Fünftes Kapitel

[79] Der General hatte einen Pfad eingeschlagen, der sich dicht am Ufer um die Krümmungen der Halbinsel schlängelte und hier erblickte er bald Rahel Wertmüller, die, auf einer verwitterten Steinbank sitzend, das feine Profil nach der jetzt abendlich dämmernden Flut hinwendete. Ein aufrichtiger Ausdruck tiefer Betrübnis lag auf dem hübschen und entschlossenen Gesichtchen.

»Was dichtest und trachtest du?« redete er sie an.

Sie antwortete, ohne sich zu erheben: »Ich bin nicht mit Euch zufrieden, Pate.«

Der General lehnte sich an den Stamm einer Eiche und kreuzte die Arme. »Womit habe ich es bei Euer Wohlgeboren verscherzt?« sagte er.

Das Fräulein warf ihm einen Blick des Vorwurfs zu. »Ihr fragt noch, Pate? Wahrlich, Ihr handelt an Papa nicht gut, der Euch doch nur Liebes und nichts zu Leide getan hat. – Was war das wieder für ein Spektakel vergangenen Sonntag! Durch Eure Verleitung hat er den ganzen Nachmittag mit Euch auf Euerm Au-Teiche herumgeknallt. Welch ein Schauspiel! Aufflatternde verwundete Enten, im Moor nach der Beute watende Jungen, der Vater in großen Stiefeln und das ganze Dorf als Zuschauer! . . .«

»Es beurteilte die Schüsse«, warf Wertmüller ein.

»Pate« – das Mädchen war von seinem Sitze aufgesprungen[79] und seine schlanke Gestalt bebte vor Unwillen –, »ich meinte bisher, Ihr hättet – trotz mancher Wunderlichkeit – das Herz am rechten Flecke. Aber ich habe mich geirrt und fange an zu glauben, hier sei bei Euch etwas nicht in Ordnung!« und sie wies mit einer kleinen Gebärde des Zeigefingers nach der linken Brustseite des Generals. »Ich hielt Euch«, fügte sie freundlicher hinzu, »für eine Art Rübezahl ... so heißt doch der Geist des Riesengebirges, von dessen Koboldstreichen Ihr so lustig zu erzählen wißt? . . .«

»Dem es zuweilen Spaß macht, Gutes zu tun, und der, wenn er Gutes tut, dabei sich einen Spaß macht.«

»So ungefähr. Doch, wie gesagt, wenn Ihr ebenso boshaft seid, wie der Berggeist – von Wohltat ist dabei nichts sichtbar. Ihr werdet den Vater noch ins Verderben stoßen. Wären unsere Mythikoner im Grund nicht so gute Leute, die ihren Pfarrer decken, wo sie können, längst wäre in Zürich gegen ihn Klage erhoben worden. Und mit Recht; denn ein Geistlicher, der wachend und träumend keinen andern Gedanken mehr hat, als Halali und Halalo, muß jeder christlichen Seele ein tägliches Ärgernis sein. Das wächst mit den Jahren. Neulich da der Herr Dekan seinen Besuch meldete und zur selben Zeit der Bote eine in der Stadt angekaufte Jagdflinte dem Vater zutrug, mußte ich ihm dieselbe unkindlich entwinden und in meinen Kleiderschrank verschließen, sonst hätte er noch – ein schrecklicher Gedanke – den ehrwürdigen Herrn Steinfels aufs Korn genommen. Ihr lacht, Pate? – Ihr seid abscheulich! – Ich könnte Euch darum hassen, daß Ihr, der seine Schwäche kennt, ihn noch stachelt und aufreizt, als wäret Ihr sein böser Engel. – Nächstens wird er noch einmal mit geladenem Gewehr die Kanzel besteigen! . . . Ich freute mich, da Ihr kamet, und nun frage ich: Reist Ihr bald, Pate?«

»Mit geladenem Gewehr die Kanzel besteigen?« wiederholte Wertmüller, den dieser Gedanke zu frappieren schien. »La, la, Patchen! Der Vater ist mir der erträglichste aller Schwarzröcke und du bist mir die liebste aller Figuren. Ich will dem Alten eine Genugtuung geben. Weißt du was? Ich gehe morgen bei euch zur Kirche – das rehabilitiert den Vater zu Stadt und Lande.«

Rahel schien von dieser Aussicht wenig erbaut. »Pate«, sagte sie, »Ihr habt mich aus der Taufe gehoben und das Gelübde getan, auf mein zeitliches und ewiges Heil bedacht zu sein. Für[80] das letztere könnet Ihr nichts tun, denn es steht in diesem Punkte bei Euch selbst sehr windig. Aber ist das ein Grund, auch mein zeitliches zu ruinieren? Ihr solltet, scheint mir, im Gegenteil darauf denken, mich wenigstens auf dieser Erde glücklich zu machen – und Ihr macht mich unglücklich!« Sie zerdrückte eine Träne.

– »Vortrefflich räsoniert«, sagte der General. »Patchen, ich bin der Berggeist und du hast drei Wünsche bei mir zugut.«

»Nun«, versetzte das Fräulein, auf den Scherz eingehend. »Erstens: Heilt den Vater von seiner ungeistlichen Jagdlust!«

– »Unmöglich. Sie steckt im Blute. Er ist ein Wertmüller. Aber ich kann seiner Leidenschaft eine unschädliche Bahn geben. Zweitens?«

»Zweitens ...« Rahel zögerte.

