Elftes Kapitel

[536] Während die Ereignisse des Frühjahrs die Stadt Chur und das ganze Land in aufgeregte Spannung versetzten, blieb Lucretia Planta von denselben scheinbar unberührt. Sie hauste allein auf ihrem festen Sitze Riedberg, der, an eine sonnige Halde fernab von der Heerstraße sich lehnend, inmitten seiner blühenden Wiesen und wohlgepflegten Felder und Baumgärten ein Bild ländlichen Friedens darstellte.

Von ganzer Seele fürchteten und hofften und freuten sich dagegen mit dem Lande die Frauen von Cazis. Sie hatten, als das Aufgebot des Jürg Jenatsch erscholl, zum Sturm gegen die gottlosen Franzosen alle Klosterleute bis auf das letzte Knechtlein gestellt. Als fröhliche Geberinnen leerten sie ihren kleinen Weinkeller, um die vor die Rheinschanze und wieder heimwärts ziehenden Landstürmer zu tränken. Hallebarde und Morgenstern ruhten an den friedlichen Kreuzen des Nonnenkirchhofs. Alt und jung scharte sich längs der Klostermauer und die frommen Schwestern eilten leichtfüßig auf und nieder, in kleinen hölzernen Schalen ihren Most und Wein bis zur Neige ausschenkend.

Niemand aber ahnte in dem durch den Abzug der Franzosen mit hellem Jubel erfüllten Domleschg, welchen Anteil Fräulein Lucretia an den geheimen Verhandlungen genommen, die den Handstreich in Chur möglich gemacht hatten. Nicht einmal die Frauen in Cazis, obschon sie den Verkehr mit dem Fräulein nach dem Wunsche ihres Beichtigers immer eifriger und zutulicher pflogen. Nicht daß Pancraz den eigensüchtigen Gedanken in ihnen genährt hätte, die Letzte der Planta von Riedberg unwiderruflich in den Ring des Klosters zu ziehen. Sie verkehrten mit Lucretia, der Weisheit des Paters vertrauend, ohne sie mit Fragen oder mit Bitten zu bestürmen, die auf ihre Zukunft und die Hoffnungen des Klosters Bezug hatten, schon aus geselliger Neigung und natürlicher Gutherzigkeit. – Das Fräulein hätte sie gedauert, wenn es von den merkwürdigen Dingen, die sich im Lande zutrugen und die sie selbst auf den verschiedensten Wegen erfuhren, nicht ungesäumt unterrichtet worden wäre.

Freilich wäre es der Schwester Perpetua gegen die Natur gegangen, sich nicht mindestens bei Lucas über die letzte lange Abwesenheit des Fräuleins jenseits der Berge einiges Licht zu verschaffen, hätte sie nicht aus der allerbesten Quelle, einem Briefe des Paters Pancratius selber, schon im Winter erfahren, daß unangenehme[536] Erb- und Familienangelegenheiten, über die man besser nicht mit ihr spreche, die Gegenwart Lucretias in Mailand notwendig machten.


Lucretias Fahrt nach Mailand im vergangenen Jahre war ihr schwer geworden, aber sie hatte das von Jenatsch ihr vorgehaltene Ziel standhaft verfolgt und durch die Festigkeit ihres Willens auch erreicht. Nicht die Mühsale des zweimaligen Überschreitens der im Winter gefährlichen Bergpässe hatten ihren Mut auf die größte Probe gestellt; diese Schrecknisse hatte die kräftige Frau, geleitet von dem treuen wetterharten Lucas und einem seiner berggewohnten Söhne, ohne Zagen und Ermüdung überwunden. Anders aber war es, als sie, von dem geschäftigen Pancraz in Malland empfangen und bei Serbelloni eingeführt, sich dem klugen und zähen Staatsmanne gegenüber befand und fühlte, daß sie sich auf ein ihr fremdes Gebiet verirrt, in bisher noch nicht von ihr erwogene Fragen sich verwickelt habe.

