2. Geschlechtspsychologie des Mannes
Das »Kind im Mann« – Seine Suggestibilität, seine Besitzgier und seine Zerstörungslust – »Lebemänner« – Das »werbende« Weib und sein notwendiger Fall – Der Brünhildmythos ein Symbol des Schicksals des stolzen, einsamen Weibes – »Ein Feuer umbrennt ihren Saal« – Die kalte Frau, die »kluge« Frau – Die Folgen der Züchtung der Frigiden auf Familie und Rasse – »Mörder Mann« – Große Liebhaber – Bismarck, Wagner – Goethe und das Weib – Grillparzer, ein früherer Kierkegaard – »Vergiß die Peitsche nicht« – Der Megären-Amazonen-Furientyp sieghaft – »Rede, Liebling, rede!« – Der Verführer – »Da erkannte Adam sein Weib« – Der moderne Dekadent als Liebhaber, Gatte und Erzeuger.

[337] In der Literatur der männlichen Schriftsteller ist das Weib, besonders in der Liebe, nicht selten »das ungereimteste, unlogischste, undenkbarste und sich jeder Voraussetzung von vornherein entziehende Wesen«95. Und doch ist nach der Erfahrung, die das tägliche Leben liefert, der Mann weit öfter als die Frau der Urheber von Leiden, Enttäuschungen, Ungeheuerlichkeiten in der Liebe. »Das Kind im Manne zu erkennen«, hat Nietzsche dem Weibe empfohlen. Der auffallendste Zug, den er tatsächlich mit dem Kinde gemeinsam hat, ist der, daß auf beide am allerbesten mittels Suggestionen zu wirken ist. Auch etwas von der kindlichen Gier ist im Manne, von der Gier nach dem Besitz, solange er erstrebt wird, und von dem Ungestüm, diesen Besitz zu zertrümmern, wegzuwerfen, wenn er nicht mehr behagt. Ganz besonders gefährlich wirkt auf das Gemüt[337] des Mannes die wirkliche, restlose Gemütshingabe der Frau, und es wäre den Frauen in dieser Beziehung zu empfehlen, das unabweisliche Bedürfnis danach, wenn es sich durchaus Luft machen will, künstlich und gewaltsam auf andere Objekte zu dirigieren, also etwa in der Freundschaft, in der Menschenliebe, ja in der Tierliebe, wenn es sein muß, diesem Bedürfnis Luft zu machen, eher an Katz und Hund die Zärtlichkeiten »auszulassen«, als sie unbeschränkt an die gefährliche Adresse eines Mannes zu wenden. Auch schriftlich sei der Frau etwas Ähnliches empfohlen. Leidenschaftliche Liebesbriefe sind, wenn nicht unterdrückbar, im letzten Moment schnell an eine Freundin zu postieren – denn dort richten sie kein Unheil an. Derselbe Mann, der dem hingebenderen und stolzeren Typus der Geliebten gegenüber nicht selten als Mißbraucher auftritt, wird der Sklave irgendeines wohlfeilen »Verhältnisses«. Dieses Verhältnis wird ihn viel besser zu »halten« und zu dirigieren wissen als die Geliebte der höheren Sphäre. Raoul Auernheimer schildert in seinen »Lebemännern« eine ganze Reihe solcher Verhältnisse, die alle mit dem Sieg der betreffenden Weiblichkeiten über die sogenannten Lebemänner endigen. Wenn er das Verhältnis verlassen will, gibt es erst Androhungen, daß sie sich »was antut«, Szenen, Jammer aller Art, und schließlich traktiert sie ihn mit Ohrfeigen. In der einen Hand die Vitriolflasche drohend geschwungen, gebraucht sie die andere zu saftigen Maulschellen, bis die Beziehung glücklich in den ehelichen Hafen bugsiert ist. Es ist eben ein merkwürdiges, nicht zu übersehendes Phänomen, daß der Mann die äußerliche (ökonomische und soziale) Inanspruchnahme weit besser verträgt als die innere. In dem Moment, wo eine Frau ihr inneres Schicksal auf einen Mann stellt, ihre ganze Lebensmöglichkeit auf seinem Herzen ruhen läßt, muß es fast zum Sturz kommen, denn diesem Gewicht ist kaum ein Mann gewachsen.[338] Sowie sie auch nur ein einziges Mal die Begehrende, Werbende ist, hat sie verloren. Wenn er hundertmal um seinetwillen zu ihr ging – geschieht es auch nur ein einziges Mal um ihretwillen, so vergißt er ihr das nicht mehr, sie ist dann ihm gegenüber mit einer untilgbaren Schuld beladen. Es scheint in diesem Phänomen ein beinahe metaphysischer Zwang zum Ausdruck zu kommen, denn es ist nicht Böswilligkeit, es ist irgendeine force majeure, welche das Gefühl des Mannes versagen läßt, sowie die Sehnsucht und Forderung des Weibes seine eigene überwächst. Nur der stärkste Trieb seiner Natur – der nach Entladung seiner sexuellen Spannungen – macht ihn zeitweise vom Weibe abhängig, und je mehr das erotische Bedürfen und Vermögen des Mannes schwindet, je mehr die Liebesunfähigkeit, unter deren Zeichen die heutigen Menschen stehen, sich vermehrt, desto schärfer wird die Entfremdung zwischen den Geschlechtern werden, desto kritischer die »Krise«. Am ehesten wird der Mann immer noch der Ehefrau, als der sozialen und offiziellen Genossin und notwendigen Gehilfin in der Administration seines Lebens bedürfen; in dieser Funktion hat das Weib noch die stärkste Lebensaussicht; gleich nach ihr rangiert, als Notwendigkeit für den Mann, die Prostituierte. Immer überflüssiger aber wird die Geliebte – die »Dame« des Herzens, die der »Ritter« einst anbetete, deren Farbe er trug und in deren Dienste er Heldentaten vollbrachte.


