An meinen Bruder

[152] Im Mai 1772.


Der du mein Bruder warst, als du hienieden

Noch unter Staubbewohnern gingst,

Und deiner Tugend Lohn, des Himmels Frieden,

Nach frühdurchwallter Bahn, empfingst;


Vernimm anjetzt mein Lied! Im Staubgewande

Irr' ich auf dieser Welt umher,

Und sehe, fern vom mütterlichen Lande,

Den Hügel deiner Ruh nicht mehr.[152]


Doch oft schwingt, auf der Mitternacht Gefieder,

Sich meine Seel' empor, und sieht

Ins stille Thal, auf deinen Hügel, nieder,

Um den ein Rosenwäldchen blüht.


Die schauervolle Stunde kehrt zurücke,

Da du mir matt und sterbend riefst,

Und einmal noch mit halberloschnem Blicke

Mir lächeltest, und dann entschliefst.


Da sah ich auf den blassen Mund hernieder,

Und harrte seiner Reden; ach!

Der holde Mund entschloß sich nimmer wieder,

Der sonst so süße Worte sprach!


Du selber pflanztest dir die Maienglocken,

Von denen ich, mit träger Hand,

Dir einen Kranz um deine Silberlocken,

Und um die bleiche Schläfe wand.


Und in den frommgefaltnen Händen blühte

Ein Röschen, ach ein Bild von dir!

Es überlebte dich; doch bald verblühte

Auch seine jugendliche Zier.


Und so werd' ich verblühn! Ach, mit der Jugend

Eilt schon die Heiterkeit davon!

Doch winket nicht dem Freunde stiller Tugend

Noch jenseits dieser Welt ein Lohn?


Ja, Freund! Und darum schwör' ich, sie zu lieben,

Ihr jeden Augenblick zu weihn,

Der Pflichten kleinste treulich auszuüben;

Mit dir des Lohnes wert zu sein!


Umschweb' indes mich unsichtbar, und leite

Durchs trübe Leben meinen Lauf!

Und wann ich, allzu sicher wandelnd, gleite,

O dann hilf dem Gefallnen auf!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 152-153.
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