I. Brief.

Der Hr. von N. an den Hrn. v.W.

Kargfeld, den 19 Sept.


Ist der Roman schon zu Ende? Denke das ja nicht, lieber Herr Bruder! ich bin vielmehr bereit, meine Sache entweder als ein Grandison auszuführen, oder zu sterben. Indessen aber fluche ich auf dich, auf deine Frau, auf den Major, auf den Magister, und auf alle, welche bei dem vermeinten Verlöbnisse waren. Wenn mir Lampert die Stelle aus dem Grandison, wo Sir Carl ein Gespenste gewesen, recht ausgelegt hätte; so würde ich gar nicht auf den Einfall gerathen seyn, dich und deine Frau im Schlafe zu stöhren. Ich war aber von der[1] ganzen Sache so eingenommen und verblendet, daß ich bereits in Gedanken über den zu hoffenden glücklichen Erfolg triumphirete. Warum habt ihr aber den armen Bornseil davon gejagt? Der Kerl ist so unschuldig, wie ein Kind in Mutterleibe. Er wollte nicht einwilligen; er wurde aber überredet. Du weißt, daß, wenn der Magister zu demonstriren anfängt, ihm weder Menschen noch Vieh widerstehen können. Setze ihn wieder in sein voriges Amt, damit der arme Teufel nicht betteln gehen, oder mir seine Kinder vor die Thür legen darf. Thut er es, so lasse ich die Bälge ins Wasser werfen. Mit deiner Frau bin ich gar nicht zufrieden: sie versteht keinen Spaß. Wär sie meine Frau; so bekäm sie alle Tage ihre Prügel. Du mußt ein hartes Leder haben, daß du so viel ausstehen kannst; wiewohl, wenn man dir am Tage Essen und Trinken giebt, und des Nachts deine Ruhe läßt; so bist du mit der ganzen Welt zufrieden.

Außerdem merke ich, daß sie der Major sehr wohl leiden kann. Es ist zwar mehrmals[2] davon gesprochen worden; nunmehro wird mir die Sache immer wahrscheinlicher. Sage mir doch bona fide, war ich damals stark besoffen? ich kann es nicht glauben, ohngeacht Lampert dazu schwöret; sollte ja etwas vorgefallen seyn; so ist der Major an allem Schuld gewesen. Wär ich kein Grandison; so wollte ich den Pursch schon finden, Ich schere mich den Henker um ihn: er mag deiner Frau ihr Vetter seyn oder nicht.


Ich habe eine tüchtige Delicatesse für die Ehre – doch was weißt du, was eine Delicatesse in der Ehre ist; da du sie weiter nicht als nur in einer Pastete und in einem Wildpretsbraten zu suchen gewohn bist. Schreib mir also, ob sich der Major in Reden wider mich vergangen hat. Der Wein fiel mir damals für die Ohren, daß ich nicht alles genau vernehmen konnte. Drohen laß ich mir nicht, das sage ihm. Sir Hargrave und Greville waren andere Kerls als der Major; indessen wußte sie Herr Gevatter Grandison[3] doch zu bändigen. Was dieser kann, das kann ich auch. Ich wär längstens wieder zu dir kommen, wenn mich meine alte Mucke nicht überfallen hätte. Das Podagra ist es nicht, wie der Magister sagt; sondern eine ganz andere Krankheit; die aber weniger zu bedeuten hat. Schreib mir ja bald: damit ich sehe, ob du böse bist oder nicht. Auf meiner Seite soll alles vergeben und vergessen seyn. Inliegenden Brief gib deiner Fräulein Tochter. Du kannst leicht muthmaßen, daß verliebte Leute einander immer etwas zu sagen haben. Lebe wohl! der Himmel behüte deine Beine für allem Uebel! Ich bin


Dein

aufrichtiger Freund

v.N.


N.S. Reiß meinen Brief in Stücken: damit der Teufel sein Spiel nicht hat. Ich möchte deine Frau nicht gern böse machen. Adieu!

vt supra.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite,Erster bis dritter Theil, Band 2, Eisenach 1761, S. 1-4.
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