Viertes Kapitel

[71] Er trat mit dem Gaste in die Veranda, drückte ihn auf einen Sitz nieder, goß ihm eines der auf dem Schenktische stehenden Gläser voll und ließ ihn sich erholen und erquicken.

»Der Empfang war militärisch«, tröstete er ihn dann, »aber Ihr werdet im Soldaten keinen unebenen Hauswirt finden. Ihr[71] nächtigt heute auf der Au – ohne Widerrede! – Wir haben manches zu verhandeln – Seht, Lieber, Eure Abhandlung hat mich ganz angenehm unterhalten«, und Wertmüller langte nach dem Buche, welches in einer Fensternische des die Rückwand der Veranda bildenden Erdgeschosses lag und zwischen dessen Blätter er die zerlesene Dissertation des Kandidaten eingelegt hatte.

»Zuerst eine Vorfrage: Warum habt Ihr mir Euer Werk nur mit einer Zeile zugeschrieben, statt mir es coram populo auf dem ersten weißen Blatte mit aufrichtigen, großen Druckbuchstaben zu dedizieren? Weil ich mit den Faffen, Euern Kollegen, gespannt bin, he? Ihr habt keinen Charakter, Pfannenstiel; Ihr seid ein schwacher Mensch.«

Der Kandidat entschuldigte sich, seine unbedeutende Arbeit habe den Namen des berühmten Feldherrn und Literaturkenners nicht vor sich hertragen dürfen.

»Durchaus nicht unbedeutend«, lobte Wertmüller. »Ihr habt Phantasie und seid in die purpurnen Tiefen meines Lieblingsgedichtes untergetaucht, wie nicht leicht ein anderer. Freilich um etwas Absurdes zu beweisen. Aber es ist einmal nicht anders: wir Menschen verwenden unsere höchsten Kräfte zu albernen Resultaten. Dachtet Ihr daran, mich rechtzeitig zu Rate zu ziehen, ich gab Eurer Dissertation eine Wendung, die Euch selber, Eure fäffischen Examinatoren, das ganze Publikum in Erstaunen gesetzt hätte. Ihr habt es gefüllt, Pfannenstiel, daß die zweite Hälfte der Odyssee von besonderer Schönheit und Größe ist. Wie? Der Heimgekehrte wird als ein fahrender Bettler an seinem eigenen Herde mißhandelt. Wie? Die Freier reden sich ein, er kehre niemals wieder, und ahnen doch seine Gegenwart. Sie lachen und ihre Gesichter verzerrt schon der Todeskampf – das ist Poesie. – Aber Ihr habt recht, Pfannenstiel, was nützt mir die Poesie, wenn nicht eine Moral dahinter steckt? Es ist eine Devise in das Zuckerwerk hineingebacken – zerbrechen wir es! Da der Odysseus nicht bloß den Odysseus bedeuten darf, wen oder was bedeutet er denn? Unsern Herrn und Heiland – so beweist Ihr und habt Ihr es drucken lassen – wenn er kommt zu richten Lebendige und Tote. Nein, Kandidat, Odysseus bedeutet jede in Knechtesgestalt mißhandelte Wahrheit mitten unter den übermütigen Freiern, will sagen Faffen, denen sie einst in sieghafter Gestalt das Herz durchbohren wird.[72]

He, Kandidat, wie gefällt Euch das? – So hättet Ihr es wenden sollen und seid gewiß, Eure Dissertation hätte gerechtes Aufsehen erregt!«

Pfannenstiel erbebte bei dem Gedanken, daß sich seiner Symbolik diese gotteslästerliche und verwegene Wendung hätte geben lassen. Sein einfaches Wesen ließ ihn den Pferdefuß des alten Spötters nicht oder doch nur in unbestimmten Umrissen erkennen.

– Um sich der Verlegenheit zu entziehen, dem alten Freigeiste eine Antwort geben zu müssen, nahm der Kandidat den Pergamentband in die Hände, mit welchem Wertmüller während seiner Rede gestikuliert hatte. Es war die aldinische Ausgabe der Odyssee. Pfannenstiel betrachtete andächtig das Titelblatt des seltenen Buches. Plötzlich fuhr er zurück wie vor einer züngelnden Natter. Er hatte auf dem freien Raume links neben dem Wappen des venezianischen Buchhändlers etwas verblichene, kühnfließende Federzüge entdeckt, die folgende Zeilen bildeten:


Georgius Jenatius me jure possidet

Constat R. 4. Kz. 12.


