Vierter Abschnitt

[154] Ein Kenner der Verdienste des schönen Geschlechts, so wie Säugling, mußte Marianen unter den übrigen im Hause vorhandenen Frauenzimmern sehr bald vorteilhaft unterscheiden, zumal da sie, gleich ihrer Mutter Wilhelmine, bei schwarzen Haaren die schönsten hellblauen Augen hatte. Es war keine von den andern weiblichen Personen mit ihr nur in Vergleichung zu stellen, denn die Frau von Hohenauf hatte große graue Augen mit langhaarigten Augenbramen; das Kammermädchen besaß ein Paar flachgeschlitzte Augen, aus deren Winkeln[154] beständig ein Paar matte rotgelbe Augäpfel liebäugelten; die beiden Fräulein waren noch allzu jung, und die übrigen weiblichen Geschöpfe waren unter der Notiz eines feinen Mannes wie Säugling. Hierzu kam, daß bei der ersten Unterredung Mariane untrügliche Kennzeichen ihres guten Geschmacks merken ließ, wodurch Säugling Herz bekam, ihr ein Gedicht vorzulesen, welches Mariane mit so großem Beifalle anhörte und dessen Schönheiten so fein hervorzusuchen wußte, daß unser Männchen vor Entzücken außer sich war.

Dies veranlaßte eine nähere Bekanntschaft, in der Säugling bald Marianens vor der Frau von Hohenauf bisher so geheimgehaltene Bibliothek von guten deutschen Büchern entdeckte. Er erstaunte nicht wenig, eine Französin so aufmerksam auf die deutsche Literatur zu finden. Da er gewohnt war, alles, was er sah, auf seine kleine Person zurückzuführen, so fiel er schnell darauf, wie möglich es sei (wenn er, wie er zuverlässig hoffte, unter den besten Dichtern Deutschlands einen Platz verdienen würde), daß sein Ruhm auch außer Deutschland sich ausbreiten, daß seine Gedichte ins Französische übersetzt und von den Damen an allen Höfen Europens gelesen werden könnten. Er wußte es Marianen Dank, daß sie zuerst eine so schmeichelhafte Hoffnung in seiner Seele erreget hatte, und dies zog das Band der angefangenen Bekanntschaft noch fester zusammen.

Mariane auf ihrer Seite sah ihn auch gern, denn er war ein feiner und bescheidener junger Mensch, der sie mit Poesie, wozu ihr die Neigung mit der Muttermilch war eingeflößt worden, angenehm unterhielt. Außerdem war er die erste Mannsperson, die ihr gesagt hatte, daß sie schön sei und daß ihre blauen Augen mit sanfter, herzrührender Kraft wirkten; und auch ein sittsames und ganz philosophisches Frauenzimmer wird eine solche[155] Nachricht aufs höchste mit einem kleinen Verweise bestrafen.

Die Kenner wollen bemerkt haben, die erste Vereinigung zwischen jungen Personen zweierlei Geschlechts bleibe selten lange so, wie sie war, und trenne sich entweder bald oder pflege nicht allein beständig unvermerkt fortzurücken, sondern auch zuweilen, durch einen ganz kleinen Umstand, mit einem so starken Sprunge fortzuschreiten, daß diejenigen, denen das verborgene Ding, das menschliche Herz, nicht genau bekannt ist, glauben möchten, es geschehe durch eine Art von Zauberei. Dies war der Fall mit Säuglingen und Marianen, die bei einer unvermuteten und dem Anscheine nach ganz geringen Veranlassung von einer bloßen Bekanntschaft und wechselseitigen Hochachtung zur Freundschaft und beinahe zu mehr als Freundschaft übergingen.

Es fiel in den Wintermonaten der Geburtstag der Frau von Hohenauf ein. Mariane hatte im Sinne, eine gewisse Absicht durchzusetzen, womit einige Schwierigkeiten verknüpft waren; dies brachte sie, zum erstenmal in ihrem Leben, auf den Gedanken, ihren Zweck durch einen Umweg zu erreichen. Sie sann deshalb ein kleines Fest aus, womit dieser Geburtstag sollte gefeiert werden, und teilte ihre Gedanken Säuglingen als einem Poeten mit, der ganz entzückt darüber war, einen Anlaß zu haben, seine Talente im Drama zu zeigen, da er bisher nichts als kleine Liederchen gedichtet hatte. Er machte einen Plan zu einem mythologisch-historischen Schäferspiele von drei Personen, der Marianens Beifall erhielt. Hierauf waren alle insgeheim sehr geschäftig: Säugling, sein Spiel in Verse zu bringen, die Kinder, sie zu lernen, und Mariane, für Fräulein Adelheid die Tracht einer Nymphe und für die jüngste Fräulein und den kleinen Sohn des Predigers im Dorfe Schäferkleider zu verfertigen.[156]

Am Tage des Geburtsfestes war die Gesellschaft sehr glänzend, denn es waren die Standespersonen aus der ganzen umliegenden Gegend zusammengebeten. Nach der Mittagstafel wurden sie unter einem andern Vorwande in das Orangeriehaus geführet und durch eine Symphonie überrascht, indem sich der Schauplatz öffnete. Er stellte entweder die elysäischen Felder oder die hesperischen Gärten vor und bestand aus acht großen, blühenden und früchtetragenden Pomeranzenbäumen, die Hinterwand aber war von dem Gärtner mit Wintergrün und Blumenkränzen zusammengesetzt. Die Kinder traten auf, an deren Putze Mariane ihren ganzen Geschmack und an deren Köpfen Picard seine ganze Kunst erschöpft hatte. Dies machte, daß das Spiel den Beifall der Frau von Hohenauf erhielt, wozu auch nicht wenig beitragen mochte, daß sie darin als eine Göttin und ihr Geburtstag als ein Götterfest vorgestellt war.