Man spricht immer von weiblicher Hingabe, aber eigentlich erfolgt eine Hingabe nicht von Seite der Frau, sondern von der des Mannes: denn er ist der, der biologisch hingibt, weil ausgibt, sie die, die empfängt. Vielleicht daher auch diese triebhafte Angst des Mannes vor der Liebe, diese plötzliche Flucht oftmals, wenn er dem Ziel seiner Begierde am nächsten ist. »In der Liebe[339] ist der einzige Sieg die Flucht«, so sprach einer, der das Fürchten sonst nicht gelernt, Napoleon. Die Memme im Mann, die ihn nicht schnell genug davontreiben kann, wenn er die Gefahr der Liebe wittert, ist vielleicht ein unbewußter biologischer Trieb, eben diese Furcht vor Hingabe, die ja für ihn Ausgabe ist, während das Weib durch diesen selben Akt sich bereichert – empfängt. Diese Liebesangst hat sich aber unter den Modernen bis ins Hypertrophe ausgewachsen. Es ist förmlich eine Epidemie an »Liebesverdrossenheit«, besser gesagt an Gefühlsimpotenz, ausgebrochen. Die »Furcht« vor dem Weibe ist groß, die Begier danach aber ist geblieben. Das wirklich bräutliche Weib aber, wie die Mythe es in der Sage von der Amazone gestaltete, die von freislichem Feuer umwabert auf einsamem Felsensitz haust, bleibt ohne Erlöser. Denn der mit dieser »Furcht« Geschlagene – er gewinnt sich niemals diese »Braut«. – Denn »ein Feuer umbrennt ihren Saal«, und das Feuer durchdringt »ein Feiger nie«. Er aber, er bebt, er zittert ja, »im Feuer zu finden die Braut«. Wie vermöchte ein solcher zu sprechen: »Brünhild, ein Freier kam – den dein Feuer nicht geschreckt!« Nichts schreckt ihn ja so sehr als gerade dieses Feuer. Kühl und matt, geheimnisvoll drapiert, »dämonisch« passiv – so ist für jenen die »Braut«. Nimmer wie Brünhild – denn »Brünhilde lebt, Brünhilde lacht«. Nimmer vermag er zu sagen: »Lachend muß ich dich lieben!«...


»O kindlicher Held!

O herrlicher Knabe!

Du hehrster Taten

Töriger Hort,« – wo bleibst du, wo bist du, wo wohnst du?! – Nicht in dieser Zeit.


Ein Königreich für einen Menschen ohne pathologischen Knax, ohne Verlies seiner Seele, in das man plötzlich hineinplumpst – einen Menschen, mit dem man sich heiter,[340] sicher, natürlich bewegen kann, ohne sich peinlichen Überraschungen auszusetzen. Wie wenig der moderne Mann zum größten Teil eine heitere, sichere und unbefangene Hingabe vertragen kann, zeigen eine Menge beliebter Sentenzen.

»Über das air beim Weibe: Die reizvollen Airs, die die Schönheit bilden, sind: das blasierte, das gelangweilte, das windbeutelhafte, das schamlose, das frostige, das hochnasige, das herrische, das willensstarke, das bösartige, das kranke, das katzige, das kindische, die Mischung von Nonchalance und Bosheit.« (Baudelaire.)

»Eine Frau, die uns (die Männer) nicht liebt und uns durch Eifersucht der Sinne festhält, führt uns, wohin sie will.« (Bourget.)

»Wer von einem Paar am geringsten verliebt ist, beherrscht stets den andern. Kluge Frauen fangen gleich damit an, durch Kälte zu reizen.« (Keben, »Adam gegen Eva«.)

»Nicht mit dem, was die Frauen geben, sondern mit dem, was sie versagen, fesseln die Frauen die Männer an sich.«

Was beweisen solche Thesen? Sie beweisen eine jämmerliche Suggestibilität des männlichen Gemütes, das mit Verlogenheit behandelt werden will, und die Tatsachen, welchen diese Sentenzen entspringen, führen zu der Schlußfolgerung, daß es die wenigst edlen weiblichen Typen sind, die Kokotten einerseits, und die von Natur aus »Kalten«, die Frigiden, denen das Versagen Natur ist, andererseits, die diese Sorte Mann »fesseln«. Das Bedenkliche ist nur, daß dadurch dieser Typus Frau vielfach zur Fortpflanzung gelangt, während der andere, viel gesündere Frauentyp, der der lebhaft aus sich herausgehenden, heiter sinnlichen und dabei wahrhaften Frau, meist nur vorübergehend anzieht, ohne diese Art, oder besser gesagt Abart, Mann, die heute die überwiegende ist, zu »fesseln«, und[341] daher künstlich ausgejätet wird. Freilich bleibt die dauernde Befriedigung diesem erotisch kalten Typus Weib gegenüber aus, und gerade der Mann, der sich durch diese Kälte »gefesselt« fühlte, kehrt später, als Ehemann, zum Bordell zurück. Einer deutschen Statistik zufolge liefern die Ehemänner, nicht die Ledigen, das Hauptkontingent der Bordellbesucher. Daher ist eine direkte Folge jener Anziehung, die die frigide oder aus Berechnung »kalte« Frau auf den degenerierten Mann ausübt, die Gefahr der Infizierung der Familie mit Geschlechtskrankheiten, die sich dieser selbe Mann, in der Ehe unbefriedigt, im Bordell geholt hat.