Er warf das Buch weg, als atme es einen Blutgeruch aus.

Damals moderte der fragwürdige Bündner schon seit Dezennien in der Domkirche von Chur, während sein Bild in zahmen und unpatriotischen Zeiten sich zu einem widerwärtigen verzerrt hatte, so daß nur der Apostat und der Blutmensch übrigblieb. Pfannenstiel betrachtete ihn einfach als ein Ungeheuer, an dessen Dagewesensein er kaum glauben, das er sich nicht realisieren konnte.

Der General weidete sich an seinem Schrecken, dann sagte er leichthin: »Der liebe Mann, Euer gewesener Kollege, hat mich damit beschenkt, wie wir noch auf gutem Fuße standen und ich ihn auf seinem Malepartus in Davos besuchte.«

»Also hat er doch gelebt!« sprach der Kandidat halblaut vor sich hin, »er hat Bücher besessen, wie unsereiner, und ihren kostenden Preis auf das Titelblatt geschrieben.«

»Jawohl hat er gelebt, und recht persönlich und zähe«, sagte der General mit kurzem Lachen. »Noch heute nacht träumte mir von dem Bündner ... Das kam daher, daß ich mich den ganzen gestrigen Tag mit einem häßlichen Geschäfte abgegeben hatte. Ich schrieb mein Testament nieder, und was ist kläglicher,[73] als bei atmendem Leibe über seinen Besitz zu verfügen, der ja auch ein Teil von uns selber ist!«

Die Neugierde des jungen Geistlichen wurde rege. Vielleicht war es ein warnendes Traumgesicht gewesen, das, fein und erbaulich ausgelegt, in dem ihm gegenüber Sitzenden einen guten und frommen Gedanken konnte entstehen lassen. »Wollt Ihr mir Euern Traum nicht mitteilen?« fragte er mit einem gefühlvollen Blicke.

»Er steht zu Diensten. Es war in Chur. Menschengedränge, Staatsperücken, Militärpersonen – von der Hofkirche her Geläute und Salutschüsse. Wir treten unter dem Torbogen hervor in den bischöflichen Hof. Jetzt gehen wir zu zweien, neben mir ein Koloß. Ich sehe nur einen Federhut, darunter eine Gewaltsnase und den in den Kragen gesenkten pechschwarzen Spitzbart ›Wertmüller‹, fragte der Große ›wen bestatten wir?‹ – ›Ich weiß nicht‹, sage ich. Wir treten in die Kathedrale zwischen das Gestühl des Schiffes ›Wertmüller‹, fragt der andere ›wem singen sie ein Requiem?‹ – ›Ich weiß nicht‹, sag ich ungeduldig ›Kleiner Wertmüller‹, sagt er ›stell dich einmal auf die Zehen und sieh, wer da vorn aufgebahrt liegt.‹ – Jetzt unterscheide ich deutlich in den Ecken des Bahrtuches den Namenszug und das Wappen des Jenatschen, und im gleichen Augenblicke wendet er, neben mir stehend, mir das Gesicht zu – fahl mit verglühten Augen ›Donnerwetter, Oberst‹, sag ich ›Ihr liegt dort vorn unter dem Tuche mit Euern sieben Todeswunden und führt hier einen Diskurs mit mir! Seid Ihr doppelt? Ist das vernünftig? Ist das logisch? Schert Euch in die Hölle, Schäker!‹ Da antwortete er niedergeschlagen ›Du hast mir nichts vorzurücken – mach dich nicht mausig. Auch du, Wertmüller, bist tot.‹«

Pfannenstiel überlief es kalt. Dieser Traum am Vorabende des ohne Zweifel blutigen Feldzuges, welcher dem General draußen im Reiche bevorstand, schien ihm von ernster Vorbedeutung und er sann auf ein Wort geistlicher Zusprache.

