Zehntes Kapitel

[532] Kaum erglühten die Turmspitzen von Chur im ersten Morgengolde eines wolkenlosen Maitages, als es schon vor den Stadtmauern und in der langen Gasse, die vom Sprecherschen Hause zum Nordtore führte, lebendig wurde. Französische Offiziere sprengten hin und her, aus der Stadt nach dem Lager, dessen Zelte schon abgebrochen waren, und von den marschfertigen[532] Truppen zurück zum Herzog, um ihn als ein glänzendes Gefolge zu umringen und in ihm die französische Ehre, die, wie es ihnen schien, in diesem Lande Schaden gelitten, mit ihren kriegerischen Gestalten zu decken.

In der Straße, die Rohan durchreiten sollte, standen die Churer barhaupt in zwei gedrängten Reihen längs der Häuser, und alle Fenster bis zu den Dachluken hinauf waren mit neugierigen Köpfen gefüllt. Alles Volk wollte den guten Herzog noch einmal sehen und begleitete ihn mit Wünschen und aufrichtigen Tränen.

Als er an der Spitze seines stolzen Zuges langsam dem Tore sich näherte, fand er einen löblichen Rat und die Geistlichen der Stadt zu seiner Rechten aufgestellt. Die Herren hatten sich in vollem Ornat jeder nach seinem Range auf den Stufen einer breiten Freitreppe verteilt, die zu der Pforte eines patrizischen Hauses führte. Beide Türflügel standen weit offen und im Flur wurden in schwarze Seide gekleidete Frauengestalten sichtbar, die Gattinnen und Töchter der Würdenträger, welchen ihre Stellung erlaubte, über die Häupter der Stadt hinweg dem Herzog, den sie mit Schmerzen scheiden sahen, einen letzten Gruß zuzuwinken. Ihr Zartgefühl hatte ihnen verboten, sich wie bei einem lustvollen Schauspiele auf dem Balkon und in den Fenstern zu zeigen.

In der Mitte der Ratsherren fiel der Amtsbürgermeister Meyer als wahrhaft imposante Erscheinung ins Auge. Nie hatte eine bürgermeisterliche Kette mit ihrer großen runden Schaumünze bequemer gelegen und selbstzufriedener geleuchtet, als die auf seiner breiten Brust ruhende; nie hatten ein seidener Strumpf und ein Rosettenschuh knapper und schöner gesessen als heute an seinem wohlgebildeten, feierlich vorgesetzten Beine. Bei näherer Betrachtung jedoch verriet die Befangenheit des gewöhnlich gesunden und ruhigen Gesichts und der bängliche Ausdruck der irrenden Augensterne einen geheimen Widerspruch seines Innern mit der magistralen Sicherheit seiner vollkommenen Haltung.

Der Gruppe der Standeshäupter gegenüber, wo sich die Ausmündung einer innerhalb der Stadtmauer laufenden Nebengasse zu einem kleinen viereckigen Platze erweiterte, hatten sich, als Repräsentanten der heimischen Waffen, die vornehmsten Bündneroffiziere versammelt und warteten zu Pferde, um sich dem Gefolge des Herzogs anzuschließen und ihm das Ehrengeleit bis[533] zur Grenze zu geben. Im Gegensatze zu der gedrückten Stimmung auf der anderen Seite der Gasse unter den Söhnen der Themis, herrschte hier unter den Kindern des Mars eine frische und beherzte, der sie sich unbefangen überließen, da sie sahen, daß der bündnerische Diktator zur Verabschiedung seines Opfers nicht erscheine.

Jetzt erreichte Herzog Rohan den Platz vor der Freitreppe. Huldvoll hielt er seinen schlanken Goldfuchs an, denn er sah, wie der Amtsbürgermeister einen goldenen Pokal erhob, den eben ein ergrauter Ratsherr an seiner Seite aus einer silbernen Kanne gefüllt hatte. Meyer trat entschlossen vor und bat den Herzog in gerührten Worten, den Seiner Erlaucht von der Stadt Chur mit Danksagung und Segenswunsch angebotenen Abschiedstrunk nicht zu verschmähen. Während Rohan sich die Lippen netzte, sammelte der Bürgermeister seinen Geist zu einer wohlgesetzten französischen Rede, auf die er sich sorgfältig vorbereitet hatte.

