2. Der Sexualkampf
Die Widerstände der Zeugung: Extralkampf, Sozialkampf, Sexualkampf – Der »Kampf um den tauglichen Gatten« – Verhinderung der echten, Begünstigung der falschen Zuchtwahl – Mutterschutz als Rassenhygiene.

[297] »Der Zustand der Geschlechtszellen im Augenblick der Befruchtung«79 ist für die Beschaffenheit des neuen Wesens von weittragender Bedeutung. Von viel größerer Bedeutung als alles, was mit dem Wesen nachher, wenn es geboren ist, geschieht, was das spätere Milieu ihm bietet. Der Vorgang der Zeugung also ist es, der selbst schon das wichtigste Schicksal für das dabei entstehende Wesen darstellt. Die Zeugung selbst aber kann nur nach erfolgreicher Besiegung verschiedener Widerstände zustande kommen. Ein solcher Widerstand ist der Extralkampf, das ist der Kampf der Individuen gegen alle Faktoren der äußeren Natur, welche sein Bestehen beeinträchtigen wollen; ferner der Sozialkampf, das ist der Kampf um Sein oder Nichtsein innerhalb der menschlichen Gesellschaft; endlich aber der wichtigste Kampf: der Sexualkampf, das ist, nach Darwin, »der Kampf um den tauglichen Gatten«. Seine Früchte stellen die sexuelle Auslese, die Produkte der geschlechtlichen Zuchtwahl dar. Sieghaft auf dem Plan bleibt hier, unter normalen Verhältnissen, gleich wie im Extral- und Sozialkampf, das Tüchtige, das Bestpassende – »the fittest«.

Die Ausjätung gewisser Individuen, das ist in diesem Falle die Eliminierung von der Fortpflanzung, wäre also, unter diesem Gesetz besehen, eine treffliche »Auslese«, geeignet, die für das irdische Dasein wertvollen Varianten durch ihren Nachwuchs in die Unendlichkeit hinüber zu retten, während die Untauglichen vom Schauplatz auf passive Art, das heißt durch Übergehung bei der Sexualwahl, fortgefegt würden. Nun haben wir aber gehört, daß es neben den selektorischen, das ist auslesenden Faktoren – die die Tüchtigsten durch Ausjätung der Untüchtigen[297] auslesen – nonselektorische Faktoren gibt, das heißt übermächtige Schäden, von denen Tüchtige und Untüchtige gleichermaßen betroffen werden können, denen keine Konstitutionskraft gewachsen ist – Wirkungen, »die zu stark für die Regulationen durch persönliche Tüchtigkeit«80, die nicht mehr »Reize« zu nennen sind, die für den Kampf ums Dasein schärfen (indem die Erhaltungskraft des Individuums an ihrer Bewältigung wächst), sondern die überhaupt nicht mehr »in die Regulationsbreite fallen« und höhere und niedere Organismen gleichermaßen vernichten können.

Aus unserer Untersuchung der Sexualkrise müssen wir die Folgen ziehen, daß, gleichwie im Extral- und im Sozialkampf, es auch im Geschlechtskampf solche nonselektorische, ja die Kontraselektion begünstigenden Momente gibt. Ebenso wie, wie wir erfahren haben, die Trinksitten eines Landes auch tüchtige Elemente mitdezimieren können, ebenso – nein, in viel höherem Grade, weil sie unter Umständen unentrinnbar sind – dezimieren die sexuellen Sitten, wie sie im Gesetz und in der moralischen Wertung einer Gesellschaft festgelegt und kaum zu umgehen sind – Tüchtige und Untüchtige, Edle und Unedle, schlechte und gute Varianten.

Hier ist der Punkt, wo sich der Stoff dieser Untersuchung mit dem der Rassenhygiene begegnet, deren grundlegende Erkenntnisse wir um dieser »Begegnung« an diesem Kreuzungspunkte willen als Hilfsdisziplin heranholen mußten.

