Viertes Kapitel

[490] Als der Oberst Jenatsch zur Zeit des Sonnenuntergangs die für die kurze Ruhe des Herzogs bereitete Wohnung betrat, fand er, die Steintreppe hinaneilend, in der offenen Vorhalle des ersten Stockes den zürcherischen Locotenenten. Mit der Wachsamkeit einer bissigen Dogge hütete Wertmüller die Türe seines Feldherren vor jedem unbefugten Eindringen.

Eben durchschritt eine schlanke feine Gestalt, abschiednehmend, leisen Fußes die Halle, der herzogliche Privatsekretär Priolo, den der Adjutant mit bösen Blicken begleitete – denn er war in seiner stachlichsten Laune – und mit stillen Wünschen, die offenbar keine Segenswünsche waren.

»Aus welcher Himmelsgegend hat der Wind diesen hergeweht?« fragte der Oberst mit gedämpfter Stimme. »Er ist, soviel ich weiß, nicht mit dem Herzog über den Berg gekommen.«

»Er wurde schon vor einer Woche nach Chur vorausgesandt um die neuesten Pariser Depeschen abzuholen, nach denen der Herr Verlangen trug«, versetzte Wertmüller.

»Und sie sind in des Herzogs Händen?« fragte Jenatsch leise und mit ungewohnter Hast, denn sein Herz fing an zu pochen. »Kennt Ihr den Entscheid? Ist die Unterschrift des Königs da?«

»Ich kenne nur meine Ordre«, sagte der andere unhöflich, »und diese ist, den Obersten Jenatsch ohne Zeitverlust einzulassen.«

Wertmüller schritt voran in ein vom Widerschein des Abends erhelltes wohnliches Zimmer, dessen Fenster auf die sonnig leuchtenden Halden und herbstlich geröteten Wälder des schönen Heinzenbergs hinausschauten. Der Oberst trat in den kleinen Erker, während Wertmüller sich leise in ein Nebenzimmer begab, wo der Herzog noch ausruhte.

»Es belieb Euch einen Augenblick zu warten!« schnarrte zurückkommend der Locotenent, der sich unverzüglich wieder auf seinen Posten in der Vorhalle zurückzog.

Der Blick des Alleingebliebenen haftete auf einer geöffneten Ledertasche und zwei daneben auf den Tisch geworfenen, entsiegelten Briefen. Die Federzüge, welche sie bargen, entschieden über das Wohl oder Wehe seines Landes.

Jetzt öffnete sich langsam die Türe der Kammer und Heinrich Rohan erschien blaß und hager auf der Schwelle. Mit einer unwillkürlichen, freudigen Bewegung schritt er dem Bündner entgegen, der dem hohen Herrn in raschem Diensteifer einen tiefen[490] Lehnstuhl neben das Fenster rückte, wo der Blick des Reisemüden sich an der goldenen Abendruhe seines Berges erquicken konnte. Der Herzog ließ sich mit jetzt sichtbar werdender Abspannung nieder und richtete sein klares Auge auf Georg Jenatsch; dann begann er mit leiser Stimme und in fragendem Tone: »Ihr kommt von Finstermünz?«

Dieser hatte sich ehrfurchtsvoll vor den in den Sessel Zurückgelehnten gestellt und betrachtete unverwandt die edlen Züge welche in mehr als einer Weise ihm verändert erschienen. Neben den erwarteten Spuren der schweren Krankheit befremdete ihn darin ein tief eingegrabener Zug verschwiegenen, hoffnungslosen Grames, der peinlich hervortrat, wenn der Herzog seinen lautern strahlenden Blick zeitweise senkte.

Jenatsch brannte vor Begierde zu erfahren, ob der von ihm mit rastloser Anstrengung in Bünden durchgesetzte Vertrag in St. Germain durch die Unterschrift des Königs endgültig geworden sei; aber diesem Antlitze gegenüber hatte der sonst vor nichts Zurückschreckende keinen Mut zur Frage. Er begnügte sich auf des Herzogs Erkundigung zu antworten und ihm einen genauen Bericht über die Feststellungen der Grenze zwischen Tirol und Unterengadin zu geben, wie sie während des Waffenstillstandes gelten sollten.