Bürgermeister Meyer war kein Redner. Im Rate und in der Gemeinde war es ihm ein leichtes, seine Gedanken schlicht und zweckdienlich auszudrücken und zu einem bündigen Schlusse zu gelangen. Aber es war ihm nicht gegeben, zwiespältige Gefühle und zweideutige Gedanken unter zierlichen Blumen der Beredsamkeit zu verbergen.

Er hatte damit begonnen, des Herzogs ruhmreiche Tapferkeit und seine erhabene staatsmännische Weisheit zu preisen, die beide zu Bündens Rettung wie zwei geflügelte Genien herbeigeeilt seien. Dann warf er einen Blick in den Abgrund, aus welchem der Herzog das bündnerische Volk gezogen habe. Jetzt kam eine dunkle Stelle, in der von sich überstürzenden Ereignissen, seltsamen himmlischen Konjunkturen und dem großen Herzen Ludwigs XIII. die Rede war. – Hier wurde Herr Meyer warm, übersprang unversehens die logischen Hindernisse und behauptete gerührt, die Zurückgabe des Veltlins an die Bündner durch Spanien-Österreich sei und bleibe das Verdienst des Herzogs Rohan. Er sei, nächst dem gütigen Gott, ihr alleiniger Helfer und Retter gewesen.

»Des Landes Dankbarkeit gegen Euch wäre nicht genugsam ausgedrückt, edelster Herr«, rief er aus, »wenn wir Euch so viele Ehrensäulen errichteten, als Bünden Felsen und Berge besitze! und wenn jeder unserer Berge eine Statua wäre ...« hier stocke der Redner und erstarrte selbst zum Steinbilde.[534] Ein verspäteter Reiter war durch die Nebengasse herangeeilt und auf dem kleinen Platze, dem Bürgermeister gegenüber, mitten unter die Bündneroffiziere hineingesprengt. Die Obersten wichen auf ihren stampfenden Tieren bestürzt nach beiden Seiten zurück. Auf das Kommen von Georg Jenatsch hatte keiner gerechnet. Und da war er! Auf seinem schäumenden Rappen in der Mitte des leeren Raumes, von allen gemieden!

Zugleich bäumte sich das Pferd des dicht hinter dem Herzog haltenden Lecques, der einen wütenden Blick nach Jenatsch hinüberschoß. Des Herzogs Augen ruhten mit höflicher Aufmerksamkeit auf dem Bürgermeister, aber diesem, der den verratbefleckten Befreier Bündens als eine grelle und unschickliche Verdeutlichung seiner Rede gerade vor Augen sah und dem die drohende Haltung des Herrn von Lecques nicht entgangen war, englitt der Faden seiner Rede. Seine angstvollen Blicke begannen mehr als gewöhnlich zu schielen und er fuhr unsicher fort: »Und wenn in Bünden jeder Berg eine Statua . . . und jede Statua ein Berg wäre . . .«

»Laßt es gut sein, lieber Bürgermeister!« schnitt der Herzog freundlich ab, und sich auf die andere Seite zu den Bündneroffizieren wendend, sagte er mit ruhigem Befehl: »Ich verzichte auf das Geleit der Herren. Es wird der Schicklichkeit Genüge geschehen, wenn einer von ihnen unserm Überschreiten der Grenze beiwohnt. Ich bitte mir die Gesellschaft des Grafen Travers aus.«

Der stille junge Mann mit dem braunen scharfgeschnittenen Kopfe lenkte sofort mit dankendem Gruße sein Tier zur Linken des Herzogs.

»Gott schütze euch und eure gute Stadt, werte Herren!« rief dieser, griff leicht an seinen Hut und sprengte durch das Tor in die lenzduftige Landschaft hinaus.

Der alte Lecques war auffallenderweise einer der letzten zurückgeblieben. Jetzt riß er sein Pferd herum, ritt Georg Jenatsch einige Schritte entgegen, zog ein Pistol und schrie ihn an: »So scheidet Lecques von einem Verräter!«

Er drückte los, der Hahn schlug nieder, ein Pulverblick flammte auf der Zündpfanne, doch der Schuß versagte.[535]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 532-536.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Jürg Jenatsch
Jürg Jenatsch (German Edition)
Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte (bb-Taschenbuch 457)
Jürg Jenatsch: Eine Bündnergeschichte
Jürg Jenatsch; eine Bündnergeschichte