»Die wirklich moderne und neue Kunst, zu lieben, wird die Kunst des Bruches heißen«, so der Franzose Bourget als Epigone Ovids. Wir haben zu diesem edlen Bekenntnis hinzuzufügen: dann wird die grande amoureuse die sein, die sich zum großen, befreienden Hohngelächter aufschwingt über diese Farce, die immer wieder von Hochstaplern und Gauklern des Geschlechts aufgeführt wird und die sie mit dem Namen Liebe travestierend zu belegen wagen.

Fast möchte man angesichts dieser Abgründe in der Seele des modernen Dekadenten meinen, daß die Hauptmomente, auf die es dem gesunden, tüchtigen Weibe bei der sexuellen Wahl vor allem ankommen soll, diese sind: 1. daß der betreffende Mann tüchtig im Lebenskampf, 2. daß er biologisch von guter Art und 3. daß er verläßlichen, umgänglichen, sozialen Charakters sei, vor allem aber darauf, daß er der Frau ein gesundes, starkes, liebefähiges Herz zu bieten habe. Alles andere, – als da sind geistige Besonderheiten, seelische Finessen usw., führt, wie wir ja täglich sehen, nur zu gefährlichen Komplikationen. Ja – wenn diese Feinheiten des Geistes und der Seele da sind, außer diesen Grundeigenschaften, auf welche das Weib vor allem sein Schicksal stellen soll, dann freilich[342] sind sie festlich zu begrüßen – »dann Halleluja, dann ist Sonntag«. Aber dieser Sonntag scheint heutigen Tages irgendwo in einem Schaltjahr zu stecken, das nur alle hundert Jahre einmal wiederkommt.


Es folge noch als Illustration zu diesen Ausführungen das Bekenntnis eines Mannes, das uns von dem Vorwurf, als ob man nur weiblicherseits die Beschaffenheit des modernen Mannes so erkennen würde, wie wir sie hier zu erkennen gezwungen waren, entlastet.


Mörder Mann
von Hermann Brunold

Der Maienzauber lähmte heute nacht

mich tief mit einem todesschweren Traum ...

Ein Weib war mein, so gut und heldengroß

und schön ... aus edler Mütter reicher Zucht;

ihr Blick war Segen,... Berggebet ihr Wort,

gleich einer Flamme zog sie ihren Weg ...

Mit allen Mühen seiner Seele war

der beste Mann sie nicht zu werben wert – –


Und dieses Weib war mein. – Nach reichem Tag

ruht' sie an meiner Seite sonder Arg. –


Ich war so schlecht, und eine rohe Wut,

Die böse Manneswut, kam über mich,

die alte mörderische Manneswut:

ich würgte ihre reine Seele tot – –


und meine Hände duften nun nach ihr ...

so wie vom edlen Sandelholz die Axt,

die mörderische, duftet alle Zeit –


und meine Hände duften nun nach ihr ...


Es hat große Liebhaber gegeben, herrliche Helden der Liebe, aber selten sind sie, selten wie jener Sonntag in jenem legendären Schaltjahr. Ein solcher Liebhaber war Bismarck, war Richard Wagner, der bis in die letzten[343] tiefsten Tiefen das Weib sich zu eigen machte und mit der tiefsten Treue seinen kostbaren Besitz festhielt, war Lenau und vor allem Goethe. Eine der flachsten Literaturlügen ist die, der es beliebt, Goethe als einen Don Juan zu schildern, der von Weib zu Weib eilte. Goethe hat im Gegenteil immer tief, immer treu und zumeist schmerzlich, ja unglücklich geliebt. Das einzige Weib, das er eigentlich »verlassen« hat, war Friederike, und von der zwang ihn unerbittlich sein Schicksal fort, seine Bestimmung, in die Welt zu ziehen. Mit tiefster Inbrunst liebte er Lotte, und nur ihr Gebundensein an Albert zwang ihn zum Verzicht. Gleich ernst war seine Neigung für Lilli, die einen Bewerber von sichererem Amte, wie es der junge Goethe damals hatte, ihm vorzog. Mit erhabener Resignation und Treue hat er Charlotte geliebt. Ob er sie nun wirklich besessen hat oder nicht, macht diese Resignation nicht geringer, denn sie bestand darin, daß das geliebte Geschöpf mit einem anderen Manne, im Schoße einer anderen Familie lebte und ihm nur einen geringen Bruchteil ihrer Person zuteil werden lassen konnte. Nicht durch seinen »Abfall« kam er von Charlotte weg, sondern mit vollem Bewußtsein seiner »Krankheit« – wie er es selbst nannte – »freilich eine Krankheit, von der ich nicht genesen will« – floh er nach Italien. Durch langen, bewußten Kampf gegen das Elend dieser nicht voll erfüllten Liebe machte er sich von ihr frei, seine Sehnsucht suchte neues Glück und fand es in Christiane. Sie war eigentlich die erste Frau, die Goethe glücklich liebte, das heißt, die er ganz besitzen konnte und wollte, bisher hatte er aussichtslos und unglücklich geliebt. Er zauderte auch nicht, sie zu nehmen und festzuhalten mit allen Mitteln, sich und sie auf das innigste zu verbinden, und seine Liebe und Treue zu ihr dauerte bis zu ihrem Tode. Diese Legende von Goethe als Don Juan ist aus jener Krämeransicht entstanden, die wir hier schon einmal als solche benannt[344] haben, vielmehr aus dem Heuchlertum, welches vorgibt, daß, wenn in eines Menschen langem Leben, mehrere geliebte Namen aufklingen, solch ein Mensch ein leichter Schmetterling sein müsse, der von Blume zu Blume »taumele«. Auf diese krämerhafte Heuchelei wollen wir hier nicht noch einmal eingehen. Goethe wollte auch nicht enden wie sein Werther, er wollte leben bleiben und sich entwickeln, trotz unglücklichen Liebens. Daher sein Herz immer wieder mit voller und junger Kraft nach einer Glücksmöglichkeit, wie sie nur die Liebe bietet, hinstrebte. In jedem dieser Verhältnisse war er von unversieglicher Gemütskraft, und er ist der tiefste und wunderbarste Liebhaber, den die Geschichte kennt. »Er ging durch die Frauen, die sein Herz bewegten, wie die Sonne durch die Sternbilder des Tierkreises geht«96. Und angesichts einer solchen Erscheinung müssen wir mit ihm sagen:


