Venedig

[84] Venedig, einen Winter lebt ich dort –

Paläste, Brücken, der Lagune Duft!

Doch hier im harten Licht der Gegenwart

Verdämmert mählich mir die Märchenwelt.

Vielleicht vergaß ich einen Tizian.

Ein Frevel! Jenen doch vergaß ich nicht,

Wo über einem Sturm von Armen sich

Die Jungfrau feurig in die Himmel hebt,[84]

So wenig als den andern Tizian –

Doch kein gemalter war's – die Wirklichkeit:

Am Quai, dem nächt'gen, der Slavonen war's.

Im Dunkel stand ich. Fenster schimmerten.

Zwei dürft'ge Frauen kamen hergerannt.

Hart an die Scheibe preßt' das junge Weib

Die bleiche Stirn. Was drinnen sie erblickt,

Das sie erstarren machte, weiß ich nicht.

(Vielleicht den Herzgeliebten, welcher sie

An eines andern Weibes Brust verriet.)

Ich aber sah den feinsten Mädchenkopf

Vom Tod entfärbt! Ein Antlitz voller Tod!

Die Mutter führte weg die Schwankende...

Die beiden Tiziane blieben mir

Stets gegenwärtig; löschen sie, so lischt

Die Göttin vor dem armen Menschenkind.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 84-85.
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