Der alte Steinbruch

[114] Tief im Walde, tief im Walde

bildet, fern der Wege Reich,

eines Bruchs verlaßne Halde

einen kleinen, stillen Teich.


Moosbewachsne Blöcke ragen

aus der seichten Regenflut,

Falter und Libellen jagen

über bunter Lurche Brut.


Aber wenn im Abendbrande

hinterm Wald die Glut verraucht,

stößt und rudert es vom Rande,

kriecht und klettert, plumpst und taucht.


Und der Unken Urgroßahne

– niemand weiß, wann Gott ihn schuf –

ruft, daß er sein Weibchen mahne,

seinen dunklen Werberuf.


Daß das Froschgeschlecht nicht sterbe,

bleibt zuletzt nicht Einer still:

Denn der Tümpel ist ein Erbe,

das getreu gewahrt sein will.
[115]

Liebeskranke Grunzer fliehen

der bewegten Weibchen Schlund;

immer kühnre Harmonien

füllen den dämmertrauten Grund.


Bis des Mondes Goldhorn endlich

neuen Schimmers alles speist:

Nun erwahrt sich unabwendlich

trunkner Nächstenliebe Geist ...


Tief im Walde, tief im Walde

schwärmt Froschbräutigam und Braut

in versteckter Steinbruchhalde,

bis der letzte Stern ergraut.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 114-116.
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