»Es schweigt das Wehen banger Erdgefühle,

Zum Wolkenbette wandelt sich die Gruft,

Besänftiget wird jede Lebenswelle,

Der Tag wird lieblich und die Nacht wird helle.«


Welch anderes Bild bietet doch das Liebesleben Grillparzers. Hier haben wir schon die aufreibenden, sich selbst und andere quälenden Geschlechtskämpfe des Dekadenten. Sein Tagebuchblatt vom Mai 1826 erinnert geradezu an das »Tagebuch eines Verführers« von Kierkegaard. »Am Ende war es doch mein grillenhaft beobachteter Vorsatz, das Mädchen97 nicht zu genießen, was mich in diesen kläglichen Zustand versetzt hat ... so kämpfte ich mich ab gegen die sonst immerwährende Aufregung, und der schwüle Odem, der aus meinem Wesen auf die Unschuldsvolle hinüberging, setzte auch sie unbewußt in Bewegung und brachte endlich alle Wirkungen unbefriedigter[345] Geschlechtsliebe hervor. Sie ward argwöhnisch, heftig, zänkisch sogar, und so ward dieses Verhältnis auch in seinem geistigen Bestandteile gestört, der es so fabelhaft schön gemacht hatte.« Es ist dies das Bekenntnis eines Don Juans »aus Grille«. So wie es einen Don Juan aus diesem selbstquälerischen Motiv geben kann – eben so den andern, der der geborene Wüstling ist und der nach einem Ausspruch von Shaw »nicht interessanter ist als der Matrose, der in jedem Hafen ein Weib hat«. In dem Aufsatz eines Zoologen (Dr. W. Hammer) wird mitgeteilt, daß sich auch unter den Tieren »Entjungferer« befinden, »die sich von einer nicht mehr unschuldigen Gattin mit Gleichgültigkeit oder Verachtung abwenden«. Dann gibt es einen Typus, der zu einem scheinbar wilden Leben gelangt – aus tiefster Sehnsucht nach voller Erfüllung und durch immer wieder erlittene Verluste dessen, was er liebt. So mancher Mensch, Mann sowohl als Weib, würde gar nichts sehnlicher wünschen, als friedlich in einem bestehenden Verhältnis zu verbleiben, wenn nur die Situation das zuließe. Solch ein Mensch gelangt zu einem »wilden« Leben und weiß nicht wie, hat den Wunsch, Ziel und Mündung zu finden, und versandet nicht selten in Erbärmlichkeiten. Über viele Menschen von heute ist gerade dieses Fatum verhängt, die allgemeine Obdachlosigkeit der Seelen macht es immer schwieriger, daß sie einander finden und, dem Sinne der Gattung gemäß, miteinander fertig werden. Bemerkenswert ist, wieviel schwerer der Mann daran trägt, wenn zufällig einmal er es ist, der Unglück – unverschuldetes Unglück – in der Liebe hat. Die Welt kann ihn nicht genug bejammern, wenn sie davon erfährt. Ein vom Weibe enttäuschter Mann gilt als hochtragische Erscheinung (man denke an Bürger), während man der Frau diesem Schicksal gegenüber offenbar eine größere Zähigkeit zumutet. Für die meisten Männer, die derartige Erlebnisse haben, ist ein solches[346] Schicksal dann auch gleich Grund genug, zu sinken. Sie werden Wahnsinnige, Selbstmörder, Mörder, zumindest Alkoholiker – alles darum, weil sie von einem Weibe erlebten, was Millionen Frauen immerzu von Männern erleben.