Unsere sexuellen Sitten, das heißt die Gesetze moralischer wie legitimer Natur, nach denen in unserer Kulturwelt die Fortpflanzung der Menschen sich vollzieht, zeitigen (in ungleich höherem Maße als zum Beispiel Alkoholsitten) eine große Menge nonselektorischer, ja kontraselektorischer Wirkungen. Und, wie eine ökonomische[298] Krise auf dem Wirtschaftsmarkt gute und schlechte Varianten gleichermaßen blindlings vernichtet, so vernichtet die sexuelle Krise – als welche unsere Sexualsitte wirkt – gute und schlechte Varianten biologisch – indem sie:

teils die Fortpflanzung verhindert, wo sie nicht verhindert werden sollte;

teils sie begünstigt, wo sie verhindert werden sollte (also direkte Kontraselektion);

teils durch Verderbnis der Keimzellen der Eltern zur Schädigung der erzeugten Devarianten führt (zum Beispiel durch den Zwang zu der als Vorstadium zur späten Ehe notwendigen Prostitution, durch zu späte Fortpflanzung des Mannes, durch zu häufige Geburten ein und derselben Frau, durch übermäßige wirtschaftliche, den Organismus schädigende Anspannung aller Kräfte des Mannes, um eine Heirat zu ermöglichen usw.).

Daß in dem normalen Sexualsystem unserer Kulturwelt die Wurzel vielfacher Nonselektion, ja Kontraselektion zu suchen ist, ist, meines Wissens, von den Vertretern der rassenhygienischen Forschung noch nicht beachtet worden. Wenigstens fanden wir dieses Phänomen unter den oben angeführten nonselektorischen Faktoren, die Dr. Plötz geltend macht, nicht dargestellt und auch sonst nirgends angeführt.

Wie wirkt unser Heiratssystem, wie wirken seine unausweichlichen Folgen und Voraussetzungen – die Prostitution und das vielfache Zölibat – rassenhygienisch? Dies die Problemstellung.

Die Untersuchung dieser Wirkung hat bereits unsere früheren Kapitel gefüllt. Wir haben gesehen, daß der »Kampf um den tauglichen Gatten« zum allergrößten Teil seinen natürlichen Gesetzen, die auf Anziehung und Wahlfreiheit und aus ihnen entspringender Auslese beruhen, überhaupt entrückt ist. Die größere Hälfte der[299] Kulturmenschheit – die Frauen – hat diese Wahlfreiheit durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit sowie durch ihr sexuelles »Abgeschnittensein« von mehrfachen rechtlich und sittlich unangefochtenen Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung überhaupt so gut wie gar nicht. Ohne Wahlfreiheit gibt es aber keine echte sexuelle Auslese. Auch beim Manne ist diese Freiheit bedeutend unterbunden durch Verquickung der Fortpflanzungsmöglichkeit mit materiellen Rücksichten. Er pflanzt sich zumeist nicht dort fort, wo der auslesende Wille der Natur ihn dazu treibt, sondern dort, wo die »Verhältnisse es gestatten«.


