Lied

[190] 1772.


Stille Nacht, o sei gegrüßet!

Du verrätst die Seufzer nicht,

Und die stumme Zähre fließet

Unverhohlner vom Gesicht,

Hier will ich, im Mondenscheine,

Auf den werten Auen gehn,

Wo ich ihn so oft alleine

Blumenkränze winden sehn.[190]


Alle Blumen will ich pflücken,

Die er mir zurücke ließ;

Will damit den Busen schmücken,

Den sein Auge seufzen hieß.

Ach! an seinem Busen blühtet

Ihr, o Blumen, noch so schön:

Aber strenger Wahn verbietet,

Ihm ein Wörtchen zu gestehn.


O du kennst, geliebte Liebe,

Meinen unbescholtnen Sinn,

Kennst die reinen, frommen Triebe,

Die in diesem Herzen glühn;

Laß ihn, wenn ich ihn verdiene,

Wieder hier vorüber gehn,

Und dann laß, in jeder Miene,

Ihn mein stilles Leiden sehn!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 190-191.
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