Der vergeßene Donner

[71] Ein Gewitter, im Vergehn,

ließ einst einen Donner stehn.


Schwarz in einer Felsenscharte

stand der Donner da und harrte –


scharrte dumpf mit Hals und Hufe,

daß man ihn nach Hause rufe.


Doch das dunkle Donnerfohlen –

niemand kams nach Hause holen.


Sein Gewölk, im Arm des Windes,

dachte nimmer seines Kindes –


flog dahin zum Erdensaum

und verschwand dort wie ein Traum.


Grollend und ins Herz getroffen

läßt der Donner Wunsch und Hoffen,


richtet sich im Felsgestein,

wie ein Bergzentaure ein.


Als die nächste Frühe blaut,

ist sein pechschwarz Fell ergraut.
[72]

Traurig sieht er sich im See

fahl, wie alten Gletscherschnee.


Stumm verkriecht er sich, verhärmt;

nur wenn Menschheit kommt und lärmt,


äfft er schaurig ihren Schall,

bringt Geröll und Schutt zu Fall ...


Mancher Hirt und mancher Hund

schläft zu Füßen ihm im Schrund.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 71-73.
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