Sonnenaufgang

[24] Wer dich einmal sah

vom Söller des Hochgebirgs,

am Saum der Lande

emporsteigen,

aus schwarzem Waldschoß

emporgeboren,

oder purpurnen Meeren

dich leicht entwiegend –

wer dich einmal sah

die bräutliche Erde

aufküssen

aus Morgenträumen,

bis sie, von deiner Schwüre

Flammenodem

heiß errötend,

dir entgegenblühte,

in der zitternden Scham,

in dem ahnenden Jubel

jungfräulicher Liebe –

der breitet die Arme

nach dir aus,

dem lösest die Seele du

in Seufzer

tiefer Ergriffenheit,

oh, der betet dich an,

wenn beten heißt:[25]

zu deiner lebenschaffenden

Glutenliebe

ein Ja und Amen jauchzen –

wenn beten heißt:

in den Ätherwellen des Alls

bewußt mitschwingen,

eins mit der Ewigkeit,

leibvergessen, zeitlos,

in sich der Ewigkeit

flutende Akkorde –

wenn beten heißt:

stumm werden

in Dankesarmut,

wortlos

sich segnen lassen,

nur Empfangender,

nur Geliebter ...

Wer dich einmal sah

vom Söller des Hochgebirgs!

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 24-26.
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