Die Karyatide

[211] Im Hof des Louvre trägt ein Weib

Die Zinne mit dem Marmorhaupt,

Mit einem allerliebsten Haupt.

Als Meister Goujon sie geformt

In feinen Linien, überschlank,

Und stehend auf dem Baugerüst

Die letzte Locke meißelte,

Erschoß den Meister hinterrücks

(Am Tag der Saint-Barthelemy)

Ein überzeugter Katholik.

Vorstürzend überflutet' er

Den feinen Busen ganz mit Blut,

Dann sank er rücklings in den Hof.

Die Marmormagd entschlummerte

Und schlief dreihundert Jahre lang,

Ein Feuerschein erwärmte sie

(Am Tag, da die Kommüne focht).

Sie gähnt' und blickte rings sich um:

Wo bin ich denn? In welcher Stadt?

Sie morden sich. Es ist Paris.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 211.
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