Es bleibt noch ein unheimliches und dunkles Kapitel, welches wir hier freilich nicht erschöpfen können, da wir uns hier mit klinischen Fällen prinzipiell nicht befassen wollen, es aber streifen müssen, soweit es die besondere Schwierigkeit moderner Seelenkämpfe betrifft. Wir meinen das Bestehen von Perversitäten und Perversionen, die in allen Klassen und Kreisen weit verbreitet sind und die ein natürliches, befriedigendes Geschlechtsleben immer unmöglicher machen. »Jede Perversität kann sowohl aus einem Überschuß als aus einem Fehlbetrag an geschlechtlicher Kraft hervorgehen« (Hirth). Ein Fehlbetrag, das ist es zumeist. Der moderne Mann ist zu allermeist Masochist. Auf schwere pathologische Fälle wollen wir hier, wie gesagt, nicht eingehen. Wir haben nur jenen merkwürdigen seelischen Masochismus im Auge, dem der moderne Mann, gleich wie dem Fetischismus, so oft unterworfen ist. »Gehst du zum Weibe, vergiß die Peitsche nicht«, heißt es bei Nietzsche. Aber umgekehrt, durchaus umgekehrt muß es heißen: gehst du zum Manne, vergiß die Peitsche nicht. Nicht wenn ein Weib sich wenig liebevoll erweist, wenn es den Mann quält, tyrannisiert, ausbeutet, oder wenn es »kalt« ist, wird es zumeist verlassen, auch nicht, wenn es ihn verrät. Wohl aber wird es unzählige Male verlassen, weil es zu heiß, zu zärtlich, zu hingebend ist, ihn nicht verrät, sondern sich für ihn opfert. Der gegenwärtige masochistische Trieb des heutigen Mannes hat vielleicht seinen letzten Grund in der sozialen Konstellation des Überangebotes an Weiblichkeit.

Damals, als die Männer die Frauen zu rauben gezwungen waren, um sich ein Weib zu verschaffen, waren sie[347] gewiß nicht Masochisten. Sie suchten ja Weiber zu bezwingen, zu erbeuten, nicht aber, sich von ihnen erbeuten zu lassen. Heute, wo sie sich selbst als »Beute« fühlen, wo in höllischer Verdrehung das Weib auf den Mann Jagd machen muß, um überhaupt zur legitimen Befruchtung zu gelangen – will er wenigstens von der stolzesten und strengsten der Jägerinnen bezwungen werden. Diese Konstellation zeitigt ganz direkt und unaufhaltsam eine Korruption des eigentlichen Wesens der Weiblichkeit, indem die Frauen von dieser Art »Daseinskampf« einfach zu einer Pose gezwungen sind, die der Idee von Weiblichkeit durchaus nicht entspricht. Und während in der Literatur noch das Urideal von der Hingebung des Weibes gefeiert wird, sehen wir in Wirklichkeit den Typus der herrischen Frau – von der Amazone bis zur Megäre – triumphieren. Dieser Megären-Amazonentyp hat zahllose Abstufungen. Da ist vor allem die »kalte Hetäre«, die schon durch ihre Unempfindlichkeit, ihre innerliche Unengagierbarkeit Herrin der Situation ist. Dann die sehr zarte, sehr passive, halb und halb frigide Weiblichkeit, die durch ihren Mangel an erotischen Ansprüchen die des Mannes um so höher aufstachelt. Dann die Mätresse, die ihn ausbeutet nach allen Regeln der Kunst. Das günstigste Schicksal dem Manne gegenüber haben aber zumeist jene Frauen, in denen der Typus der Megäre mit dem der Hetäre gemischt ist. Die richtige »Furie« bleibt sieghaft auf dem Plan. Unter einer Furie ist aber nicht etwa an einen abschreckenden Typus Weib gedacht. Waren doch die Furien gleich den Genien halbgöttliche Wesen. So wirkt auch das furiöse, das ist das zornige, gebieterische, antreibende, anspruchsvolle und dabei leidenschaftlich aufregende Weib heute am stärksten auf die ermatteten Sexualimpulse der Mannes. Es ist die strenge, sichere Herrin, die der Mann heute mehr denn je im Weibe sucht. Sie muß sich möglichst als »Hammer« benehmen.[348] Wenn ihr diese Pose nicht entspricht, ist sie zumeist die Mißbrauchte. Erklärlich wird dieser Trieb durch die Suggestion der Sicherheit, die man in der Nähe »strenger« Personen hat. Man traut ihnen unwillkürlich zu, daß sie mit sich im klaren sind, daß sie wissen, was sie wollen, und für manche Menschen ist dieses Gefühl identisch mit dem der Geborgenheit. Auch die familiär-energische Frau behagt dem Manne sehr. Es ist wie eine Rücksuggestion, die an die Mutter gemahnt, an die Mutter, wie sie jeder wünschte, die streng ist und ihn doch leitet. Darum hat die Frau zumeist verloren, sowie sie von Leidenschaft für den Mann erfaßt wird und die Insignien der Regierung ihren Händen einen Augenblick entgleiten.

»Die gewährende Schönheit ist in der mythologischen Vorstellung eine Göttin, der man mit Verehrung dankt. In der kapitalistischen Vorstellung eine Idiotin, der man mit Verachtung dankt«98.

