LXVI
Das Kreuz

[449] Heut ist der erste leidenvolle Tag,

Da ich mich nicht vom Lager heben mag!


Auf seiner Meeresinsel stöhnt' und fleht'

Und wimmerte der wunde Philoktet;


Mir geht das Jammern wider die Natur,

Weit eher noch entführe mir ein Schwur.


Doch beiß ich schweigend nur die Lippe mir;

Denn als ein Christ und Ritter lieg ich hier.


Fernab die Welt. Im Reiche meines Blicks

An nackter Wand allein das Kruzifix.


An hellen Tagen liebt in Hof und Saal

Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Qual;


Doch Qual und Schmerz ist auch ein irdisch Teil,

Das wußte Christ und schuf am Kreuz das Heil.


Je länger ich's betrachte, wird die Last

Mir abgenommen um die Hälfte fast,
[449]

Denn statt des einen leiden unser zwei:

Mein dorngekrönter Bruder steht mir bei.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 449-450.
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