Sechstes Kapitel

[65] Wie sich Lazaro zu einem Bullenkrämer in Dienste begab, und von den Vorfällen, die ihm bei demselben zustießen.


Der fünfte, den mich mein Glück finden ließ, war ein Verkäufer päpstlicher Bullen, der unverschämteste, frechste Mensch und ein so großer Mäkler mit diesen Dingen, als ich jemals sah, noch zu sehen hoffe, noch glaube, daß ihn jemand gesehen hat; denn er besaß dazu die feinsten Eigenschaften, Kniffe und Anschläge und suchte sich solche zu eigen zu machen.

Wenn er in Dörfer kam, wo er die Bullen ausbieten wollte, so machte er zuerst den Pfarrherren oder Priestern Kleinigkeiten von wenig Wert und Gehalt zum Geschenke, als ein Gericht Lattich aus Murcia, wenn es gerade die Jahreszeit dazu war, ein paar Zitronen oder Pomeranzen, eine Quitte, oder ein paar Pfirsichen, oder irgend einige Birnen. So suchte er ihre Gunst zu gewinnen, damit sie aus Dankbarkeit sein Geschäft unterstützten und ihre Pfarrkinder ermahnten, Bullen zu kaufen. Er zog auch immer Erkundigungen über ihre Geschicklichkeit ein. Wenn man ihm sagte, daß sie Lateinisch verständen, so sprach er kein Wort in dieser Sprache, um keine Blöße zu geben, sondern er bediente sich eines zierlichen und sehr reinen Spanisch, das er vollkommen gut sprach; wußte er aber, daß die erwähnten Pfarrherren von den Hochwürdigen waren (ich meine von denen, die mehr durch Geld als wegen ihrer Wissenschaft und Verdienste geweiht werden), so war er unter ihnen ein heiliger Thomas und sprach ein paar Stunden lang Latein, wenigstens schien es dies, wenn es auch keins war.

Wenn man die Bullen nicht auf guten Wegen nahm, so[66] schlug er die schlimmsten ein, um sie loszuwerden, fügte deshalb dem Volke viel Drangsal zu und bediente sich zuweilen der sinnreichsten Kunstgriffe. Weil es zu weit führen würde, alle, die ich ihn anwenden sah, zu erzählen, so will ich nur einen erwähnen, der sehr fein und lustig war und womit ich sein Geschick hinlänglich beweisen werde.

In einem Dorfe im Sprengel von Toledo hatte er zwei oder drei Tage gepredigt und alle seine gewöhnliche Kraft aufgeboten, ohne daß jemand eine Bulle gekauft oder nach meinem Dafürhalten Lust gehabt hätte, eine zu kaufen. Er glaubte deshalb verzweifeln zu müssen, und nachdem er darüber nachgedacht, was er tun müsse, beschloß er, das Volk zusammenzurufen, um den nächsten Morgen mit den Bullen abzureisen. Denselben Abend nach dem Abendessen setzte er sich mit seinem Alguazil, um die Mahlzeit auszuspielen, und über das Spiel kamen sie miteinander in Streit und sagten sich Schimpfworte. Er nannte den Alguazil einen Spitzbuben und dieser ihn einen Betrüger. Der Herr Kommissär, mein Herr, nahm einen Spieß, der in der Stube, wo sie spielten stand, und der Alguazil griff nach seinem Degen, den er an seiner Seite trug. Über den Lärm und das Geschrei, das wir alle machten, liefen die Wirtsleute und die Nachbarn herzu und stellten sich zwischen sie; diese aber, sehr zornig, suchten sich von denen, die sich zwischen sie gestellt hatten, loszumachen, um sich umzubringen. Da aber viel Volk auf den Lärm herzulief und das Haus ganz voll war, und da sie sahen, daß sie mit den Waffen nicht aneinander kommen konnten, so stießen sie Schimpfreden gegeneinander aus; unter anderm sagte der Alguazil zu meinem Herrn, er sei ein Betrüger, und die Bullen, die er ausböte, wären falsch.[67]

Als endlich die Leute sahen, daß sie sie nicht zur Ruhe bringen konnten, beschlossen sie, den Alguazil aus dem Gasthofe an einen andern Ort zu bringen. Mein Herr blieb sehr aufgebracht zurück, und nachdem ihn die Wirtsleute und Nachbarn gebeten hatten, daß er sich doch beruhigen und sich schlafen legen möchte, legten wir uns alle nieder.

