Viertes Kapitel
Eine Freundin, wie man sie selten findet

[27] Madam Haller führte mich auf ihr Zimmer. Sie lud mich ein, diesen Nachmittag bey ihr zu bleiben, und ich willigte ein, weil ich glauben konnte, daß ihr ihre Einladung von Herzen gieng, und daß sie, wie sie sich ausbrückte, einen einsamen Nachmittag gern mit einer Freundin theilte. Freundin?[27] wiederholte ich, indem ich ihre Hand an meine Brust drückte. Warum nicht? mein Kind, sagte sie, kann keine Freundschaft zwischen Jugend und Alter Statt finden? O das wohl, erwiederte ich, aber welch ein Unterschied zwischen Madam Haller und einem armen einfältigen Landmächen!

Sie küßte mich lächelnd auf die Stirne, und bat mich, mir die Zeit nicht lang werden zu lassen, weil sie mich wegen einiger häuslichen Geschäfte verlassen müsse.

Wie? rief sie, als sie nach einer Viertelstunde wieder kam, und mich an einer Tapete arbeitend fand, die ich eingespannt gesehen, und mich fast ohne daran zu denken, dabey niedergesetzt hatte. Wie? verstehen Sie diese Arbeit? – Ich erschrack über diese Ueberraschung, stand erröthend auf, und bat um Verzeihung. Nein, nein, sagte sie, hier keine Verzeihung? Ich nehme ihre Hilfe an. – Und wir setzten uns beyde, und nähten eine lange Weile stillschweigend fort.

Es ist bekannt, wie bald sich ein paar weibliche Seelen, auf einem einsamen Zimmer, bey gemeinschaftlicher Arbeit, gegen einander aufschliessen. Die Fragen der Madame Haller wurden häufiger, meine Antworten umständlicher als bey der Mahlzeit, und nicht lange, so kannte sie meine ganze Lage so vollkommen als ich selbst. Herr und Madame Katharines, der alte Herr, welcher eine Haushälterin, und die Gemahlin des jungen Fähndrichs, welche keine brauchte, kamen endlich auch[28] an die Reihe, und was das sonderbarste war, so kannte Madam Haller alle diese drei Leute so vollkommen, daß sie mir eine vollständige Biographie von ihnen liefern konnte, die mich angenehm genug unterhielt, ob sie gleich eben nicht die vortheilhafteste war. Die liebe Frau! wenn mir es erlaubt ist, ihr so etwas noch im Grabe nachzusagen, einen kleinen Hang zur Medisance hatte sie freylich, aber sie war gut, sehr gut, und nahm gewiß nichts unter ihre Kritik, was dieselbe nicht verdiente.

Wir waren noch in diesen Gesprächen begriffen, als der junge Haller mit meinem Vater hereintrat, um sich zu beurlauben. Wir werden, sagte der erste, viel Gänge mit einander zu thun haben. Und du, Hannchen, setzte mein Vater hinzu, wirst dich sogleich empfehlen, um uns begleiten zu können. Hannchen wird bey mir bleiben, und ihrem Vater ein Schlafzimmer bereiten helfen, erwiederte Madam Haller; es wird gut seyn, wenn der Advocat und die Klienten in einem Hause wohnen.

Mein Vater stammelte etwas von unverdienter unbegreiflicher Güte, und mir traten ein paar Thränen in die Augen. O, dachte ich, wie süß ists dem Unglücklichen, dem Verlassenen, da freundliche Aufnahme zu finden, wo er sie am wenigsten vermuthete; wie viel süsser muß es seyn, sie dem Unglücklichen gewähren zu können!

Mein Herz war zu voll von dem, was ich fühlte, als daß ich es nicht gegen meine neue[29] Freundin mit allem Feuer, dessen ich fähig war, hätte überströmen lassen sollen. Sie lächelte über den Eifer, mit welchem ich sprach, und – – Doch ich bin bereits zu weitläuftig in Kleinigkeiten gewesen, und muß mich einschränken, wenn ich nicht von allen dem Guten, was mir in diesem Hause wiederfuhr, ein eigenes Buch zu schreiben gedenke.