  • 1. Die Fortpflanzung wird – durch unser offizielles Sexualsystem – verhindert, wo sie nicht verhindert werden sollte.
  • a) Jugendliche, starke, schöne Menschen »dürfen nicht«, wenn sie, wie gewöhnlich der Fall, zur Gründung eines Hausstandes nicht in der Lage sind.
  • b) Wenn sie der Ehe widerstreben, das heißt sich zwar fortpflanzen, aber nicht verheiraten wollen und können, gelangen sie schwer zur Fortpflanzung; zum Beispiel eine Frau findet schwer einen Mann, mit dem sie zwar ein gutgeartetes Kind zeugen könnte und möchte, den sie aber aus irgendwelchen Gründen nicht heiraten kann oder will. Beide Teile werden durch vielfache hindernde moralische und wirtschaftliche Schrecknisse – an dieser Zeugung verhindert.
  • c) Wenn Menschen schon verheiratet sind, finden sie zu anderweitiger Fortpflanzung nur unter großen Schwierigkeiten »Partner«. Bei Unfruchtbarkeit des einen ehelichen Genossen ist der andere auf diese Art mit sterilisiert. Ein klassisches Literaturbeispiel: Baumeister Solneß, der, mit einer lebenden Leiche vermählt, nicht auf jenen Turm gelangt, wo das Glück und die Schönheit wohnt, weil sein Gewissen, von einer gesellschaftlichen Institution gezüchtet, ihn nicht dahin gelangen läßt und er den Hals bricht auf dem Wege. Es ist nicht einzusehen, wenn man von der Modesache der Sitte, unter der wir heute stehen, absieht, warum ein Mann wie Solneß nicht mit Hilde Wangel Kinder zeugen soll und verdammt bleibt, sterilisiert zu sein, um seiner Ehehälfte willen, deren Geist in einer Gruft wohnt.
  • [300] 2. Die Fortpflanzung wird – durch unser offizielles Sexualsystem – begünstigt, wo sie verhindert werden sollte. (Kontraselektion.)
  • a) Ein verbrauchter Mann gelangt »endlich« zur Ehe und pflanzt sich fort.
  • b) Ein minderwertiges Weib gelangt durch Geld zur Heirat und pflanzt sich fort. (Vom Schaden der Fortpflanzung bei bestehenden entartenden Krankheiten oder Defekten, ein Schaden, der mit dem Mangel an Heiratsverboten und an erlaubter Fruchtabtreibung zusammenhängt, wollen wir hier ganz absehen, da die Rassenhygiene diese Anomalien längst in Evidenz genommen hat; wir haben uns hier mit den Rasseschäden, die sich aus den normalen Sexualvorgängen der Gesellschaft ergeben, zu befassen.)
  • c) Ein Paar, das zusammen immer nur miserablen Nachwuchs zeugt, ist immer wieder aufeinander zur Fortpflanzung angewiesen, anstatt daß der eine oder andere Partner mit besser »passenden« sexuellen Komplementen besseren Nachwuchs erzeugen könnte.
  • d) Eine durch viele Geburten schon geschwächte Frau muß weiter gebären, dezimiert daher den Nachwuchs ihres kräftigen Mannes; oder ein biologisch minderwertiger Mann schwächt durch sein lebenslanges Monopol an ein gesundes Weib deren Kinder.
  • [301] e) (Ein Fall von gleichzeitiger Begünstigung der falschen und Verhinderung der echten Auslese, ausgehend von ein und derselben Person): Ein schönes junges Mädchen der unteren Stände gibt sich einem schönen kräftigen jungen Manne der oberen Stände hin, der ans Heiraten natürlich nicht denkt. Sie wird schwanger. Ach und weh ob dieser Sache, die freudigst begrüßt werden müßte bei entsprechender gesellschaftlicher Vorsorge. Das Kind der beiden schönen kräftigen jungen Leute, die die freie Auslese zueinander geführt hat, darf natürlich nicht zur Welt kommen, und wenn es geschieht, sind ihm elende Entwicklungsverhältnisse vorbereitet. Wenn derselbe Mann dann später mit einer wenig reizvollen, aber gut dotierten legitimen Gattin seine Kinder zeugt, nachdem er selbst seine Gesundheit jahrelang durch den Sumpf der Prostitution geschleift hat – freut sich die Gesellschaft und man gratuliert.

So weit die Möglichkeit rassenhygienischer Schäden in erster Linie, das heißt durch das Institut der Ehe als solches direkt bewirkt. In zweiter Linie, indirekt wirkend, haben wir die Schäden jener sexuellen Formen, die das Institut der Ehe ermöglichen und aus ihm folgen, anzusehen:

1. Die Prostitution.

Ihr Schaden für die Rasse: Verseuchung, Schwächung der Sexualimpulse und Ausschaltung des der Prostitution überlieferten Frauenmaterials aus dem Rasseprozeß, die Vernichtung oder die schweren Schädigungen des später in der Ehe erzeugten Nachwuchses, ev. vollkommene Unfruchtbarkeit; die Schwächung der Sexualimpulse führt zur Erschwerung der Gattenwahl überhaupt; die durch die Helotenfron des Geschlechtslebens erfolgende Ausjätung des weiblichen Materials verhindert die Vererbung[302] oft sehr hervorragender körperlicher Eigenschaften, indem es zumeist hübsche Frauen sind, die sich zur Prostitution eignen. Da mehr die Not als angeborene Lasterhaftigkeit zu dieser Fron führt, kann von einer vorteilhaften Ausjätung lasterhafter Anlagen durch die Sterilisierung der Prostitutierten nicht die Rede sein.