Dieser Zwang zur Wahrung der »Herrschaft« kann aber auch in einem guten Sinne zum »Erzieher« werden, kann zur Stärkung der eigenen Persönlichkeit führen. Über der Liebe stehen auch in der Liebe, ist das ganze Geheimnis der Macht dieser Herrschaft über eine andere Seele. Eine grandiose Hingabe kann und soll nichtsdestoweniger da sein, aber der, der sie übt, darf darüber nicht zum Bettler werden. Diese Vorstellung setzt eben einen großen Reichtum an Selbstgefühl, an Persönlichkeit beim andern voraus. Diese Persönlichkeit kann auch ein scheinbar unbedeutender Mensch haben. Es ist die Unabhängigkeit des innersten persönlichen Kernes einer Natur, eines Kernes, der auch in der Liebe nicht schmilzt, den man im geliebten Wesen schätzt. Freilich ist diese Selbstbehauptung nicht zu verwechseln mit innerer Kälte, die die Fähigkeit zur Hingabe, zum zärtlichen Umfassen des anderen Seins nicht hat. Die Hingabe des Geliebten an[349] den Liebenden soll zu allem bereit sein, nur zu einem nicht: vor ihm als Bettler zu stehen. Alles geben, aber nichts sich vergeben und gar nichts »fordern« in dem Sinne, daß man sich selbst abhängig macht von der Gewährung des anderen, sei die Devise. Es ist die Sache dieses anderen, Geben mit Geben zu erwidern. Daher die Sieghaftigkeit der lächelnden, die Machtlosigkeit der weinenden Liebe. Besonders gefährlich ist das »Schmelzen« des Weibes, es macht den Mann fast gegen seinen Willen von ihm abwendig. Sein sexueller Organismus verträgt diesen Zustand offenbar nicht. Er bedarf vielmehr eines »Reizes«, um aktiv zu bleiben. Die Frau verträgt die Hingabe des Mannes weit eher; sie rührt sie nicht selten und erfüllt sie mit zärtlichen Gefühlen; zumindest will sie immer seine Werbung spüren; das werbende Weib aber hat verloren.

Nun werden aber durch die heutige sexuelle Heuchelei und Tyrannei Zwangslagen für die Frau geschaffen, in denen ihr Persönlichkeitskern gewaltsam zertrümmert wird. Durch die vielen Faktoren, die ihre Wahlfreiheit begrenzen, mittels derer man die Auslese ihrerseits eingeengt hat, macht man sie als Geschlechtswesen vollkommen von dem Mann, dem sie sich hingab, abhängig. In tausend Formen der gegebenen sozialen und moralischen Konstellation ist ein Abschließungssystem wirksam, das die betreffende Frau auf Gnad und Ungnad dem Manne, dem sie sich einmal hingegeben hat, ausliefert. In solcher dunklen Zwangssituation kann auch die stolzeste Frau unfrei werden, kann auch sie durch die Liebe zwischen Tod und Wahnsinn gebracht werden; auch der stolzesten kann es geschehen, sei es für eine Zeitlang, die überwunden wird, wenn günstige Lebensumstände eingreifen, sei es bis zum endgültigen Zusammenbruch, wenn die helfenden Genien fehlen.

Im Gegensatz zu der Herrin liebt der moderne Mann noch einen zweiten Typus sehr, und das ist die leidende[350] Frau. Der Typus, der ihn rührt, beherrscht ihn fast ebenso stark als der, der ihn tyrannisiert. Nur zu dem heiteren, freien, gesunden, weder tyrannischen noch Mitleid erregenden Weibe findet er keine rechte Beziehung. Das Weib, das leidet, ja nicht selten direkt an körperlicher Schwächlichkeit leidet, wirkt nicht selten übermächtig anziehend. Nur an einer Sache darf sie nicht leiden: das ist an dem betreffenden Manne selber, denn das wäre so etwas wie ein Vorwurf, und den verträgt er nicht. »Mädchen, laß mich nie die Tränen sehen, die du um mich geweint«, so oder ähnlich heißt es in einem Gedicht von Jakobsen. Ein natürliches Verhältnis, wo beide Teile gütig und heiter gegen einander sind, ist immer seltener anzutreffen. Ein Geschöpf, das weder Schmerz zufügen, noch auch Peinigung erdulden will, ist dem modernen Manne geradezu problematisch. Die Idee, daß die Frau am besten mit dem Manne auskommt, die ihn eigentlich niemals ganz »voll«, das heißt nicht ganz ernst nimmt, liegt nahe. Vielleicht ist es das »Kind im Manne«, das immer mit suggestiven Mitteln, niemals auf direkte Art beeinflußt werden kann. Was bedeutet nicht ein Ausspruch wie der, den die Heldin in Shaws »Mensch und Übermensch« immer wieder dem Helden entgegensetzt: »Rede, Liebling, rede!« – Rede du, so viel du Lust hast, heißt es, rede dir wie ein Kind alles von der Seele, ernst nehme ich dich keinen Augenblick, und eben darum wirst du tun, was ich wünsche ... Rede Liebling, rede!