Auch Wertmüller konnte seinen Traum, nachdem er ihn einmal mitgeteilt, nicht sogleich wieder loswerden. »Der Oberst wurde von seinem Liebchen mit der Axt wie ein Stier niedergeschlagen«, erging er sich in lauten Gedanken, »mir wird es so gut nicht werden. Fallen – wohlan! Aber nicht in einem Bettwinkel krepieren!«

Vielleicht dachte er an Gift, denn er war am Hofe zu Wien[74] in ein hartnäckiges Intrigenspiel verwickelt und hatte sich dort durch seinen Ehrgeiz Todfeinde gemacht.

»Ehe ich meinen Koffer packe«, fuhr er nach einer Pause fort, »möchte ich wohl noch einen Menschen glücklich machen –«

Dem Kandidaten schoß das Wasser in die Augen, nicht in selbstsüchtigen Gedanken, sondern in uneigennütziger Freude über diese schöne Regung; doch es trocknete schnell, als der General seinen Satz abschloß: »– besonders wenn sich ein kräftiger Schabernack damit verbinden ließe.«

Das abergläubische Gefühl, das den General angewandelt hatte, war rasch vorübergegangen. »Was ist Euer Anliegen?« fragte er seinen Gast mit einer jener brüsken Wendungen, die ihm geläufig waren. »Ihr seid nicht hierhergekommen, um Euch meine Träume erzählen zu lassen.«

Nun berichtete Pfannenstiel dem Generale mit einer unschuldigen List, denn er wollte ihm seine Liebesverzweiflung, für die er ihm kein Organ zutraute, nicht verraten, wie ihn über dem Studium der Odyssee ein unwiderstehliches Verlangen ergriffen, Heimat Homers, die goldene Hellas kennenzulernen. Da er keinen andern Weg wisse, seine Wanderlust zu befriedigen, sei ihm der Gedanke gekommen, sich bei dem Herrn für die Feldkaplanei seiner venezianischen Kompanie zu melden, die ja in den griechischen Besitzungen der Republik stationiere. »Sie ist erledigt«, schloß er, »und wenn Ihr mir ein weniges gewogen seid, weiset Ihr mir die Stelle zu.«

Wertmüller blickte ihn scharf an. »Ich bin der letzte«, sagte er, »der einem jungen Menschen eine gefährliche Karriere widerriete! Aber er muß dazu qualifiziert sein. Euer Knochengerüste, Freund, ist nicht fest genug gezimmert. Der erste beste relegierte Raufbold von Leipzig oder Jena wird meinen Kerlen mehr imponieren, als Euer Johannesgesicht. Schlagt Euch das aus dem Kopfe. Wollt Ihr den Süden sehen, so sucht als Hofmeister Dienste bei einem jungen Kavalier und klopft ihm die Kleider! Doch auch das kann Euch nicht taugen. Das beste ist, Ihr bleibt zu Hause. Blickt aus! Zählt alle die Turmspitzen am See – das Kanaan der Pfarrer. Hier ist Euer Rhodus, hier tanzt – will sagen predigt! – Wozu sind die Geleise bürgerlicher Berufsarten da, als daß Euresgleichen sie befahre? Ihr Wißt nicht, welcher Schenkelschluß dazu gehört, um das Leben souverän zu traktieren. Steht ab von Eurer Laune!« und er machte die Gebärde,[75] als griffe er einem Rosse in die Zügel, das mit einem unvorsichtigen Knaben durchgegangen ist.

Es entstand eine Pause. Wieder warf der General dem Kandidaten einen beobachtenden Blick zu.

»Ihr seid ein lauterer Mensch«, sagte er dann, »und es war Euer Ernst, Ihr würdet das griechische Abenteuer bestanden haben. Wie reimt sich das mit dem Pfannenstiel, den ich hier vor mir sehe? Da liegt ein Aal unter dem Steine. Ein verrückter Antiquar, wie sie zwischen den Ruinen herumkriechen, seid Ihr nicht. Also seid Ihr desperat. Aber warum seid Ihr desperat? Was treibt Euch weg? Heraus damit. Eine Figur? He? Ihr errötet!«

Der sechzigjährige Wertmüller behandelte die weiblichen Wesen als Staffage und pflegte sie schlechtweg mit dem Malerausdrucke »Figuren« zu benennen.

