Pentheus

[119] Sie schreitet in bacchisch bevölkertem Raum,

Mit wehenden Haaren ein glühender Traum,

Von Faunen umhüpft,

Um die Hüfte den Gürtel der Natter geknüpft.


Melodisch gewiegt und von Eppich umlaubt,

Ein flüsterndes rücklings geworfenes Haupt –

»Ich opfre mich dir.

Verzehre, Lyäus, was menschlich in mir!«


»Agave!« ruft's, und der bacchische Schwarm

Zerstiebt und der Vater ergreift sie am Arm.

»Weg, trunken Gesind!

Erwach und erröte, verlorenes Kind!


Du dienst einem Gaukler!« Im Schutz des Gewands

Verhüllt er den Busen, entreißt ihr den Kranz –

Wild hebt sie den Stab.

Sie schlug! Aufstöhnt, der das Leben ihr gab.


»Ich glaube den Gott! Ich empfinde die Macht!

Ich strafe den Frevler, der Götter verlacht!

Wer bist du, Gesicht?

Ich bin die Bacchantin! Ich kenne dich nicht!«


Er betrachtet sein Kind. Er erstaunt. Er erblaßt.

Er entspringt, von entsetzlichem Grauen erfaßt.

Er flieht im Gefild,

Ein rennender Läufer, ein hastendes Wild.


»Herbei, alle Schwestern! Mänaden, herbei!«

Erhebt sie den Weidruf, das helle Geschrei.

»Zur Jagd! Zur Jagd!«

– »Wir folgen dir, blonde, begeisterte Magd!«


Sie jagen den König, Agave vorauf,

Er stürzt in den Strom und erneuert den Lauf

Am andern Gestad,

Auf spritzen die Wasser, sie springen ins Bad.
[120]

Er wirbelt mit bebenden Füßen den Staub,

Es dämmert – die Bacchen verfolgen den Raub –

Es dämmert empor

Ein Fels ohne Pfad, eine Wand ohne Tor.


Er steht und er starrt an die grausige Wand,

Da trifft ihn der Thyrsus in rasender Hand –

Nacht schwebt heran

Und erschrickt und verhüllt, was Agave getan.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 119-121.
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