Den folgenden Morgen ging mein Herr in die Kirche und ließ zur Messe und zur Predigt läuten, um seine Bullen noch einmal auszubieten. Das Volk versammelte sich, und man fing an über die Bullen zu murmeln, indem man sagte, sie wären falsch, und der Alguazil selbst hätte es im Streit entdeckt, so daß, da man schon außerdem keine Lust hatte, sie zu nehmen, man sie jetzt gar verabscheute.

Der Herr Kommissär bestieg die Kanzel und fing an seine Predigt zu halten und die Leute zu ermahnen, daß sie doch ja das viele Gute und den kräftigen Ablaß, den die heilige Bulle mit sich führe, nicht verabsäumen möchten. Als er eben im besten Predigen war, trat der Alguazil zur Kirchtür herein, und nachdem er gebetet, stand er auf und fing mit lauter und langsamer Stimme beherzt zu sprechen an: Ihr guten Leute, hört nur ein Wort von mir, und dann hört wen ihr wollt! Ich kam mit diesem Betrüger, der euch jetzt predigt, hieher. Er hat mich schändlich hintergangen und mir versprochen, wenn ich ihn bei diesem Geschäfte unterstützte, den Gewinn mit mir zu teilen. Jetzt sehe ich aber den Schaden ein, den er meinem Gewissen und euerm Vermögen würde zugefügt haben, und voll Reue über das schon Geschehene erkläre ich euch offen, daß die Bullen, die er euch anpreist, falsch sind, damit ihr ihm nicht glaubt und sie nicht kauft, daß ich weder mittelbar noch unmittelbar daran Teil habe und daß ich von jetzt an meinen Gerichtsstab niederlege und[68] zerbreche; und wenn dieser hier einmal wegen seiner Betrügerei gestraft werden sollte, so rufe ich euch als Zeugen auf, daß ich nichts mit ihm gemein habe noch ihn dabei unterstütze, sondern im Gegenteil euch den Betrug entdecke und seine Gottlosigkeit offenbare! – So endigte er seine Rede.

Einige der ehrbarsten Zuhörer wollten aufstehen und den Alguazil aus der Kirche werfen, um Ärgernis zu vermeiden; aber mein Herr hielt sie zurück und befahl allen bei Strafe des Kirchenbannes, ihn nicht zu unterbrechen, sondern ihn vielmehr alles sagen zu lassen, was er wolle. So war auch er stille, während der Alguazil alles das sprach, was ich eben erzählt habe. Als er schwieg, sagte mein Herr zu ihm, daß, wenn er vielleicht noch mehr vorzubringen hätte, er es nur sagen möchte. Darauf erwiderte der Alguazil: Noch sehr viel wäre über Euch und Eure Betrügerei zu sagen, aber für jetzt mag es genug sein.