»Wo habt Ihr zuletzt konditioniert?«

»In Mythikon bei Euerm Herrn Vetter während seiner Gichtanfälle.«

»Bei meinem Vetter? Will sagen bei der Rahel. Nun ist alles klar und deutlich wie mein neuverfaßtes Exerzierreglement. Das Mädchen hat Euch den Kopf verrückt und dann, wie recht und billig, einen Korb gegeben?«

Der zartfühlende Kandidat hätte sich eher das Herz aus dem Leibe reißen lassen, als eingestanden, daß die Rahel – wie er daran nicht zweifeln konnte – ihm herzlich wohlwolle. Er antwortete bescheiden:

»Der Herr Wertmüller, sonst mein Gönner, hat mich verabschiedet, weil ich mit Schießgewehr nicht umzugehen verstehe und mich auch davor scheue. Vor zwanzig Jahren ist damit in meiner Familie ein Unglück begegnet. Er nötigte mich, mit ihm in die Scheibe zu schießen, und ich habe keinen Schuß hineingebracht.«

»Ihr hättet Euch weigern sollen. Das hat Euch in Rahels Augen heruntergesetzt. Sie trifft immer ins Schwarze. – Donnerwetter, da fällt mir ein, daß ich dem Alten noch etwas schuldig bin. Der geistliche Herr hat mir, während ich am Rheine bataillierte, meine Meute hier ganz meisterhaft beaufsichtigt. Er ist ein Kenner. Hassan, hol mir gleich das violette Saffianfutteral her, links zuunterst im Glasschranke der Waffenkammer. – Laßt Euch nicht stören, Kandidat.«

Der Mohr beeilte sich und nach wenigen Augenblicken hielt[76] Wertmüller zwei kleine Pistolen von zierlicher Arbeit in der Hand. Er reinigte mit einem Lederlappen die damaszierten Läufe und den Silberbeschlag der Kolben, in welchen hübsche seltsame Arabesken eingegraben waren.

»Fortgefahren, Freund, in Eurer Elegie!« sagte er. »Das Mädchen also gab Euch einen Korb – oder ist es möglich, liebt sie Euch? . . . Es gibt wunderliche Naturspiele! – und nur der Alte hätte Euch abblitzen lassen, he? Was gab er Euch für Gründe?«

Pfannenstiel blieb erst die Antwort schuldig. Ihm war ängstlich zumute geworden, denn der General hatte, während er sprach, den Hahn der einen Pistole gespannt. Jetzt berührte Wertmüller den Drücker mit ganz leisem Finger und der Hahn schlug nieder. Er spannte die zweite, streckte den Arm aus, schnitt eine Grimasse; nur nach harter Anstrengung gelang es ihm loszudrücken. Das Spiel der Feder mußte sich aus irgendeinem Grunde verhärtet haben und er schüttelte unzufrieden den Kopf.

Der Kandidat, der stark mit den Augen gezwinkert hatte, nahm jetzt den Faden des Gesprächs wieder auf, um den wahren Grund seiner Hoffnungslosigkeit anzudeuten. »Eine Wertmüllerin und ein Pfannenstiel!« sagte er in einem resignierten Tone, als nenne er Sonne und Mond und finde es ganz natürlich, daß dieselben nicht zusammenkommen.

»Laß Er mich mit diesen Narreteien zufrieden!« fuhr ihn der General hart an. »Sind wir noch nicht über die Kreuzzüge hinaus, in welcher geistreichen Epoche die Wappen erfunden wurden? Aber auch damals, wie überhaupt jederzeit, galt der Mann mehr als der Name, sonst wäre die Welt längst vermodert wie ein wurmstichiger Apfel. Seh Er, Pfannenstiel, ich gelte hier für einen Patricius; als ich aber in kaiserliche Dienste trat, wie blickten die Herren Kollegen von soundsoviel Quartieren hochnasig auf das plebejische Mühlrad in meinem Wappen herunter. Dennoch mußten sie es eben leiden, daß der Müller die von ihnen mehr als zur Hälfte ruinierte Campagne wiederherstellte und gewann! Hör Er, Pfannenstiel, es fehlt Ihm an Selbstgefühl und das schadet Ihm bei der Rahel.«