»Die Österreicher sind langsam und umständlich; ich wurde hingehalten und bis nach Innsbruck gezogen«, sagte er. »Wär ich im Lande gewesen, niemals hätten mir meine störrischen Kameraden ohne Euren Befehl, erlauchter Herr, ihre Posten verlassen, niemals Euch in Thusis als erste Begrüßung den widerwärtigen Anblick ihres Ungehorsams entgegengebracht.

Einen schlimmern Ausbruch vor Euern Augen«, schloß er zögernd, »habe ich nur mit Mühe verhütet und indem ich mich, da mir kein anderes wirksames Mittel mehr zu Gebote stand, meinen Kameraden mit Hab und Gut für den rückständigen französischen Sold verbürgte. Ich hoffe, daß Ihr mir meine ungemessene Ergebenheit nicht verargen werdet!« fügte er schmeichelnd hinzu.

Der Herzog lehnte, zusammenzuckend, tiefer in die Kissen zurück und der schmerzliche Zug in seinem Angesichte trat schärfer hervor. Es durchblitzte ihn der Gedanke, welche gefährliche Gewalt in die Hand des Menschen falle, dem er einen so unerhörten, von ihm nie begehrten Dienst schulde. Aber er hielt an sich.[491]

»Ich danke Euch, mein Freund«, sagte er, »Ihr sollt nicht zu Schaden kommen, solange ich selber noch etwas besitze. Ich fürchte, Lasnier, den ich zur Beruhigung der Obersten mit Geldern an sie voraussandte, hat im Verkehr mit ihnen nicht den rechten Ton getroffen.«

»Er hat sie aufs tiefste beleidigt. Darin muß ich zu ihnen stehn, erlauchter Herr, und mit ihnen verlangen, daß er abberufen werde. Nicht seine Zornausbrüche, noch seinen unsere Personen treffenden Spott will ich ihm verdenken; aber daß er, wie ich aus sichrer Quelle weiß, unserm Vaterlande das Recht bestreitet, überhaupt dazusein, weil es ein kleines Land ist, und diese vernichtende Behauptung uns auf unserm eigenen Bündnerboden entgegenwirft, daß er uns als ein verachtetes Anhängsel Frankreichs behandelt, das dreht jedem Bündner das Herz um, und unmöglich ist es, daß ein solcher Mann länger unser Brot esse und unsern Wein trinke!

Tut mir die Liebe, edler Herr«, bat er in gemäßigtem Tone, »und sorgt für seine Abberufung.« –

»Lasniers Abberufung ist auch mein entschiedener Wunsch, den der Kardinal ohne Zweifel erfüllen wird. Betrachtet es als abgetan.

Um auf Wichtigeres zu kommen«, lenkte Rohan ab, der die auflodernde Vaterlandsliebe des Bündners in diesem Momente der Abspannung zu scheuen schien, »Ihr waret in Innsbruck, da habt Ihr wohl etwas von der Stimmung des erzherzoglichen Hofes gegen uns erfahren. Gedenken uns die Österreicher noch einmal im Veltlin anzugreifen?«

»Dazu sind Eure Lorbeeren noch zu frisch, erlauchter Herr. Solange Eure Hand den Feldherrnstab führt, dürfen sie's nicht wagen. – Aber«, der Bündner seufzte tief, »laßt mich mein ganzes Herz vor Euch ausschütten! Bei der falschen Kunde von Eurem Hinscheiden regte sich wieder alles kriechende Gewürm der Kabale und unsere Landesverbannten von der spanischen Partei fingen wieder an, unterirdisch zu wühlen. Diese ekeln Totengräber glaubten schon, Bündens zwei höchste Kleinodien: Eure geliebte Person und seine teure Freiheit, deren Bürge Ihr seid, in die gleiche Gruft versenkt.

