Der Stern

[16] Ich träumt einmal, ich läg, ein blasser Knabe,

in einem Kahne schlafend ausgestreckt,

und meiner Lider fein Geweb durchflammte

der hohen Nacht geheimnisvoller Glanz.

Und all mein Innres wurde Licht und Schimmer,

und ein Entzücken, das ich nie gekannt,

durchglühte mich und hob mein ganzes Wesen

in eine höhere Ordnung der Natur.

Ein leises Tönen hielt mich hold umfangen,

als zitterte in jedem Sternenstrahl

der Ton der Heimat, die ihn hergesendet.

Ein Ton vor allen aber traf mein Herz

und ließ die andern mehr und mehr verstummen

und tat sich auseinander wie der Kelch

der Königin der Nacht und offenbarte

auf seinem Grunde mir sein süßes Lied ...


»Wir grüßen dich in deine stillen Nächte,

als deiner Zukunft tröstliche Gewähr,

es schalten ungeheure Willensmächte

in unsrer Tage blindem Ungefähr.

Sie ziehn dich von Gestaltung zu Gestaltung,

heut schleppst du dich noch schweren Schrittes hin,

doch bald begabt dich freiere Entfaltung

mit reicherer Natur und höherm Sinn.

So wandeln wir auf leichten Tänzerfüßen,[17]

die wir dereinst auch dein Geschick geteilt,

und dürfen dich mit einem Liede grüßen,

das dich auf Strahlen unsres Sterns ereilt.

Oh flüchte bald nach unsern Lustgefilden,

und laß der kalten Erde grauen Dunst,

Oh sähst du, zu welch göttlichen Gebilden

uns schuf des Schicksals heiß ersehnte Gunst!

Auf Blumen wandeln wir wie leichte Falter,

aus Früchten saugen wir der Kräfte Saft,

uns ficht kein Elend an, zerbricht kein Alter,

der frühern Leiden lächelt unsre Kraft.

Denn allzu schön, als daß wir uns entzweiten,

erschuf uns das Gestirn, das uns gebar, –

wir können uns nicht Schmerz und Not bereiten,

die Schönheit macht uns aller Feindschaft bar!

Wir lieben uns aus tiefsten Herzensgründen,

wir trinken unsres Anblicks Glück und Huld,

wir wissen nichts wie ihr von fahlen Sünden,

und keinen ängstigt das Gespenst der Schuld.

Oh komm! daß sich die dornenlose Rose

auch deiner Schläfe duftend schmiegen kann!

Die schönste Schwester diene deinem Lose

und schenke dich dem schönsten Mann – oh komm –!«[18]

Da unterbrach ein dumpfer Glockenton

die reinen, feinen Stimmen jener Welt.

Ich richtete mich halb im Bette auf –

und sah viel Sterne durch mein Fenster glühn ...

und sank zurück. Und weiter floß die Nacht.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 16-19.
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