Im Traum

[16] Wer möcht am trägen Stoffe kleben,

dem Fittich ward zu Weltenflug!

Ich lobe mir den süßen Trug,

das heitre Spiel mit Welt und Leben.

In tausend Buntgewande steck ich,

was geistig, leiblich mich umschwebt;

in jedem Ding mich selbst entdeck ich:

nur der lebt Sich, der also lebt.


Mir ist, ich sei emporgestürmt

über stürzende Wasserfälle.

Mir engt's die Brust, um mich getürmt

ahn ich schützende Nebelwälle.

Aus dumpfen Regionen,

aus Welten von Zwergen,

trieb's mich fort,

ob auf ragenden Bergen

ein besserer Ort

dem Freien, zu wohnen.


Es weht mir um die Stirne

ein Hauch wie von Frauengewand ...

Folgte zum steilen Firne

mir wer aus dem Unterland?

Es beugt sich zu mir nieder

ein liebes, schönes Gesicht ...[17]

Glaubst Du, ich kenne Dich nicht,

Sängerin meiner Lieder?

Du bist ja, wo ich bin,

mein bester Kamerade!

Bei Dir trifft mich kein Schade,

meine Herzenskönigin!


»Du flohest aus Finsternissen,

mühsamen Mutes,

ich weiß es.

Du hast zerrissen

Dein Herz, Dein heißes,

und bei dem Leuchten Deines Blutes

bist Du den dunklen Pfad

weiter getreten,

bis Du mich fandest

und mit tiefen Gebeten

mich an Dich bandest,

daß ich Dich liebgewann,

dem ringenden Mann

ein treuer Kamerad.


Du brachst uralte Ketten

und kamst heute Nacht

in mein Reich.

Ich will Dich betten[18]

an meiner Brust

warm und weich,

in Träumepracht

Deine Seele verzücken:

der ganzen Welt

Außen und Innen

sei Deinem Sinnen

preisgestellt.

Magst sie schmücken

mit lachender Lust,

magst sie tausendfach

deuten und taufen,

mit Berg und Wald,

mit Wiese und Bach,

mit Wolken und Winden,

mit Sternenhaufen

Dein Spiel treiben,

Deinen Spaß finden;

brauchst nicht zu bleiben

an einem Ort;

magst die Welt

bis zu Ende laufen;

denn Hier oder Dort,

wo Du auch seist,

wo sich das Himmelszelt

über die Erde spannt:[19]

das sei Deinem Geist

Phanta's Schloß genannt.«


Schneller strömt des Blutes Fluß,

Wonne mich durchschauert,

auf meinen Lippen dauert

sekundenlang Dein süßer Kuß.

Nun nimm mich ganz, und trage

mein Fragen mit Geduld!

Für alles, was ich nun sage,

trägst Du fortan die Schuld.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 16-20.
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