In Innsbruck«, fuhr er nach einer beobachtenden Pause mit unverhehlter Bewegung fort, »glaubt man auch jetzt, da Gott Euch uns wieder zum Leben erweckt hat, nicht an den Vertrag von Chiavenna. Wie hätten sie es sonst gewagt, mir spanischerseits[492] Bündens Unabhängigkeit in seinen alten Grenzen als Preis unserer Trennung von Frankreich anzubieten, ja versucht, mich durch gemeines Gold von Euch zu scheiden! . . . Ich beschwöre Euch, edler Herr, macht diesen Vorspiegelungen ein Ende, indem Ihr die zwischen uns vereinbarte und von Eurem König unterschriebene Akte allem Volke kundgebt. Sonst wird Bünden an Frankreichs Absichten irre, die spanischen Versprechungen verwirren die Gemüter und wir versinken wieder in das Blutbad des Bürgerkrieges, aus dem Ihr uns emporzogt!«

Der Herzog antwortete nicht. Er erhob sich rasch, trat ans Fenster und blickte nachdenklich in die Berglandschaft hinaus, deren untere Stufen im Schatten lagen, während die höchst gelegenen Weiler noch in der Sonne glitzerten.

»Gott weiß, wie lieb mir dieses Land ist«, wandte er sich jetzt zu Jenatsch, »und wie gern ich alles daransetze, um es wieder glücklich und frei zu machen! . . . Darum versteht niemand besser als ich Eure eifersüchtige Vaterlandsliebe, auch wo sie sich ungeduldig und rauh, und heute mir, dem redlichsten Freunde Bündens gegenüber, ehrlich gestanden, grausam äußert. Doch gebt Ihr mir zugleich so überzeugende Beweise von Eurer Aufopferung und Treue, da Ihr bei Euren Kameraden für Frankreichs Ehrenhaftigkeit mit all dem Euern einsteht und mir die von Spanien versuchten Intrigen und Bestechungen aufdeckt, daß ich glaube, Euch volles Vertrauen schenken und auch in den schwierigsten Fällen auf Eure sichern Dienste zählen zu dürfen. – Darf ich das, Georg, auch wenn ich Euch viel Geduld und Selbstverleugnung zumute?«

»Wie konntet Ihr an mir zweifeln?« sagte Jenatsch mit leidenschaftlicher Wärme und einem Blicke schmerzlichen Vorwurfes.

»Offenheit also gegen Offenheit«, fuhr Rohan fort und legte die Hand auf des Bündners Schulter, »Vertrauen gegen Vertrauen. – Es ist mir peinlich auszusprechen: Der Vertrag von Chiavenna ist von Paris zurückgekommen ohne Unterschrift und mit Änderungen, die ich nicht billige, die ich Eurem Volke nicht zumuten und nicht vorschlagen will.«

Bei diesen traurig und leise gesprochenen Worten sah der Herzog dem Bündner in das ausdrucksvolle Gesicht, wie nach der Wirkung des ungern gemachten Geständnisses forschend. Es blieb unbewegt, aber überzog sich langsam mit fahler Blässe.

»Und welches sind diese Änderungen, gnädiger Herr?« fragte Jenatsch nach kurzem Schweigen.[493]

»Zwei Hauptpunkte: Französische Besatzungen in der Rheinschanze und im Veltlin bis zum allgemeinen Frieden und für die in diesem katholischen Landesteile begüterten protestantischen Bündner Beschränkung ihres dortigen Aufenthalts auf jährlich zwei Monate.«

Ein unheimliches Wetterleuchten flog durch die Züge des Bündners, dann sagte er fast gelassen: »Das eine ist unsere politische Auslieferung an Frankreich, das andere ein unerträglicher Eingriff in die Verwaltung unseres Eigentums. Beides sind unmögliche Bedingungen.«