Der Kommissär, mein Herr, kniete jetzt auf der Kanzel nieder, faltete die Hände, hob die Augen gen Himmel und sprach folgendermaßen: Gerechter Gott, dem keine Sache verborgen bleibt, sondern dem alles offenbar ist, dem nichts unmöglich, sondern alles möglich ist: Du kennst die Wahrheit und weißt, wie ungerecht ich beschimpft worden bin! Was mich anbetrifft, so verzeihe ich ihm, damit auch Du, o Herr, mir verzeihen mögest; achte nicht auf den, der nicht weiß, was er tut und spricht! Aber die Dir zugefügte Beleidigung, darum flehe ich und bitte Dich demütig um Deiner Gerechtigkeit willen, dulde nicht länger; denn wenn unter diesen Gegenwärtigen vielleicht einer war, der sich dieser heiligen Bulle bedient hätte, so wird er es jetzt unterlassen, indem er den trügerischen Worten dieses Menschen Glauben beimißt. Und da dies meinem Nächsten so[69] sehr zum Schaden gereicht, so flehe ich Dich an, o Herr, verhehle es nicht länger, sondern offenbare es sogleich durch ein Wunder! Und dies bestehe darin: wenn es wahr ist, was dieser spricht, und wenn ich der Bosheit und Betrügerei schuldig bin, so stürze diese Kanzel mit mir in den Abgrund und versinke sieben Klaftern tief unter die Erde, so daß weder von ihr noch von mir jemals wieder etwas zu sehen ist. Ist aber das wahr, was ich rede, und dieser Mensch, vom Teufel dazu angestellt (um die gegenwärtigen Zuhörer eines so großen Gutes zu berauben), lügt, so werde auch er gestraft, und seine Bosheit sei allen offenbar.

Kaum hatte mein frommer Herr sein Gebet geendigt, als der sündige Alguazil umfiel und einen so starken Schlag auf den Boden tat, daß die ganze Kirche davon widerhallte. Er fing an zu brüllen und Geifer aus dem verzerrten Munde von sich zu geben, indem sein Gesicht sich zu widrigen Gebärden verzog; er schlug dazu mit Händen und Füßen und wälzte sich auf der Erde von einer Seite zur andern. Der Lärm und das Geschrei des Volkes war so groß, daß keiner den andern hörte. Einige waren voll Furcht und Entsetzen; andere sagten: Gott der Herr helfe ihm und sei ihm gnädig! – und andere: er hat es wohl verdient, weil er ein so falsches Zeugnis abgelegt hat!

Endlich näherten sich ihm einige der Umstehenden, wie mir schien nicht ohne große Furcht, und banden ihm die Arme, mit denen er denjenigen, die ihm zunächst standen, schreckliche Stöße gab; andere zogen ihn bei den Beinen und hielten sie fest; denn es kann auf der Welt keine so falsche Mauleselin geben, die so fürchterlich hinten ausschlüge. So hielten sie ihn eine Zeitlang, und es waren[70] mehr als fünfzehn Menschen über ihn her, und dennoch gab er allen die Hände voll zu tun, und wenn sie nicht aufmerksam waren, hatten sie sogleich einen Schlag ins Gesicht.

Während dieses ganzen Vorfalles lag mein Herr auf der Kanzel auf den Knien, Hände und Augen gen Himmel gerichtet und so verzückt in das göttliche Wesen, daß das Lärmen, Jammern und Schreien, das in der Kirche erhoben wurde, nicht imstande war, ihn aus seiner himmlischen Betrachtung zu reißen. Einige mitleidige Seelen näherten sich ihm, weckten ihn auf, indem sie ihn anredeten, und baten ihn inständigst, diesem Unglücklichen beizustehen, der eben verscheiden wolle, und auf das, was geschehen wäre, nicht zu achten, so wenig als auf seine Schmähungen, da er ja dafür schon seinen Lohn hätte; wenn er aber etwas tun könne, ihn von den schweren Leiden und aus der Todesgefahr zu befreien, so möchte er es doch tun, um Gottes willen: sie sähen ja nun ganz deutlich die Schuld des Frevlers und seine eigne Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit, da auf seine Bitte und zu seiner Rechtfertigung Gott der Herr die Strafe nicht aufgeschoben hätte.

Der Herr Kommissär, gleich einem, der aus einem süßen Schlafe erwacht, sah erst sie, dann den Verbrecher an und alle, die ringsherum standen, und sagte sehr ruhig: Ihr guten Leute, ihr solltet nicht bitten für einen Menschen, in welchem sich Gott so augenscheinlich offenbaret hat. Da uns aber der Herr befiehlt, daß wir nichts Böses mit Bösem vergelten und Unrecht verzeihen sollen, so können wir ihn mit Zuversicht bitten, daß er selbst das erfülle, was er uns befiehlt, und daß seine Majestät dem verzeihe, der sie beleidigte, indem er dem heiligen Glauben[71] an sie Hindernisse in den Weg legte. Laßt uns alle beten!

