitivste religiöse Bedürfnis der ersten Kulturvölker darstellt, so ist auch in der Gemeinschaftsform der Ehe ein Instinkt zum Ausdruck gekommen, der in die älteste Geschichte der Menschheit, ja in ihre vorgeschichtliche Zeit hineinreicht. Die bedingungslose Art, in welcher sich Westermarck gegen die Hypothese der Promiskuität der Urmenschen wendet, im Gegensatz zu allen anderen Forschern, hat aber etwas Gewalttätiges in sich. Er sieht in der geschlechtlichen Unregelmäßigkeit eine Anomalie, in der Ehe die natürliche Form der geschlechtlichen Beziehungen der Menschen und der höheren Tiere und kommt zu dem Schluß, daß die geschlechtliche Unregelmäßigkeit nicht etwa »am Anfang« war, sondern sich erst später aus wirtschaftlichen Schwierigkeiten entwickelte. Allerdings macht er die Einschränkung, »daß freier geschlechtlicher Verkehr nicht zu verwechseln sei mit Promiskuität, deren eigentliche Form die Prostitution ist«. Er gibt also den freien geschlechtlichen Verkehr auf alle Fälle zu.

Daß sich die Verknüpfung des freien Geschlechtsverkehrs mit wirtschaftlichen Verhältnissen, die Vermengung von Liebesbetrieb und Erwerbsbetrieb, also die Prostitution (welche Form sie auch haben möge) erst aus wirtschaftlichen Schwierigkeiten – entstanden aus den »Eigentums-Ordnungen« der Menschen, gegenüber dem chaotischen Zustand der allgemeinen Besitzlosigkeit – ergab, ist sicher. Die Hypothese, daß wirtschaftliche Ordnungen immer auch eine bestimmte, ihnen gemäße Sexualordnung gleichzeitig hervorbringen, ruht daher auf ziemlich fester Basis, und die Schlußfolgerung, daß mit neuen[66] wirtschaftlichen Ordnungen auch neue sexuelle Ordnungen Hand in Hand gehen werden, erscheint durchaus zulässig.

Westermarck leitet die Geschichte der Ehe von den Paarungsformen höherer Tiere ab und nennt die menschliche Ehe »ein Erbteil affenähnlicher Urahnen«. Wohl, aber dieser Umstand aus der Vergangenheit der Ehe macht uns das Institut nicht ehrwürdiger, und die Tatsache, daß wir die Ehe als Erbteil affenähnlicher Urahnen aufzufassen haben, läßt uns diese Form des Geschlechtslebens durchaus nicht als für alle Zeiten unentbehrlich erscheinen. So wie wir über die Ahnenanbetung hinausgekommen sind (die fehlte uns noch gerade) und nur noch in der »Vatergewalt« ein Rudiment davon besitzen, so dürfen wir folgern, daß auch die Ehe, weit entfernt, eine besondere Kulturblüte zu sein, auf die wir besonders stolz zu sein viel Ursache haben, ein Rudiment ist, aus den Urzeiten der Menschheit stammend, von affenähnlichen Ahnen ererbt, mit dem fertig zu werden die Menschheit wohl Schwierigkeiten hat, das aber eines Tages, wenn überflüssig geworden, gänzlich schwinden wird. Jung ist die Geschichte der Menschheit, und auch Sittengesetze haben, selbst wenn sie angeblich aus der »Urzeit« dieser Geschichte stammen, damit ihre Unabänderlichkeit nicht bewiesen. Nicht an die Vergangenheit, sondern an die Zukunft muß bei der Beurteilung jener Institutionen, auf denen die Entwicklung der Generation beruht, gedacht werden, und die Möglichkeit, ob die Ehe eines Tages entbehrlich geworden sein wird, hängt nicht von ihrer historischen und soziologischen Vergangenheit ab, denn nicht einer Reetablierung des Naturzustandes gehen wir entgegen. Die Freiheit der Ehe, vielmehr die Freiheit der Menschen von dem legitimen Zwang der Ehe halten wir für ein Evolutionsstadium der Zukunft, für[67] eine Frucht reifer Kultur und für das Korrelat einer neuen Wirtschaftsordnung. Die historische Hauptstütze der Ehe war ihre Notwendigkeit zwecks Vererbung legitimen Besitzes. Wenn nun eines Tages die Gesellschaft kein Erbrecht mehr kennt und braucht, weil für jedes Individuum in jeder Etappe seines Lebens Vorsorge getroffen ist/»Unfallstationen errichtet sind an allen Stellen, wo die Interessen des Individuums jene der Gesellschaft kreuzen«, wie ich es früher nannte – dann wird auch der Hauptpfeiler der legitimen Ehe stürzen. Auch die besondere Lage der Frau wird dann diesen »Halt« nicht mehr brauchen wie heute, wo sie samt der Brut ökonomisch vollkommen auf ihn angewiesen ist. Unter den heutigen Verhältnissen ist tatsächlich noch immer eine miserable Ehe unter Umständen günstiger für sie als ein ideales Liebesverhältnis. Allerdings. Aber daß das Schicksal der Frau und der Kinder nicht auf dieser so wenig würdigen Basis zu beruhen brauche, wird die Sorge der Zukunft sein müssen. Eine neue Form der Geschlechtsgemeinschaft, der monogamen Geschlechtsgemeinschaft, wie wir glauben6, gestützt auf eine entsprechende Wirtschaftsordnung, wird gefunden werden müssen, und deren Merkmal wird in einer Annäherung der beiden Pole bestehen, zwischen denen wir heute umherirren. Heute haben wir die Ehe in Gestalt einer Doppelhaft auf der einen Seite und völliger Anarchie auf der anderen. Aber weder die eine noch die andere Form des Geschlechtslebens entspricht den wahren menschlichen Bedürfnissen und bietet die günstigsten Bedingungen für das Gedeihen der Generation. Eine Verbindung von Mann und Weib, die durch die einfache Anzeige der gemeinsamen Haushaltung gesellschaftlich vollgültig ist und lediglich auf den Verpflichtungen beruht, die durch die Üblichkeit der Privatkontrakte sich[68] ergeben, während die Versorgung der Kinder teils durch die gesetzliche Verpflichtung beider Eltern, teils durch das direkte Eingreifen der Gesellschaft als Vormund der Kinder gewährleistet ist, dürfte die Form sein, die als Übergang zu einer neuen Sexualordnung am tauglichsten erscheint. Ihre moralische Basis wird vor allem durch die Auffassung der Gesellschaft, daß die Lösung solcher Verhältnisse ein so selbstverständliches Schicksal ist wie ihre Knüpfung, gewährleistet sein müssen. Damit wird der gewaltigste Pfeiler, auf dem merkwürdigerweise die beiden Hauptformen unseres heutigen Sexuallebens ruhen – die monogame Zwangsehe einerseits und die sexuelle Anarchie andererseits – ins Wanken gebracht. Dieser Pfeiler ist die »doppelte Moral« des geschlechtlichen Lebens.[69]

3

Aus meinem Artikel »Ehe und Ehegesetze«, Zeitschrift für Mutterschutz, 3. Jahrg., Heft 8.

4

Goethe.

5

In der Zeitschrift »Geschlecht, und Charakter«.

6

Allerdings ist eine Sukzession monogamer Verhältnisse gemeint.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 30-70.
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