2. Das erzwungene Zölibat von Millionen von fortpflanzungstauglichen Menschen. Millionen Menschen sind von der Fortpflanzung abgeschnitten, weil sie zur Ehe nicht gelangen. Daß es gerade die »Besten« sein sollten, die dazu gelangen, können wir bei der üblichen Verquickung der Ehe mit wirtschaftlichen Verhältnissen nicht annehmen. Auch die günstige Regelung dieser wirtschaftlichen Verhältnisse, das heißt die Tüchtigkeit, Geld zu erwerben, stellt nicht gerade ein Kriterium dar, durch welches die Edelsten auslesend herausgehoben würden. Der Mann zum Beispiel, der sein Leben einem hohen Werk der Zukunft widmet, wird am wenigsten geeignet sein, »Ernährer« und damit Familienvater zu sein. Die Tochter eines solchen Mannes wird, da mitgiftlos, leicht übergangen. In solchen Fällen ist also – da die Fortpflanzung solcher Individuen nicht unabhängig von ihrer Erwerbstüchtigkeit und ihrem materiellen Besitz ihnen ermöglicht ist – Kontraselektion am Werke. Ebenfalls da, wo es sich um wahlstolzere Individuen handelt, die höhere persönliche Ansprüche bei der Gattenwahl stellen. Es werden ihnen vielleicht Vorschläge zu Ehen gemacht, die sie ausschlagen müssen, weil die persönlichen Ansprüche an den Partner nicht befriedigt sind; dort, wo sie befriedigt sind, ist Ehe nicht möglich. Daraus folgt – innerhalb des Rahmens der Sitte, das heißt, wenn er nicht gesprengt wird – ihre Elimination. Der Sitte gemäß – und mit ihr und ihren non- und kontraselektorischen Wirkungen haben wir uns hier zu befassen, nicht mit der Umgehung der Sitte, die sich der einzelne hie und da leistet – sind Unverheiratete[303] zum Zölibat verdammt. Durch alle Voraussetzungen der Umwelt – wie wir sie in den vorigen Kapiteln zur Genüge kennen gelernt haben – wird ihnen das Zölibat, zumindest die Verhinderung der Zeugung, abgezwungen, und auf diese Art werden selbst sehr begehrte – daher von der natürlichen Zuchtwahl ausgelesene Individuen – aus dem Rasseprozeß gewalttätig geschieden.

Resolution: Unser offizielles Sexualsystem zeitigt Wirkungen, die »zu stark sind für die Regulation durch persönliche Tüchtigkeit,« die nicht mehr »Reize« zu nennen sind, die im »Kampf ums Dasein schärfend wirken« und dadurch »die allgemeine Konstitutionskraft heben«, die überhaupt nicht mehr »in die Regulationsbreite der Individuen fallen« – sondern die unter Umständen sogar geeignet sind, höhere Organismen zu vernichten, die Hervorbringung minderer zu begünstigen.

Dieses unser offizielles Sexualsystem zeitigt somit nonselektorische und kontraselektorische Wirkungen – ein Fazit, das die Rassenhygiene zu einem mit dem sexual-sozialen Reformationswerk verbündeten Faktor wird machen müssen.


