Frau Agnes und ihre Nonnen

[172] Ein Klosterhof, ein Lenzestag!

Ein schwarzer Lindenschatten,

Wo der gekrönte Habsburg lag

Erstochen auf den Matten.


Frau Agnes, die gestrenge Frau,

Des Vaters Blut zu rächen,

Rief mordend aus: »Ich bad in Tau!«

Und schritt in roten Bächen.


Sie freute sich in warmes Blut

Die Knöchel einzutauchen,

Sie warf in stille Dörfer Glut,

Sie ließ die Burgen rauchen.


Nachdem Gericht gehalten war,

Vollbracht die Totenfeier,

Verbarg sie das Medusenhaar

Mit einem Nonnenschleier.


Sie schuf ein Kloster, wo hervor

Aus Grüften Geister schweben,

Sie füllt mit Blumen an den Chor,

Mit lauter jungem Leben:


Sie raubt das krause Blondgelock

Manch einem Edelkinde,

Beschert ihm einen schwarzen Rock

Und eine blanke Binde.


Sie geißelt sich den weißen Leib,

Bis rote Tropfen rinnen,

Sie will, das unbarmherz'ge Weib,

Den zarten Heiland minnen.


Dort sitzt sie unter Lindennacht

Am kühlen Klosterbronnen,

Sie hat die Bibel mitgebracht

Zur Andacht ihrer Nonnen.
[173]

Am Gatter lauschen Kinder scheu

Mit frisch gepflückten Veilchen,

Ein Weiblein hinkt mit Holz vorbei,

Bückt tief sich vor den Heil'gen.


Dem jüngsten Nönnchen gibt das Buch

Sie jetzt, der lieblich Bleichen:

»Wir blieben bei Sankt Pauli Spruch.

Sieh her! Da steckt das Zeichen!«


Die Zarte, die das Buch empfing,

Beschaut Sankt Paulum denkend.

Sie liest. Ihr lauscht der Schwestern Ring,

Die Wimper züchtig senkend –


»Was frommte mir die Fastenzeit,

Was frommten Geißelhiebe,

Was frommt' es, trüg ich hären Kleid,

Und mangelte der Liebe?«


Da schwellt ein Seufzer manche Brust

Im Nonnenrock erbaulich,

Und manche kecke Lebenslust

Blickt traurig und beschaulich...


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 172-174.
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