Meines Vaters Aufenthalt in der Stadt dauerte länger, als er und ich vermuthet hatten. Zwar seine Sachen mit seinen Schuldnern waren bald abgethan. Madam Haller trat ins Mittel; die Summe war ihrem Ausspruch nach nicht groß, sie hatte voriges Jahr gerade so viel aus ihrer Wirthschaftskasse zurück gelegt; sie freute sich, unsere einige Schuldnerin zu seyn; sie wollte sich an Hannchen halten, welche ihr schon alles bezahlen sollte, und was der freundlichen trostvollen Worte mehr waren, mit welchen diese großmüthige Seele uns Niedergeschlagene zu trösten suchte. – Gütiger Himmel! Sie wollte sich an mich halten! ich sollte bezahlen! Ich! eine Summe von hundert und fünfzig Thalern! War das wohl etwas anders, als eine feine Art, uns das Ganze zu schenken? – Noch jetzt ist mirs unbegreiflich, wie alle Umstände so zusammen treffen mußten, uns eine solche Freundin zu verschaffen. Das Gebet meiner Baase um eine glückliche Stunde kommt mir wieder in den Sinn, und Thränen der Dankbarkeit fallen auf mein Blatt.[30]

So gut und leicht unsere Angelegenheiten in diesem Stück berichtigt wurden, so schwer gieng die Sache vor dem geistlichen Gericht. Mein Vater war verklagt, hart verklagt, und daß Herr Katharines der Ankläger sey, ergab sich aus allen Umständen. So in die Augen fallend auch seine Unschuld war, so würde die heilige Gerechtigkeit, welche eben damals eine neue undurchsichtige Binde umgelegt hatte, sie doch schwerlich gesehen gaben, wenn der alte Herr Haller weniger Ansehen, und sein Neffe weniger Wissenschaft und Thätigkeit besessen hätte.

Mein Vater siegte, und man gab ihm nur unter den Fuß, wegen Schwachheit und hohen Alters um völlige Entlassung von seinem Amte anzuhalten; ein Vorschlag den er mit Unwillen verwarf. Würde die Welt meine Unschuld glauben, sagte er, wenn ich mich gleichsam von meinem Posten hinweg schleichen, nicht erst zeigen wollte, das man nichts tadelnswürdiges in mir gefunden hat? – Mit Mühe gestand man ihm noch ein halbes Jahr zu, und Herr Katharines mußte sich gefallen lassen, noch so lange blos den Titel als Vikarius zu führen.

Ich zitterte, wenn ich an das Wiederkehren in die Wohnung gedachte, aus welcher unser Feind die Ruhe und den stillen Frieden, welche vordem darinnen herrschten, vertrieben hatte. Madam Haller wollte mir überdieses nicht einmal erlauben, meinen Vater dahin zu begleiten, und ich[31] sollte ihn also allein in der Gewalt seiner Verfolger wissen. Man suchte mich zu beruhigen, und mein Vater versprach mir, sich gegen Katharines unwissend zu stellen, was er für Theil an dem ihm bereiteten Falle gehabt habe, und auf diese Art, alle Verdrüßlichkeiten zu vermeiden.

Seine Abreise war also beschlossen, aber ehe sie noch erfolgte, entwickelten sich Dinge, zu welchen mein erster Eintritt in das Hallersche Haus den Grund gelegt hatte, und die durch meinen langen Aufenthalt in demselben immer mehr zur Reife gekommen waren.

Quelle:
Benedikte Naubert: Die Amtmannin von Hohenweiler. Bdchen. 1–2, Band 1, Mannheim 1791, S. 27-32.
Lizenz:
Kategorien: