Vor einem Gebirgsbach

[128] Nulla dies sine linea


10. August 1896


Waagrecht diese Wasser, – und zu Ende

Wellenspiel und jähe Formenwende!

Wo liegt's? Der Wechsel selbst, für sich allein?

Der Wechsel nur in mir, nur Form, nur Schein?


11. August 1896


Dunkel von schweigenden Bergen umschlossen,

vergessen die Welt wie ein Puppenspiel,

nebelumflossen, regenumgossen,

doch in der Brust ein leuchtendes Ziel.


12. August 1896


Hinaus in Nebel und Regen,

wie stark auch der Himmel trauft!

Mit Sprühwasser-Morgensegen

die junge Stirne getauft!


14./15. August 1896


Spät von Goethe und andrem Wein

hab ich mich des Nachts getrennt –:

Legionenfacher Schein

überfloß das Firmament.

Wie ein Silberschauer rann

grenzenlose Sternenpracht

über Gipfel, Hang und Tann

durch die tiefe, heilige Nacht.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 128.
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