An Elisen

[224] Am Abend des 21. Novembers 1774.


Mit den Abendwolken eilet

Meine Seele hin zu dir,

Findet einsam dich, und teilet

Sorgsam jeden Gram mit dir.


Wie der Tau aus Wolken, quillet

Deine Thräne still hervor;

Und dein helles Auge hüllet

Sich in düstern Trauerflor.


Denn der Sonnenschein des Lebens

Floh auf ewig unsern Blick;[224]

Ach, das Auge sehnt vergebens

Ihn vom Abendrot zurück!


Die ihr unser Herz verbandet,

Stunden erster Zärtlichkeit!

Schnell, mit jeder Spur, verschwandet

Ihr in dunkle Ewigkeit.


Ach, Elise, schöner kehret

Bald zurück der Sonne Pracht;

Aber ewig, ewig währet

Dieser Leiden bange Nacht!


Freuden sahen wir entsprießen,

Die uns fromme Liebe gab;

Aber vor der Blüte rissen

Menschen, neidisch, sie herab.


Und du weinst! Und meinem Herzen

Ist auch dieser Trost versagt,

Daß, vereint zu gleichen Schmerzen,

Es in deinen Kummer klagt!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 224-225.
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