Zu gewissen uralten Phänomenen in den Beziehungen der Geschlechter haben wir Heutigen jede Fühlung verloren, so zu dem Begriff der Verführung. Flaubert sagt: »Ich mache der Prostitution nur den einen Vorwurf, daß sie ein Mythos ist. Es gibt heutzutage so wenig große Buhlerinnen als Heilige.« Ich sage ähnlich: ich[351] mache dem Verführer nur einen Vorwurf, den, daß er ein Mythos ist. Es gibt heutzutage keinen Verführer in dem verführerischen Sinne des Wortes. Es gibt wohl Hochstapler der Liebe nach wie vor, Abenteurer und Betrüger, die unter »falschen Vorspiegelungen« etwas herauslocken. Aber der Verführer, der werbende Verführer zur Freude, der es dem Weibe leicht macht, sich hinzugeben, der imstande ist, Stunden heraufzurufen, in denen Mann und Weib trunkenen Herzens ein Lebensfest feiern, er ist nicht von heute. Grämlich, mit gequältem Gewissen, unter endlosen theoretischen Debatten, bestimmt, den »Stand der Dinge« genau zu »präzisieren«, wird der Angriff auf ein Weib von den Heutigen gewöhnlich unternommen. Ist man dann endlich – nach vielfacher »Flucht« vor der »Gefahr«, – so weit, nun, so wird der »Fall« eben begangen. Der Lendemain bringt pünktlich den moralischen Kater, und nach einigen Wiederholungen des Falles ist man endlich wieder »Herr« seiner selbst, flieht den Hörselberg und geht »geläutert« und mit der gebührenden Verachtung des betreffenden Weibes dahin.

Die Kunst der Verführung wird erst die Zukunft wieder entstehen lassen, und eine bessere Verführung wird es sein müssen, als jene von einst war, die da sprach: »Reich mir die Hand, mein Leben, komm auf mein Schloß mit mir.« Keine Täuschungen auf der einen, keine Forderungen auf der anderen Seite und keine drohenden Übel als »Buße« der Tat für beide. Zärtliche Hingabe aneinander in einer festlichen Stimmung und ein frohes Sichniederlassen am Tisch des Lebens, den nur Mann und Weib füreinander bestellen können, das wird es sein. Und im frohen Werbespiel wird der Mann wieder »Verführer« sein können und dürfen. Er muß es sein, nicht das Weib, denn die Voraussetzungen der Schönheit und Freiheit des erotischen Vorganges deutlich zu machen, ist des Mannes Sache. Schon seiner physischen Natur nach ist er der[352] Vorwärtsdringende, das Weib die Zögernde, selbst wenn es die Umarmung ersehnt. Es bebt, wie aus einem metaphysischen Instinkt, immer wieder vor der »Gefahr« zurück. Nicht so sehr vor der, die ihm selbst direkt erwachsen, als vielleicht vor der, die aus der Seele des Mannes nach dem Genusse kommen kann. Darum ist es an dem Manne, diese Bedenken zu zerstreuen, dieses Zögern zu überwinden, zu »verführen«, zu locken, zu werben, berückende Visionen heraufzuzaubern, bis die andere Seele aufstrahlt und zwei Flammen ineinander schlagen.

Das Phänomen, daß der Mann im heutigen Werbekampfe der Verfolgte ist, anstatt umgekehrt das Weibchen, hat ja einige zureichende Gründe. In der Tierwelt und auf der niedrigeren Stufe menschlicher Entwicklung ist eben das Weibchen allein durch den Vorgang der Begattung gefährdet. Darum flieht es diesen Vorgang instinktiv und muß erobert werden. In der Kulturwelt aber ist der Mann durch die Verbindung mit dem Weibe gefährdet, weil er durch diese Verbindung in hohem Maße in Anspruch genommen wird. Daher der Werbekampf sich verkehrt. Der Mann ist auch schwerer zum Kompromiß bereit als das Weib, weil das Weib genereller empfindet als er. Er empfindet immer das Höchstpersönliche der Geschlechtsvorgänge, die Frau geht nicht selten darin als Gattungswesen auf. Sein Anteil an diesem Vorgange ist Aktivität, daher vielleicht sein stärkeres Zögern, bevor er sich diesen Vorgängen überläßt, sofern ein Ernst für ihn dahinter steht. Sie ist das »Feld«, will unbedingt geackert und bepflanzt sein. Er aber ist der Ackerer und setzt seines Lebens Schweiß und Mühsal ein in diese Tat. Darum prüft er das Feld vielleicht eingehender, wählt bedenklicher, als das Feld ihn prüft und wählt. Dies die natürlichen Hemmungen männlicher Werbung innerhalb unserer Kultur. War der Mann vorzeiten der bedingungslos Begehrende, so hatte dies seinen Grund darin, daß er in[353] die Beziehung mit dem Weibe noch nicht so viel einzusetzen hatte, wie der Mann heute einsetzt, und nicht nur an wirtschaftlichen, auch an seelischen Werten. Zur Unnatur aber kommt es erst, wenn der Kampf des Mannes um das »Feld« fast gänzlich aussetzt – weil die sozialen Beschwerden mit diesem Felde ihm zu groß werden – so daß taugliche, fruchtbare Erde ohne Aussaat bleibt.

Der Kampf der Geschlechter tobt schärfer als jemals und unter ganz besonderen Formen. Vielleicht ist dieses scheinbare Chaos nur ein Vorstadium einer neuen, noch unsichtbaren Einheitlichkeit, einer neuen, besseren Gestaltung der Dinge. Der Mann scheint heute in einem Zustand weitester und wildester Expansion. Das Weib, seiner Natur nach »Ordnerin«, muß er fürchten, weil er Unordnung, Chaos und Revolution heute vielleicht braucht. Vielleicht ist diese ganze ungeheuerliche Geschlechtskrise die Vorbereitung für ein neues Zeitalter von Heroismus? Dann wäre sie es wert, durchlebt und durchlitten zu werden.


