Der Urton

[97] Fernher schwillt

eines Dudelsacks

einförmig-ewigwechselnde

Melodie:

Unaufhörlich

hebt sich und senkt sich

über dem Urton

ihr unerfaßliches Spiel.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Auf dem ehernen Tische

Unendlichkeit

liegt unermeßlicher Sand gebreitet.

Da streicht ein Bogen

die Tafel an:

Einen Ton

schwingt und klingt

die fiebernde Fläche.

Und siehe!

Der Sand

erhebt sich und wirbelt

zu tausend Figuren.

Aus ihnen,

den tanzenden,

tönenden,

glühenden[98]

schlingen sich Tänze,

binden sich Chöre,

winden sich Kränze,

umringen sich,

fliehen sich,

finden sich wieder.


Aber das Spiel

der Formen, Farben und Töne

durchbrummt

unaufhörlich,

beherrscht

fürchterlich-unerfaßlich

der tiefe Urton.

. . . . . . . . . . . . .


Fern verschwillt

des Dudelsacks

einförmig-ewigwechselnde

Melodie.

Dorf, Wald, Welt

versinkt mir

schweigend

in Nacht.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 97-99.
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