Evert von Kemen an die Nachwelt

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[39] So nimm sie denn hin, Nachwelt, diese Blätter! und du, in dessen Hände sie gerathen, bedenke, daß sie dem Sammler theuer zu stehen kamen, und nutze sie, wie du urtheilen kannst,[39] daß er sie genutzt haben würde, hätte die Lage der Sachen es nicht gehindert.

Ich hatte im Frühling des Lebens einen Freund; ob er meiner Treue ganz so lohnte, wie er gesollt hätte, das gehört nicht an diese Stelle; von ihm, nicht von mir will ich die Folgezeit unterhalten! –

Ich hatte einen Freund, wir wurden getrennt, wie Menschen oft getrennt werden. Das Schicksal führte einen jeden seinen eigenen Weg, der meinige ging weit aus meinem Vaterlande, Abwesenheit brachte Vergessenheit, ich war ein Mensch, wie hätte nicht auch ich endlich vergessen sollen, den der mich vergaß! Doch fragte ich, als ich im späten Herbst der Jahre mein Vaterland wieder sahe: Wo ist der Freund meiner Jugend? wo ist Graf Adolf von ***? Jedermann schwieg! – Wo ist Alf von Dülmen? wiederholte ich, in der Meynung, die Nachwelt würde jenen Unglücksnamen, über dessen Annehmung wir zuerst uns entzweyten, besser kennen. – Man zuckte die Achseln! – Da ging ich hin, in irgend eine Einsamkeit, sein Andenken zu beweinen, welches der Anblick des Himmels, unter dem er und ich gebohren waren, wieder neu machte. Ich suchte einen verlassenen Winkel meines Vaterlands, dem Andenken[40] des Verlohrnen, Vergessenen, oder Verstorbenen, ihm und noch einer, deren Namen ich nie ohne Thränen nennen kann, meine letzten Tage zu widmen. – Ich suchte, und das Schicksal ließ mich die Stelle finden, wo mir schreckliche Aufklärung all meiner Zweifel bevorstand. Ich kaufte ein Haus, und wußte nicht was ich mit ihm gekauft hatte; wußte nicht, daß ich durch den Besitz dieser verfallenen Burg Herr über Freyheit und Leben meines Verlohrnen geworden war. O warum wurde ich es nicht vierzig Jahre eher?

Länger als diese genannte Zeit hatte Alf von Dülmen in dieser Hölle die Ketten von Henkern getragen, die ich nicht nennen kann. Ich glaubte einem Unbekannten die Pflicht gemeiner Menschlichkeit zu leisten, indem ich seine lang getragnen Fesseln lößte, und der Freund meiner Jugend lag in meinen Armen. O Alf von Dülmen! wie gern hätte ich deinem Leben die Hälfte des Rests meiner Tage zugesetzt, um nur noch eine kurze, ganz kurze Zeit die Freude gehabt zu haben, dich gerettet, getröstet, erfreut, dem Grabe zu wandeln zu sehen! aber diese Freude sollte mir nicht werden. Vierzigjähriges Elend konntest du ertragen, aber die Wiederkehr besserer Tage, das Wiedersehen der[41] Sonne, die Wiedervereinigung mit deinem Freunde tödtete dich.

Mein Wiedergefundener, mein Alf von Dülmen, starb in den ersten Tagen des Wiedersehens in meinen Armen; ich grub ihm dieses Grab, thürmte über seiner Asche diese Marmorsäule auf, grub Worte darauf, ihm zum Gedächtniß; ihm und seiner Schwester Alverde, deren Gebeine nicht hier ruhen, die einst in andern Gegenden zur ewigen Wiedervereinigung erwachen wird. Sie war mir unvergeßlich wie er, sie – doch genug von dem was sie betrifft!

Mein Freund hatte mir ein Erbtheil hinterlassen, die traurige, verhängnißvolle Geschichte seines Lebens. Nachwelt, ich bin dir sie schuldig! Leiden, wie die seinigen, dürfen nicht der Vergessenheit überlassen werden! Aber soll ich dir sie geben, wie er mir sie gab? Sie war mit der Feder des düstersten Selbsthasses geschrieben; ohne Erklärung würde sie dir einen Begriff von ihm beybringen, welcher der Wahrheit Gewalt anthät! – Alf von Dülmen war nicht unschuldig, aber er war auch der Verbrecher nicht, für den er sich selbst hielt: andere brauchten ihn zum Werkzeug ihrer finstern Entwürfe,[42] die Schuld ihrer Verbrechen sey über ihnen! –

Die Rechtfertigung meines Freunds zu bewürken, seine Entschuldigung und anderer Bosheit aufzudecken, überwand ich die Unmöglichkeit. Ich spähte die schriftlichen Beglaubigungen beyder aus, und entriß sie der Dunkelheit, in welcher sie begraben lagen. Die Kabineter der Könige, die Archive der Klöster, selbst St. Peters Heiligthum öffneten sich mir, und gaben ihre Heimlichkeiten heraus, mir folgte Fluch und Bannstrahl, man schrie mir nach: ich sey getäuscht worden; was ich gesammelt habe, seyen Lügen! man sey unschuldig an dem, was ich nur auf meine Gefahr wagen dürfe, ans Licht zu bringen!

Gut, dem sey so! Wer kann hier über Menschen Schuld und Unschuld entscheiden! – Nicht ihre Drohungen, sondern das Gefühl weniger Macht, und die Möglichkeit, daß ich auch Ihnen unrecht thun könne, bewogen mich, das zu unterdrücken, was ich gern gegen alle vier Winde des Himmels ausschreyen möchte. Nimm es auf, heiliges Denkmal, in deine Schatten! Lieferst du es einst in die Hände eines Weisen oder Mächtigen, so nütze er es mit Klugheit. Vielleicht sind denn schon Jahrhunderte über[43] meine und meines Freundes Asche hingeflogen, und es kümmert niemand mehr, ob Alf von Dülmen schuldig oder unschuldig war, aber seine Geschichte ist nicht ohne gute Lehre, und nachdem die Zeit ist, in welcher sie sich aus der Dunkelheit hervorwindet, nachdem wird ihr Nutzen seyn. Vielleicht groß, wenn sie Zeit genug kommt, dem Uebel zu steuern, das jetzt unter dem Namen der Gerechtigkeit Unheil stiftet, vielleicht klein, wenn sie erst in Jahrhunderten erscheint, in welchen Dinge, unter deren Druck jetzt die Welt seufzt, längst vernichtet und zur Fabel geworden sind.[44]

Quelle:
Benedikte Naubert: Alf von Dülmen. Leipzig 1791, S. 39-45.
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