»Laß mich an deiner Stelle reden, Mädchen. Zweitens: Gebt dem Hauptmann Leo Kilchsperger Urlaub zu Werbung, Verlöbnis und Heirat.«

– »Nein!« versetzte Rahel lebhaft.

– »Er ist ein perfekter Kavalier.«

– »Einem perfekten Kavalier hängt manches um und an, worauf ich Verzicht leiste, Pate.«

– »Ein beschränkter Standpunkt.«

– »Ich halte ihn fest, Pate.«

– »Meinetwegen. – Also ein anderes zweites. Zweitens: Berggeist, verschaffe dem Kandidaten Pfannenstiel die von ihm begehrte Feldkaplanei in venezianischen Diensten.«

– »Nimmermehr!« rief die Wertmüllerin. »Was? der Unglückliche begehrt die Feldkaplanei unter Euerm venezianischen Gesindel? Der zarte und gute Mensch? Darum ist er zu Euch gekommen?«

Der General bejahte. »Ich rede es ihm nicht aus.«

– »Redet es ihm aus, Pate. Grassiert nicht Pest und Fieber in Morea?«

– »Zuweilen.«

– »Liest man nicht von häufigen Schiffbrüchen im Adriatischen Meere?«

– »Hin und wieder.«

– »Ist die Gesellschaft in Venedig nicht ganz entsetzlich schlecht?«

– »Die gute ist dort wie allenthalben und die schlechte ganz vortrefflich.«[81]

– »Pate, er darf nicht hin, um keinen Preis!«

– »Gut. Also ein anderes zweites verbunden mit dem dritten: Berggeist, mache den Kandidaten Pfannenstiel zum wohlbestellten Pfarrer von Mythikon und gib mich ihm zur Frau!«

Rahel wurde feuerrot. »Ja, Berggeist«, sagte sie tapfer.

Diese resolute Antwort gefiel dem General aus der Maßen.

»Er ist eine reinliche Natur«, lobte er, »aber ihm fehlt die Männlichkeit, welche die Figuren unwiderstehlich hinreißt –«

– »Bah –« machte sie leichthin und fuhr entschlossen fort: »Pate, Ihr habt ein Dutzend Feldschlachten gewonnen, Ihr verderbt Euern listigsten Feinden in der Hofburg das Spiel, Ihr seid ein berühmter und welterfahrener Mann – wendet ein Hundertteilchen Eures Geistes daran, mich – was sage ich – uns glücklich zu machen, und wir werden es Euch zeitlebens Dank wissen.«

Der General ließ sich auf die leere Steinbank nieder und legte in tiefem Nachdenken die Hände auf die Kniee, wie eine ägyptische Gottheit. So berührte er die beiden Pistolen in seinen Taschen; es blitzte in seinen scharfen grauen Augen plötzlich auf und er brach in ein unbändiges Gelächter aus, wie er seit Dezennien nicht mehr gelacht hatte, in ein wahres Schulbubengelächter. Da er zugleich aufgesprungen war, rasch dem Innern der Halbinsel sich zukehrend, wiederholte ein Echo diesen Ausbruch ausgelassener Lustigkeit in so geisterhafter und grotesker Weise, daß es war, als hielten sich alle Faune und Panisken der Au die Bäuchlein über einen tollen und gottvergessenen Einfall.

Der General beruhigte sich. Er schien seinen Anschlag und die Möglichkeit des Gelingens mit scharfem Verstande zu prüfen. Das Wagnis gefiel ihm. »Zähle auf mich, mein Kind«, sagte er väterlich.

– »Hört, Pate, dem Papa darf kein Leides geschehen!«

– »Lauter Gutes.«

– »Pfannenstiel darf nicht gezaust werden!«

Wertmüller zuckte die Achseln. »Der spielt eine ganz untergeordnete Rolle.«

– »Und Ihr werdet Euern Spaß dabei haben?« fragte das Mädchen gespannt, denn das Gelächter hatte sie doch etwas bedenklich gemacht.

– »Ich werde meinen Spaß dabei haben.«

– »Kann es nicht mißlingen?«[82]

– »Der Plan ist auf die menschliche Unvernunft gegründet und somit tadellos. Aber etwas Chance gehört zu jedem Erfolg.«

– »Und mißlingt es?«

– »So bezahlt Rudolf Wertmüller die Zeche.«

Noch einmal besann sich das Mädchen recht ernstlich; aber ihre resolute Natur trug den Sieg davon. Sie hatte überdies ein unbedingtes Vertrauen zu der verwegenen Kombinationsgabe und selbst in gewissen Grenzen zu der Loyalität ihres Verwandten. Daß ein schadenfroher Streich mitlaufen werde, wußte sie – es war das eben der Kaufpreis ihres Glückes –, aber sie wußte auch, daß Wertmüller sie liebhabe und seinen Spuk darum nicht allzu weit treiben würde. Zudem lag etwas in ihrem Blute, das eine rasche, wenn auch gewagte Lösung einer nagenden Ungewißheit vorzog.

»Ans Werk, Rübezahl!« sagte sie. »Wann beginnst du dein Treiben, Berggeist?«

– »Morgen mittag bist du Braut, Kindchen. Ich verreise Montag in der Frühe.«

– »Adieu, Berggeist!« grüßte sie enteilend und warf ihm eine Kußhand zu, während er ihr nachsah und seine Freude hatte an ihrem schlanken und sichern Gange.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 79-83.
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