Michelangelo und seine Statuen

[184] Du öffnest, Sklave, deinen Mund,

Doch stöhnst du nicht. Die Lippe schweigt.

Nicht drückt, Gedankenvoller, dich

Die Bürde der behelmten Stirn.

Du packst mit nerv'ger Hand den Bart,

Doch springst du, Moses, nicht empor.

Maria mit dem toten Sohn,

Du weinst, doch rinnt die Träne nicht.

Ihr stellt des Leids Gebärde dar,

Ihr meine Kinder, ohne Leid!

So sieht der freigewordne Geist

Des Lebens überwundne Qual,

Was martert die lebend'ge Brust,

Beseligt und ergötzt im Stein.

Den Augenblick verewigt ihr,

Und sterbt ihr, sterbt ihr ohne Tod.

Im Schilfe wartet Charon mein,

Der pfeifend sich die Zeit vertreibt.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 184.
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