Flut und Ebbe

[99] In einem fernen umbrandeten Land

Spielen die Mädchen ein Spiel an dem Strand,

Schreiten im Reigen, heiter gesinnt,

Wann zu steigen die Flut beginnt,

Weichen zurück in gemeßner Flucht

Aus der schwellenden Meeresbucht.

In den Gewässern ruhigklar

Werden sie krause Gestalten gewahr,

Rollt eine Woge, sie sehen ein Roß,

Sehn einen Reiter, bis er zerfloß.

»Schauet den Meermann! Garstig Gesicht!

Grinzende Larve, du haschest mich nicht!«

Aber das Meer es wächst und naht –

»Fliehet, ihr Schwestern! Sonst wird's zu spat!«

Alle sie stürzen in hastigem Lauf,

Gleiten, und reißen die Strauchelnden auf

Bis zu der Bank, wo die Ebbe beginnt,

Wo, wie sie wissen, das Wasser zerrinnt.

Dort ist gelagert der flüchtige Chor,

Zieht an dem Felsen die Füße empor,

Fleht in den Himmel mit brünstigem Schrein:

»Götter! ihr lasset die Unschuld allein?«

Aber die Flut, da den Raub sie berührt,

Hat das Verhängnis des Ebbens gespürt,

Und, wie erschreckt durch das maidliche Ach,

Gleitet sie nieder und fällt gemach! –

Gegen die Ziehnde mit drohendem Arm

Hebt sich verfolgend der blühende Schwarm:

»Höhnet die Feigen! Sie fliehn aus dem Krieg!

Kränzet die Locken und feiert den Sieg!«


Also vergnügt sich das sterbliche Heer

Mit dem gelaßnen, dem ewigen Meer.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 99-100.
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