Die sexuelle Krise, das heißt die Geschlechtsnot, die Schwierigkeit der passenden »Gattenwahl« ist ein kontraselektorisches Moment auch insoferne, daß dadurch die Menschen, besonders die Frauen, weniger und weniger in der Lage sind, sexuelle Zuchtwahl aus sittlichen und rassenhygienischen Gründen zu üben. Dieselbe Frau, die, wenn freies Werbespiel erlaubt und möglich wäre – das heißt ihr Sexualleben nicht auf die einzige Karte der Ehe gesetzt wäre, derart, daß sie in schwierige Konflikte gerät, wenn sie sich über diese ihr von der Gesellschaft einzig eingeräumte Form des Sexuallebens hinwegsetzen will – dieselbe Frau, die dann die Wahl hätte[304] unter allen Männern, die sie begehren (und deren sind bei einer halbwegs hübschen Frau recht viele), und die sich daher dem »Tauglichsten« zur Befruchtung ausliefern würde – dieselbe Frau hat durch das künstliche Absperrungsystem, das die meisten Männer, die sie begehren, aus unzähligen Gründen für sie nicht in Frage kommen läßt, heute nicht selten eine sehr geschwächte Resistenz dem etwa Entarteten gegenüber, soferne er nur die Hauptbedingung der ihr einzig erlaubten Sexualmöglichkeit erfüllt, nämlich ihr die Ehe bietet. Dr. A. Plötz sagt81: »Gerade bei der schlimmsten Klasse, den mittelmäßigen Trinkern, muß eine Schärfung der freien sexuellen Zuchtwahl besonders seitens der Frauen hinzukommen. Die sittliche Anschauung der Frauen muß auch den mittelmäßigen Trinker schon verurteilen. Hierbei sollten die Frauen nicht warten, bis ihnen männliche Lehrer und Schriftsteller die Sache mundgerecht gemacht haben. Das könnte sehr lange dauern. Sondern sie sollten auch diese Gelegenheit benutzen, zu zeigen, daß die Frauenbewegung imstande ist, aus sich heraus hohe menschliche Werte zu schaffen.«

Auch das Mundgerechtmachen des Problems von seiten »männlicher Lehrer und Schriftsteller« wird wenig nützen, solange die Frauen zwar einige Frauenrechte durch die Frauenbewegung erringen, in Wahrheit aber noch kein Weibesrecht haben: das Recht auf die Möglichkeit freiester sexueller Auswahl, das heißt solange sie irgendwie durch sexuelle Wahl in Schande und Not geraten können. Hier ist der Hebel anzusetzen. Hängt die Regeneration einer Rasse – wie Dr. Plötz durch diesen Appell an die Frauen zu verstehen gibt – von einer freien sexuellen Zuchtwahl der Frauen, ausgehend von sittlichen Motiven, das sind die, welche den Nachwuchs zu fördern imstande sind – ab, dann muß das A und O aller Rassenhygiene[305] lauten: Ermöglichung der absoluten Wahlfreiheit für das Weib durch höchsten gesellschaftlichen Schutz jeder Schwangerschaft und Mutterschaft, die durch Zeugung gesunder Menschen zustande kommt und Ermöglichung der Aufzucht der also erzeugten Varianten; Ermöglichung rechtzeitiger Fortpflanzung für den Mann in der Blüte und Vollkraft seiner besten Jahre, unverbraucht von übermäßiger wirtschaftlicher Fron und von der Debauche.


Es gibt Angelegenheiten, die man ruhig den Individuen überlassen kann, die sich durch deren eigenes Streben regulieren. Das sind die Angelegenheiten – die nur die Individuen angehen. Andere Angelegenheiten, die, über die Kompetenz der Individuen hinaus, die Gesellschaft in hohem Maße betreffen, muß die Gesellschaft selbst regulieren. Wie notwendig das Eingreifen der Gesellschaft den Individuen gegenüber ist, zeigen nicht nur die Gesetze des Arbeiterschutzes, sondern auch vor allem gewisse Sanitätsvorschriften bei infektiösen Epidemien, Vorschriften an öffentlichen Orten, die Verbreitung der Tuberkulose betreffend, neuerdings gewisse Verordnungen bezüglich der hygienischen Maßregeln in Friseurgeschäften, des Verkaufs von Nahrungsmitteln usw. Wo würden jemals freiwillig die Menschen solche sanitären Schutzmaßregeln und Beschränkungen errichten, woher wüßte denn auch der einzelne, was in jedem Falle zweckdienlich ist, wie würde er sich entschließen, es zu üben, wenn es mit seiner Bequemlichkeit und seinem Gewinn kollidiert?

So muß die Gesellschaft auch, wenn sie günstige biologisch-soziale Resultate mit ihrem Menschenmaterial erreichen will, Einrichtungen treffen, in denen nicht übermäßige Schädigungen nonselektorisch diese Resultate verhindern können. Sie muß mit hohem Bewußtsein Vorkehrungen[306] treffen, denen zwar erst das freie Wirken der Individuen lebendigen Inhalt gibt, die aber die Individuen vor nonselektorischer Vernichtung resp. Sterilisierung bewahren. Rassenhygiene und Mutterschutz – der die Wahlfreiheit des Weibes ermöglicht – sind voneinander nicht zu trennen und beide Angelegenheiten der Gesellschaft. Die Sexualkrise, in die wir durch unser Heiratssystem, durch unsere Sexualmoral geraten sind, bringt nicht nur die einzelnen um ihr Lebensglück, sondern schwächt die Gesamtheit, jene Vielheit, die das »eigentlich Lebendige« darstellt – die Rasse.