So stieg er von der Kanzel und ermahnte alle, Gott unsern Herrn inbrünstig zu bitten, daß er doch gnädigst beschließen möchte, diesem Sünder zu verzeihen, ihm seine Gesundheit und Besinnungskraft wiederzuschenken und den Teufel aus ihm zu treiben, wenn seine Majestät es gestattet hätte, daß einer, um seiner großen Sünde willen, in ihn gefahren wäre.

Alle warfen sich auf die Knie nieder und begannen mit den Geistlichen am Altare mit leiser Stimme eine Litanei zu singen. Darauf trat mein Herr mit Kreuz und Weihwasser vor, nachdem er es gesegnet hatte, hob die Hände und die Augen gen Himmel, so daß von letztern nichts als ein wenig vom Weißen zu sehen war, und fing ein Gebet an, das ebenso lang als andächtig war und mit welchem er alle Zuhörer zum Weinen brachte, wie es bei den Passionsreden von einem andächtigen Prediger und in einer andächtigen Versammlung zu geschehen pflegt. Er bat Gott unsern Herrn, daß er, da er nicht den Tod, sondern das Leben und die Buße des Sünders wolle, diesem vom Teufel Besessenen und vom Tod und der Sünde Geblendeten verzeihen und ihm Leben und Gesundheit wiedergeben möchte, damit er es bereuen und seine Sünden beichten könne.

Hierauf ließ er die Bulle bringen und legte sie ihm auf den Kopf, und der sündige Alguazil fing sogleich an, sich nach und nach zu erholen und wieder zu sich zu kommen. Als er seine Besinnung völlig wiedererlangt hatte, warf er sich zu den Füßen des Herrn Kommissärs, bat ihn um Verzeihung und bekannte, daß er alles dies durch den Mund und auf Eingebung des Teufels gesagt hätte, teils[72] um ihm dadurch ein Leid zuzufügen und sich wegen der erlittenen Beleidigungen zu rächen, teils auch vorzüglich deshalb, weil der Teufel vielen Verdruß durch das Gute erlitte, welches hier durch Lösung der Bullen gestiftet würde.

Mein Herr verzieh ihm, und es wurde wieder Freundschaft unter ihnen gestiftet. Man eilte nun so sehr, die Bullen zu kaufen, daß kaum im ganzen Dorfe eine lebendige Seele ohne eine solche blieb: Mann und Frau, Söhne und Töchter, Knechte und Mägde. Die Neuigkeit dieses Vorfalls verbreitete sich in den benachbarten Dörfern; und wenn wir irgendwo ankamen, war es nicht nötig, eine Predigt zu halten oder in die Kirche zu gehen: man kam zu uns ins Wirtshaus, um welche zu kaufen, gleich als ob es Birnen wären, die man umsonst austeilte. Solchergestalt verkaufte mein Herr in zehn bis zwölf Dörfern, die im Umkreise lagen, ebenso viele Tausend Bullen, ohne nur ein einziges Mal zu predigen.

Als dieses Schauspiel aufgeführt wurde, ich muß meine Sünden bekennen, so entsetzte ich mich davor, und glaubte, wie viele andere, daß es wirklich so wäre. Wie ich aber nachher das Gelächter und Gespötte hörte, das mein Herr und der Alguazil über diesen Handel machten, wurde ich inne, daß er von meinem erwerbsamen und erfinderischen Herrn angestellt gewesen war; und obschon ich noch ein Knabe war, gefiel es mir doch sehr, und ich sagte bei mir selbst: wieviel ähnliche Streiche mögen wohl diese Betrüger dem leichtgläubigen Volke vormachen!

Bei diesem meinem fünften Herrn hielt ich beiläufig ohngefähr vier Monate aus, während welchen ich ebenfalls genug Beschwerlichkeiten zu ertragen hatte.

Quelle:
Mendoza, D. Diego Hurtado de: Leben des Lazarillo von Tormes. Berlin 1923, S. 65-73.
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