»Auch dürfen sie nicht im Vertrage stehen bleiben«, sagte Rohan mit Bestimmtheit. »Ich will meinen ganzen persönlichen Einfluß beim Könige in die Waagschale werfen, will meine ganze Überredungsgabe erschöpfen, den Kardinal über den entscheidenden Ernst der Lage aufzuklären, will nichts unversucht lassen, die verderbliche Einwirkung des Paters Joseph zu lähmen, denn dieser, vermut ich, ist der Böse, der Unkraut unter unsern Weizen sät. Wegen des schnöden roten Hutes, wonach dieser Kapuziner gelüstet, und für den er dem Heiligen Stuhle eine Berücksichtigung in der Politik meines edlen Vaterlandes verschaffen soll, die einer fremden Macht nicht gebührt, darf das Ehrenwort eines Rohan keinen Schaden leiden. Schon habe ich beschlossen meinen geschickten Priolo nach Paris zu senden mit dringenden Briefen an den König selbst und an den Kardinal. Morgen wird er abreisen. Gehorchte ich meinem verletzten persönlichen Ehrgefühle, wahrlich heute noch legte ich mein Kommando nieder; aber das darf ich nicht um euretwillen. Ich zweifle, daß meine Liebe zu euch und meine persönlichen Verbindlichkeiten mit meinem Feldherrnstab auf meinen Nachfolger in Bünden übergingen.«

»Das tut uns nicht an!« rief Jenatsch erschrocken, »bei Euerm Heil – nein, bei dem unsern beschwör ich Euch – tut es nicht! Lasset nicht das Werk Eurer Hände! Stoßt uns nicht in einen solchen Abgrund der Ratlosigkeit!«

»Darum will ich bis ans Ende ausharren«, fuhr der Herzog mit einer Festigkeit fort, wie sie die klar erkannte Pflicht gibt. – »Aber wißt, Jenatsch, von Euch erwarte ich hier im Lande alles. Durch mein grenzenloses Zutrauen seid Ihr in meine Sorgen und in die Schwankungen des Loses eingeweiht, das ich im festen Glauben war Eurer Heimat schon gesichert zu haben. Ihr seid es allein. Ich weiß, Ihr ehret mein Vertrauen durch unverbrüchliches[494] Schweigen. Beruhigt Eure Landsleute. Ich sehe, welche außerordentliche, ja wunderbare Macht Ihr auf die Gemüter ausübt. Schaffet Frist! Haltet den Glauben an Frankreich aufrecht! Versichert Eure Bündner, daß der Vertrag von Chiavenna, wenn auch heute noch nicht verkündet, doch in Bälde in Kraft treten muß, und Ihr werdet bei der Wahrheit bleiben, denn mit Gottes Hilfe überwinden wir die Widerwärtigen. – Heute nacht noch zieh ich weiter nach Chur. Bringt mir dorthin bald über die Stimmung des Landes Bericht.«

Jenatsch bückte sich tief über die Hand des Herzogs, und suchte dann noch einmal sein Auge mit einem Ausdrucke sprachlosen Schmerzes. Rohan sah in diesem langen seltsamen Blicke die Teilnahme eines Getreuen an seinem ausnahmsweise herben Lose er ahnte nicht, welche Wandlung sich im Geiste des Bündners zu dieser Stunde vollzog und daß Georg Jenatsch nach innerm schweren Kampfe sich von ihm lossagte.

»Ihr tut wohl, edler Herr«, sagte der Oberst, sich beurlaubend, »in der guten Stadt Chur Euern Sitz zu nehmen. Ihr seid dort hochgeliebt, und solange die Churer Euer Angesicht sehen, und Ihr es seid, o Herr, der den König in Bünden vertritt, wird das Land nicht aufhören von Frankreich das Beste zu hoffen.«


Der Herzog sah dem Scheidenden sorgenvoll nach, ohne Mißtrauen, aber im Gefühle, daß, wie er selber eine Zuversicht an den Tag gelegt, die nicht in seinem müden Herzen war, auch der Bündner die Stürme seines unbändigen Gemüts niedergehalten und vor ihm verheimlicht habe. Er blickte noch eine Weile, im Innersten entmutigt und traurig, hinüber an den dunkelnden Berg. Eine Klage entwand sich seiner Brust: »Herr«, seufzte er, »warum hast du deinen Diener nicht in Ehren dahinfahren lassen!«

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 490-495.
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