Der Kandidat befand sich in einem seltsamen Falle. Er konnte den Standpunkt Wertmüllers nicht teilen, denn er fühlte dunkel, daß eine so vollständige Vorurteilslosigkeit die ganze alte Ordnung der Dinge durchstieß, und diese war ihm ehrwürdig, auch da, wo sie zu seinen Ungunsten wirkte.[77]

Aber Wertmüller verlangte keine Antwort. Er hatte sich erhoben und trat, in jeder Hand eine Pistole, einem hochgewachsenen Mädchen entgegen, das auf dem vom festen Lande her ausmündenden Wege einherkam. Der General hatte den Kies unter ihren leichten, raschen Schritten knirschen hören.

»Guten Abend, Patchen«, begrüßte er sie und seine grauen Augen leuchteten.

Das schöne Fräulein aber zog die Brauen zusammen, bis der Alte die beiden Pistolen, die ihr offenbar ein Ärgernis waren, die eine in die rechte, die andere in die linke seiner geräumigen Rocktaschen steckte. »Ich habe Besuch, Rahel«, sagte er. »Erlaube mir, meinen jungen Freund dir vorzustellen, den Herrn Kandidaten Pfannenstiel.«

Die Wertmüllerin war näher getreten, während sich Pfannenstiel linkisch von seinem Stuhle erhob. Sie bekämpfte ein Erröten, das aber sieghaft bis in die feine Stirn und bis unter die Wurzeln ihres vollen braunen Haares aufflammte. Der Kandidat schlug erst die Augen nieder, als hätte er mit ihnen ein Bündnis geschlossen, keine Jungfrau anzuschauen, erhob sie dann aber mit einem so innigen und strahlenden Ausdrucke des Glückes und der Liebe und seine guten Blicke fanden in zwei braunen Augen einen so warmen Empfang, daß selbst der alte Spötter seine Freude hatte an der ungeschminkten Neigung zweier unschuldiger Menschenkinder.

Er vermehrte seltsamerweise die erste süße Verwirrung der beiden mit keinem Scherzworte. Ist es nicht, als ob ein tiefes und wahres Gefühl in seinem natürlichen und bescheidenen Ausdrucke aus dieser Welt des Zwanges und der Maske uns in eine zugleich größere und einfachere versetzte, wo der Spott keine Stelle findet?

Lange freilich hätte er sie nicht ungeneckt gelassen, aber das gescheite und tapfere Mädchen enthob ihn der Versuchung. »Ich habe mit Euch zu reden, Pate«, sagte sie, »und gehe voran nach der zweiten Bank am See. Laßt mich nicht zu lange warten!«

Sie verbeugte sich leicht gegen den Kandidaten und war verschwunden.

Der General nahm diesen bei der Hand und führte ihn eine Treppe hinauf in sein Bibliothekzimmer, in das die Seebreite durch drei hohe Bogenfenster hereinleuchtete.

»Seid getrost«, sagte er, »ich werde bei der Rahel für Euch Partei nehmen. Unterdessen wird es Euch hier an Unterhaltung[78] nicht mangeln. Ihr liebt Bücher! Hier findet Ihr die Poeten des Jahrhunderts tutti quanti.« Er zeigte auf einen Glasschrank und verließ den Saal. Da standen sie in glänzenden Reihen, die Franzosen, die Italiener, die Spanier, selbst einige Engländer, ein gehäufter Schatz von Geist, Phantasie und Wohllaut, und Wertmüller, der ohne Frage auf der Höhe der Zeitbildung stand, würde ungläubig den Kopf geschüttelt haben, wenn ihm zugeflüstert worden wäre, einer fehle hier, der sie alle insgesamt voll aufwiege.

Der überall Belesene hatte William Shakespeare nicht einmal nennen hören.

Der Kandidat ließ die Poeten unberührt, denn für ein junges Blut ist die Nähe der Geliebten mehr als alle neun Musen.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 71-79.
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