Zweiter Auftritt.

[8] Cleanthe. Elise.


CLEANTHE. Es ist mir lieb, dich allein zu treffen, Schwester, denn ich konnte es nicht erwarten, mit dir zu sprechen, um dir ein Geheimnis mitzuteilen.

ELISE. Ich bin ganz Ohr, lieber Bruder. Was hast du mir zu sagen?

CLEANTHE. Sehr viel, Schwester. Und doch umschließt das alles ein einziges Wort: ich liebe.

ELISE. Du liebst?

CLEANTHE. Ja, ich liebe. Ehe ich aber fortfahre – ich weiß, daß ich einen Vater habe, von dem ich abhänge, und daß der Name Sohn mich seinem Willen unterwirft; daß wir unser Herz nicht ohne die Einwilligung unsrer Eltern verschenken dürfen; daß der Himmel sie als Gebieter über unsre Wünsche eingesetzt hat und daß es unsre Pflicht ist, uns ihrer Führung zu überlassen; daß sie, von keiner törichten Leidenschaft beherrscht, in der Lage sind, sich weit weniger als wir selbst zu täuschen und viel besser zu beurteilen, was uns frommt; daß wir uns sicherer auf ihre Einsicht und ihr Urteil verlassen können, als auf unsre blinde Leidenschaft, und daß die stürmische Heftigkeit der Jugend uns nur zu oft in die gefährlichsten Abgründe stürzt. Das alles sage ich dir, meine gute Schwester, damit ich dir die Mühe erspare, es mir zu[8] sagen – denn meine Liebe will nichts hören, und ich bitte dich, mich mit allen Gegenvorstellungen zu verschonen.

ELISE. Hast du dich schon mit deiner Geliebten verlobt, Bruder?

CLEANTHE. Nein, aber ich bin dazu entschlossen, und ich beschwöre dich noch einmal, komme mir nicht mit Gründen, um mir's einzureden.

ELISE. Hältst du mich denn für so wunderlich?

CLEANTHE. Nein, Schwester; aber du liebst nicht; du weißt nichts von der süßen Gewalt, die eine zärtliche Neigung über unser Herz hat, und ich fürchte dein besonnenes Urteil.

ELISE. Ach, Bruder, sprechen wir nicht von einer Besonnenheit; es gibt niemand, den sie nicht einmal im Stich ließe, und wenn ich dir mein Herz eröffnen wollte, würde ich dir vielleicht, sehr viel unbesonnener vorkommen als du dir selbst.

CLEANTHE. Oh, wollte doch Gott, daß deine Seele wie die meinige wäre ...

ELISE. Sprechen wir nur zuerst von deinen Angelegenheiten, und sage mir, wen du liebst.

CLEANTHE. Ein junges Mädchen, das erst seit kurzem in dieser Gegend wohnt und ganz dazu geschaffen scheint, jedem, der sie erblickt, Liebe einzuflößen. Nie hat die Natur etwas Reizenderes hervorgebracht, und ich war vom ersten Augenblick an bezaubert von ihrer Schönheit. Sie heißt Mariane und lebt unter der Obhut einer guten ehrlichen Mutter, die fast immer krank ist und für welche das liebe Mädchen die rührendste Sorgfalt an den Tag legt. Sie pflegt sie, tröstet sie und bemitleidet sie in einer Weise, die dein ganzes Herz gewinnen würde. Alles, was sie tut, ist anmutig, jeder Bewegung leiht sie einen neuen Reiz und zeigt eine so liebenswürdige Sanftmut, eine so unwiderstehliche Güte, eine so entzückende Sittsamkeit, ein ... Ach, Schwester, ich wünschte nur, du könntest sie sehn!

ELISE. Ich sehe schon genug, Bruder, aus allem, was du mir von ihr sagst; und um ihren Wert zu erkennen, brauche ich nur zu wissen, daß du sie liebst.

CLEANTHE. Ich habe unterderhand erfahren, daß sie nicht[9] wohlhabend sind, und daß sie trotz ihrer Eingezogenheit Mühe haben, ihre wenigen Ausgaben zu bestreiten. Denke nur, Schwester, welche Freude es sein müßte, die Lage eines geliebten Wesens zu verbessern, auf feine Weise dem bescheidenen Bedarf einer tugendhaften Familie zu Hilfe zu kommen, und du wirst einsehn, wie schmerzlich es für mich sein muß, mich durch den Geiz unsres Vaters außerstande zu sehn, mir dies Glück zu verschaffen und meiner Geliebten irgendeinen Beweis meiner Zärtlichkeit zu geben.

ELISE. Ja, ich begreife ganz, Bruder, welchen Kummer du dabei empfinden mußt.

CLEANTHE. Ach, Schwester, er ist größer, als du ihn dir vorstellen kannst. Sag selbst, kann man sich etwas Grausameres denken als die harte Sparsamkeit, die man gegen uns ausübt, und die unerhörte Dürftigkeit, in der wir schmachten müssen? – Wozu hilft uns unser Vermögen, wenn es uns erst in einer Zeit zufällt, wo wir nicht mehr in den schönen Jahren sind, es genießen zu können? wenn ich jetzt, um nur zu bestehn, nach allen Seiten Schulden machen muß und so wie du gezwungen bin, täglich die Gefälligkeit der Kaufleute in Anspruch zu nehmen, um mir nur einigermaßen anständige Kleider zu verschaffen? – Ich habe dich bitten wollen, liebste Schwester, mir unsern Vater über meine Neigung ausforschen zu helfen; und wenn ich sehe, daß er taub für meine Wünsche bleibt, bin ich entschlossen, mir eine andre Heimat zu suchen und mit dem geliebten Mädchen mein Schicksal dem Himmel anheimzustellen. Ich bemühe mich deshalb, wo ich kann, Geld aufzunehmen, und wenn deine Lage, liebste Schwester, der meinigen gleichen sollte und unser Vater sich dir ebenso widersetzt wie mir, so laß uns ihm beide entfliehen und uns von der Tyrannei freimachen, in der sein unerträglicher Geiz uns schon so lange gefesselt hält.

ELISE. Es ist wahr, daß er uns täglich mehr und mehr Ursache gibt, den Tod unsrer Mutter aufs neue zu beweinen.

CLEANTHE. Ich höre seine Stimme: laß uns in dein Zimmer gehn, um unsre Geständnisse weiter auszutauschen, und dann mit vereinten Kräften einen Angriff auf seinen harten Sinn versuchen.


Quelle:
Molière: Der Geizige. Leipzig [o. J.], S. 8-10.
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