»Es ist zu wünschen, daß das Glück eines Tages in dein Heim das mit allen Gaben des Herzens und des Verstandes begabte Weib einführt, das du zu bewundern Gelegenheit gehabt hast, als du die großen Heldinnen des Ruhmes, des Glückes und der Liebe an deinen Augen vorüberziehen ließest. Aber du wirst nichts davon merken, wenn du nicht gelernt hast, diese Gaben im wirklichen Leben zu erkennen und zu lieben«99. An diesem Zustand des Nichtmerkens scheitert aber nicht nur die Glücksmöglichkeit des Mannes, sondern auch die der Frau. Und jener Männer, die die Persönlichkeit gerade der höheren Frau nicht einmal zu ahnen, geschweige denn zu »erkennen« und damit zu genießen verstehen, ist eine große Zahl.[354] »Da erkannte Adam sein Weib«, heißt es in der Heiligen Schrift. Erst indem er es »erkannte«, hatten sie sich gefunden zu wirklicher Gemeinschaft des Lebens. Zufällig stößt eine Epoche der Regeneration des einen Geschlechtes mit der einer deutlichen Degeneration des anderen zusammen. Das tragische Opfer sind diese sogenannten »neuen« Frauen, diese besonders taten- und wesensfrohen Weiblichkeiten, die heute in großer Zahl emporblühen und zu allermeist des richtigen Weggenossen entbehren. Die wahre, durchaus nicht eingebildete Tragödie dieser Frauen ist die, daß sie um hundert Jahre zu früh da sind. Schlafen sollten sie, wie Dornröschen, hundert Jahre lang, um von dem zu ihnen gehörigen Manne dann geweckt zu werden. Erst in einer Zeit, die den Mann von übermäßiger wirtschaftlicher Fron entlastet und ihm für die sexuelle Ausschweifung, auf die er heute angewiesen ist, einen edleren Ersatz geboten hat, wird der Genosse für diese Frauen zur Stelle sein. Die Tragik dieser Frauen liegt besonders darin, daß der Mann »alter Schule« für sie nicht in Frage kommt, nicht nur weil sie ihn nicht wollen, sondern auch weil sie ihm ein unlösbares Problem sind. Der Mann der »neuen Schule« aber, der, der ihnen in Frag- und Antwortspiel am nächsten stünde, weist zumeist schwere Degenerationsmerkmale auf, ist nicht selten körperlich belastet, in seinem Seelenleben zerspalten, dazu häufig sozial unfähig, als Gatte und Vater unverläßlich, ein schlechter Erzeuger, voll perverser Neigungen und hat überdies nicht den Hang zur beseelten Frau von starker, bewußter Geistigkeit, sondern zur »Hetäre«, respektive zu »Dämon« und »Sphinx«, die seine matte Sexualenergie am ehesten aufpeitschen. Ausnahmen gibt es, wie überall, auch hier. Vollmenschen und -männer, die weder zur alten noch zur neuen »Schule« zu zählen sind; aber die sind so selten gesät, daß sie nur für vereinzelte Glückliche in Betracht kommen. Und so[355] muß so eine Frau, wenn sie liebebedürftigen Herzens, ursprünglichen Gemütes ist, zumeist darauf verzichten – zu singen, wie sie so gerne möchte: »Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nicht«; vielmehr kann sie nach jedem neuen »Versuch«, der Vorsehung ein natürliches Schicksal abzugewinnen – nach jedem neuen Versuch, zu locken und zu lieben, wie es der jugendfrischen, heilen Seele entspricht – singen wie Held Siegfried, als durch sein Flötenspiel ein Ungeheuer herangelockt wurde: »Da hätte mein Lied mir was Liebes erblasen! Du wärst mir ein saubrer Gesell!«

»Alle kriegerischen Völker, bemerkt Aristoteles, gehorchten dem Weibe, und die Betrachtung späterer Weltalter lehrt das gleiche: der Gefahr trotzen, jegliches Abenteuer suchen und der Schönheit dienen, ist ungebrochener Jugendfülle stets vereinigte Tugend«100. Diese köstliche Tugend wieder üben zu können, ist die einzige Erlösung für Mann und Weib. Verhelfe ihnen ein neues heroisches Zeitalter zu ungebrochener Jugendfülle, die der Gefahr trotzt, jegliches Abenteuer sucht und – vor allem – der Schönheit dient. Nur durch die letzte Befreiung des Weibes, nur durch die befreite Mütterlichkeit ist an eine Wiedergeburt – in buchstäblichem Sinne – des Heroentums zu denken. Nur eine Schar fröhlicher, lachender Helden und Heldinnen wird dann wieder mit ungebrochener Lust in den Gefilden des Eros das uralte Spiel der Geschlechter so spielen, wie die Natur es gemeint. Dieses Geschlecht zu erzeugen, den Weg zu erkennen, der zu dieser Erzeugung führt, dazu verhelfe uns das Elend unserer Krise.[356]

95

Bourget: »Psychologie der modernen Liebe«.

96

Agnes Harder: »Liebe«.

97

Kathi Fröhlich.

98

Otto Neumann-Hofer im »Tag«.

99

Maeterlinck.

100

Bachofen.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 337-357.
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