Nicht von rassenhygienischer, wohl aber von sozialistischer und darwinistischer Seite ist die Notwendigkeit der Verbesserung der sexuellen Zuchtwahl, durch ihre Loslösung von wirtschaftlichen Bedrängnissen, die sie verschieben, vielfach ins Auge gefaßt worden. Auf einzelne Biologen und Soziologen, wie Galton, Stanley, Hegar, Allan usf. werden wir erst im zweiten Buch dieser Arbeit, bei Besprechung der Reformvorschläge, die zur Entwirrung der Sexualkrise von verschiedenen Seiten gemacht wurden, des näheren eingehen können. An dieser Stelle haben wir uns nur noch mit den Ausführungen des Forschers Alfred Russel Wallace, eines Sozialisten auf darwinistischer Grundlage, zu befassen. Er spricht direkt, gleich uns, das Wort von der notwendigen »Wahlfreiheit« der Frau aus82. Er wünscht »die auslesende Funktion in die Hände des weiblichen Geschlechts gelegt« (das männliche hat sie sowieso, da es doch nicht im Weib die Ernährerin zu suchen braucht). Er spricht vom »gebildeten Geist« und vom »reinen Gefühl« der Frauen – aber er spricht nicht von den Möglichkeiten, die ihnen zur Betätigung[307] dieser gebildeten und reinen Gefühle im Sexualleben verhelfen sollen. Er basiert übrigens auf dem Heiratssystem, faßt die Krise daher am Schopf, aber nicht an der Wurzel.

Die Erwiderung von Plötz auf den Wallaceschen Vorschlag scheint mir noch mehr auf dem Heiratssystem zu basieren, das heißt mit der Möglichkeit der Verbesserung der sexuellen Zuchtwahl außerhalb dieses Systems noch weniger zu rechnen. P. fürchtet, die stärkere sexuelle Ausjätung, die bei vollkommener Wahlfreiheit vor sich ginge, würde »Schmerzen schaffen«, beklagt die, die dann alte Jungfern werden würden (und die von bisher?), den übergangenen Mann usw. Aber: diese Ausjäte wäre ja dann eine gerechte, da sie losgelöst von allen wirtschaftlichen und legitimen Zwangsmotiven und von sozialen Suggestionen stattfände. Wer nicht zur Fortpflanzung und Liebe gelangt, weil er nicht begehrt wird – nun, der ist eben nicht für seine Mitmenschen begehrenswert (was natürlich auch gegen die Mitmenschen sprechen kann). Immerhin ist dennoch wirkliche Auslese am Werk. Heute hingegen bleibt auch ein vielfach begehrtes Weib steril, weil die vielfachen Faktoren, die da alle klappen sollen, bevor an die riskante Sache geschritten werden kann, nicht zum Klappen gebracht werden können. Heute bleibt auch der »begehrte« Mann vielfach steril, wenn er nicht in der Lage ist, die erdrückenden Lasten des Familienhaushaltes, der Aufziehung der Kinder, kurz die Erhaltung einer ganzen Gruppe von Menschen auf sich zu nehmen und eine Mitgiftheirat sich ihm nicht bietet oder er sie verschmäht. Die Menschen also, die dann – bei Wegfall dieser Bleigewichte wirtschaftlicher, legitimer und suggestiver Naturen – ausgejätet würden, wären effektiv nicht sexuell begehrte Wesen, während solche Wesen heute durch nonselektorische Einflüsse von der Fortpflanzung abgeschnitten werden können.[308]

79

Robert Müller: »Sexualbiologie«.

80

A. Plötz: »Die Tüchtigkeit unserer Rasse«.

81

Bremer Kongreßvortrag, 1903.

82

Siehe »Zukunft«, 7. Juli 1894, »Menschliche Auslese«, zit. bei Plötz.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 297-309.
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