6.


Ein kleiner Junker wird getrunken.

Ein Edelmann auf dem Lande reiste zum Besuch zu einem seiner Freunde. Ueber Tische wurde am Abend wacker gezecht, und der Fremde begab sich hierauf in seinem Zimmer zu Bette. In der Nacht wachte er wegen des heftigsten Durstes, den er empfand, auf und suchte in dem ganzen Zimmer nach Wasser umher, allein er suchte vergeblich und sah sich genöthiget, ohne seinen brennenden Durst gestillt zu haben, wieder ins Bette zu gehen. Allein der Durst nahm immer mehr zu, so daß er ihn auf keine Weise mehr ertragen konnte. Er sprang wüthend aus dem Bette und suchte von neuem in dem Zimmer alles durch, damit er irgend etwas von einer Feuchtigkeit entdeckte. Endlich fand er auf einem Bret, das oben an der Wand befestigt war, ein gläsernes Gefäß, welches ihm eine Flüßigkeit zu enthalten schien: er holte es, so behutsam es ihm sein rasender Durst und die Dunkelheit erlaubten, herunter, setzte es an den Mund und leerte es begierig aus.


Am folgenden Morgen erzählte er diesen Vorfall der Haushälterin und sagte dabey, daß es ein sehr sonderbares Gefäß gewesen sey und daß die Feuchtigkeit wie Branntwein geschmeckt habe, auch sey etwas festes darinn gewesen, welches er zugleich geschluckt habe. Die Haushälterin, als sie[123] diese Erzählung vernahm, lief spornstreichs und ohne ein Wort zu reden in das Zimmer, und als sie das ausgeleerte Gefäß vorfand, lief sie sogleich mit großem Geschrey wieder zurück, »ach, das Gott erbarm, sie haben unsern gnädigen Junker getrunken!«


Die gnädige Frau hatte nämlich vor einigen Wochen einen Abortus gehabt, und man hatte den abgegangenen kleinen Junker in diesem Gefäß auf bewahrt.

Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4), S. 123-124.
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