Die Liebe

[264] Aus dem Siegwart.


(1775.)


Was ist Lieb'? Ein Tag des Maien,

Der in goldnem Glanz erwacht,

Hell auf froher Schäfer Reihen

Vom entwölkten Himmel lacht.


Flöten locken zu den Tänzen

Der vergnügten Mädchen Schar;

Blumen sammeln sie zu Kränzen,

Schmücken ihrer Schäfer Haar.


Schnell verdüstert über ihnen

Sich der schwülen Sonne Blick;

Schrecken blickt aus ihren Mienen;

Schüchtern eilen sie zurück.


Regengüsse strömen nieder;

Blum' und Wiese sind verheert;

Und der frommen Freude Lieder

Sind in Trauerton verkehrt. –


Schau! der Friedensboge strahlet

Ins erschrockne Thal herab;

Schau! der Hoffnung Freude malet

Sich auf allen Wangen ab. –


Gieb, o Gott der frommen Liebe,

Uns ein ruhiges Gemüt,

Das durch Wolken, schwarz und trübe,

Ins Gefild der Hoffnung sieht!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 264-265.
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