Ihre Stellung als Bevollmächtigte des bündnerischen Kriegsobersten war eine höchst eigentümliche und mußte in den Augen aller der Verhältnisse Unkundigen als eine zweideutige erscheinen. Serbelloni, der sie kannte und wußte, daß der Mörder ihres Vaters ein Gegenstand des Hasses für sie war, verfiel nicht in diesen Irrtum und fand es begreiflich, daß sie die politischen Ziele ihres Vaters und ihres Oheims mit Aufbietung aller ihrer Kräfte verfolge; aber er geriet in einen andern.

Er glaubte, sie sei von Anfang an mit den Umtrieben der Bündnerflüchtlinge von der spanischen Partei vertraut gewesen, und wollte mit ihr als mit einer in das ganze Gewebe der sich kreuzenden Interessen Eingeweihten verkehren. Er brachte die Unschuldige mit ihrem alles um sich her durch den Hauch seiner Schlechtigkeit befleckenden und vergiftenden Vetter in unverdiente Beziehung politischen Einverständnisses; er verwirrte sie, ohne sie verletzen zu wollen, mit Mitteilungen über den Lohn und Anspielungen auf die Ehren, welche er den in der angeknüpften Intrige erfolgreich Handelnden zudachte, er wies auf die glänzenden Aussichten hin, die das Gelingen vor ihnen öffnete, und er ahnte nicht, daß dabei eine steigende Verachtung der niedern Schliche und geheimen Mittel der Politik sich Lucretias bemächtigte.

Auch Georg Jenatsch erschien ihr in einem andern Lichte; ihr Vertrauen auf seine reine Vaterlandsliebe wurde von dem allgemeinen Ekel, den sie empfand, angefressen und ihr Glaube an[537] die Einheit seines Wesens erschüttert, ohne daß sie augenblicklich sich ganz bewußt wurde, wie durch diese Zweifel ihr Verhältnis zu ihm sich innerlich trübe.

Was sie aufrecht hielt, war ihre Treue an sich selbst. Sie hatte versprochen, von den ihr übergebenen fünf Bedingungen in keiner Weise abzuweichen und sich keinen Punkt davon abmarkten zu lassen. Dabei blieb sie unerschütterlich. Das Andenken ihres Vaters verließ sie niemals. Sie stärkte sich in Momenten der Erschöpfung an seinem geistigen Anblicke und je ausschließender sie in der Erinnerung mit ihm verkehrte, desto lebendiger ward sie sich bewußt, daß sie in seinem Geiste handle, wenn sie zum Abschlusse des von Jenatsch entworfenen Vertrages mitwirke.

Nachdem sie als williges und treues Werkzeug ihre Aufgabe erfüllt und mit den von Spanien gewährten und unterzeichneten Bedingungen das Gebirge wieder überschritten hatte, kehrte sie in die Stille von Riedberg zurück und wartete dort, bis ihr die Schriften, die sie verwahrte, – durch die Vermittelung des Klosters Cazis, vermutete sie – abverlangt würden.


So war der März gekommen. Da erschien eines Abends bei einbrechender Nacht Jenatsch selbst wieder auf Riedberg. Ein Brief des Paters Pancraz hatte ihm aus Malland gemeldet, daß Lucretia abgereist sei und die ihr gewährten spanischen Vollmachten auf ihrem Schlosse bewahre und hüte. Nun kam er, um die von Serbelloni unterzeichneten Papiere aus ihrer Hand zu empfangen.

Als er eintrat, pochte Lucretias Herz mit schweren Schlägen, aber vor jähem Schrecken mehr als vor Freude.

Noch einmal war eine Verwandlung mit ihm vorgegangen! Was heute aus seinen Augen blitzte war nicht mehr der jugendliche Übermut von früher, war nicht die vor keinem Hindernisse zurückweichende Sicherheit, mit welcher er, seit sie ihn wieder kannte, ihr entgegengetreten, es war etwas Maßloses in seinem Wesen, eine gereizte Gewaltsamkeit in seiner Stimme und Haltung, als hätte eine übermenschliche Kraftanstrengung ihn aus dem Geleise und über die letzten seiner Natur gesetzten Marksteine hinausgeworfen.

Eine wilde Freude flammte über sein Antlitz, als er endlich die Schriften hielt und durchflog. Er wollte in seinem Triumphe die Kniee seiner Botin umfassen; aber Lucretia trat stolz und zitternd zurück.[538]

Da streckte er die Hand gen Himmel und rief in herausforderndem Jubel: »Ich schwöre es, Lucretia, wenn das gelingt, soll mir fortan nichts unmöglich sein! . . . Müßt ich auch das Blut deines Vaters durchschreiten – müßt ich dem Racheengel das Schwert aus den Händen reißen, um dich zu besitzen, du längst – du immer Begehrte!«

Lucretia faßte seine Hand und trat mit ihm durch eine schmale Pforte in einen gewölbten Nebenraum, ein enges Gelaß, dessen Rückwand durch einen ungebrauchten altertümlichen Kamin ganz gefüllt und durch ein grob darauf gezeichnetes Kreuz verunziert war.

»Auf Riedberg wird keine Hochzeit gefeiert!« sagte sie und flüchtete sich dann, das Antlitz mit den Händen bedeckend, in ihr innerstes Gemach.


Als wenige Wochen später der Verrat an Herzog Rohan und die Befreiung Bündens eine Tatsache wurde, von der das ganze Land erscholl, beschlich Lucretia in ihrer Einsamkeit das bange Gefühl, als sei sie durch ihre verborgene Mithilfe mit Georg Jenatsch auf immer und ewig verbunden, teilhaftig seiner rettenden Tat, teilhaftig auch seiner Schuld. Unauflöslich war sie mit ihm vereinigt im Augenblicke, da ihr Herz vor ihm zu erschrecken begann und sie, um in ihrem Gemüte eine Schutzwehr gegen ihn aufzurichten, sich täglich zurückrief, daß die Pflicht ihres Lebens noch nicht erfüllt und der Geist ihres Vaters durch die ihm gebührende Blutsühne noch nicht geehrt sei.

Zu Ende Mai nach dem Abzuge des Herzogs aus Bünden wurde Lucretia durch einen flüchtigen Besuch ihres verabscheuten Vetters beunruhigt. Er deutete ihr an, er müsse schleunig nach Mailand zurückkehren. Dort befinde sich Jenatsch und verhandle persönlich mit Serbelloni die letzten endgültigen Bestimmungen über die Stellung Bündens zu Spanien. Durch seinen charakterlosen Parteiwechsel und seine trügerische Beredsamkeit gewinne der Oberst auf den Gubernatore einen verhängnisvollen Einfluß, welcher die Interessen der alten spanischen Partei in Bünden gefährde und ihn selbst der Früchte seiner langjährigen Treue an Spanien beraube. Rudolf fügte bei, es sei die höchste Zeit, daß er sein Heimatsrecht und seine Stellung im Lande wiedergewinne. Das hoffe er bei den Verhandlungen in Mailand durchzusetzen. Er wäre der Verwendung Serbellonis zu seinen Gunsten gewiß, wenn ihm Lucretia, welcher der Gubernatore[539] von früher her huldvoll gewogen sei, ihre Hand reiche, und er durch die Verbindung mit ihr das berühmte Geschlecht der Planta zu Riedberg wieder emporbringe. Er wisse wohl, meinte Rudolf, an welche Bedingung Lucretia ihr Jawort knüpfe – an die Vollziehung ihrer Blutrache an Jenatsch – und diese Bedingung werde er erfüllen, was ihm jetzt leichter sei als früher, da sich die Feinde des Obersten aus den verschiedensten Gründen gemehrt hätten und noch täglich sich mehrten. Zuerst aber müsse dieser den Vertrag mit Spanien endgültig abgeschlossen haben, denn Jenatsch allein sei es imstande. –


So zog er über das Gebirge.


Der Eindruck seiner Gegenwart war für Lucretia ein häßlicher und beunruhigender gewesen. Doch achtete sie Rudolfs Persönlichkeit zu gering, als daß seine Pläne sie ernstlich erschreckt oder nur beschäftigt hätten. Das Begegnis haftete nicht lange in ihrem Gemüte, denn ihre Seele war von andern bangen Zweifeln bewegt.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 536-540.
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