Die ganze Gesellschaft erteilte einen lauten Beifall; und da die Kinder nach Endigung des Spiels in ihrem Anzuge vom Theater herabstiegen, wurden sie von jedermann und auch von der Frau von Hohenauf mit Liebkosungen überhäuft. So wie sie alle Dinge aus ihrem eigenen Gesichtspunkte betrachtete, so konnte sie nicht genug bewundern, wie natürlich der Schäferhabit dem kleinen Predigersohne stände; aber sie fand, daß ebendiese Art von Kleidung ihr jüngstes Fräulein verstelle, ob sie gleich, mit einem gnädigen Kopfneigen gegen Marianen, bemerkte, die Arbeit daran wäre sehr artig. Fräulein Adelheid hingegen, in ihrer von Zindel und Flittern glänzenden Nymphentracht, hatte ihren ganzen Beifall. Sie umarmte sie und spielte mit ihren über den Busen gelegten falschen Locken, die ihr prinzessinnenmäßig vorkamen.

»Dieser majestätische Anzug schickt sich besser für ein[157] Fräulein deines Standes«, sagte sie, »als das Schäferkleid deiner Schwester.«

Die kleine Adelheid, die ihrer Schwester den leichten fliegenden Anzug und die natürlich herabfallenden Locken beneidet hatte, schlug die Augen nieder und durfte nicht widersprechen.

»Nicht wahr, mein Kind«, fuhr die Mutter fort, »nicht wahr, ein Schmuck von Juwelen würde dir besser stehen als dieser schlechte Blumenkranz?«

»Ach nein, gnädige Mama, er würde doch nicht so schön riechen als die Blumen.«

»Einfältiges Kind! Was ist Geruch gegen Glanz? Du hast gespielt wie ein Engel, ich muß dich dafür belohnen. Eine Zitternadel ...«

Hier erinnerte sich die kleine Adelheid einer Rolle, die ihr, außer der von Säuglingen aufgeschriebenen, von Marianen mündlich aufgetragen war.

Es hatte ein armer Pachter eines Bauerguts auf des Herrn von Hohenauf Wildbahn geschossen. Der Jäger hatte ihm das Gewehr weggenommen. Seit sechs Wochen lag er im Gefängnisse, und man machte ihm den Prozeß, um ihn an die Karre schmieden zu lassen. Indes der Wirt und Versorger des Hauses fehlte, schmachteten seine Frau und fünf Kinder im Elende. Die gutherzige Mariane hatte ihnen, so gut sie konnte, beigestanden. Sie hätte auch längst gern für den armen Gefangenen eine Vorbitte eingelegt, aber sie empfand, daß sie es ohne Hoffnung des Erfolgs wagen würde. Sie hatte daher zuerst darauf gedacht, dieses Fest anzustellen, um dabei durch Fräulein Adelheid, den Liebling ihrer Mutter, die Loslassung des Gefangenen zu bewirken, wenn ihre Eltern, durch das Vergnügen des Festes in gute Laune gebracht, geneigter sein möchten, ihr Herz dem Mitleide zu öffnen.[158]

Fräulein Adelheid hatte also kaum gehört, daß sie für ihr Spielen belohnt werden sollte, so ergriff sie diese Gelegenheit begierig, fiel ihrer Mutter zu Füßen und rief aus: »Ach, gnädige Mama, wenn Sie mich belohnen wollen, so lassen Sie mich selbst die Belohnung wählen. Geruhen Sie, mir eine einzige Bitte zu gewähren, schlagen Sie mir nicht ab, was ich Sie bitten will.«

»Was verlangst du, mein Kind? Ich kann dir nichts abschlagen.«

»Oh, meine gnädige Mama, so erbarmen Sie sich einer armen Frau und fünf Kinder, alle noch viel kleiner, viel unerzogener als ich und die ihren Vater so nötig haben. Bitten Sie den gnädigen Papa, daß er den armen Jakob loslasse, der im Gefängnisse liegt; geben Sie das Geld für die Zitternadel, die Sie mir zugedacht haben, seiner armen Frau und Kindern.«

»Fräulein«, sagte die Frau von Hohenauf mit einem Angesichte voll kalten Ernstes22, »was geht mich und dich das Diebsgesindel an?«

»Ach, gnädige Mama, wenn Sie sehen sollten, wie elend die Leute sind, wie sie an allem Mangel leiden, was wir im Überflusse haben, wie sie frieren, wie sie hungern, wie drei von den Kindern auf elendem Strohe krank liegen.«

»Mädchen, woher kannst du dies wissen?«

»Ach, ich habe es gesehen, liebste, beste Mama, ich habe es selbst gesehen.«

»Gesehen? Ich erstaune ganz; wie kommst du mit dem Lumpenpacke zusammen? Gleich gestehe es mir, ich will es wissen!«[159] Fräulein Adelheid, stammelnd, blickte Marianen an, die ihre Augen niederschlug. Die Frau von Hohenauf wiederholte ihren Befehl, und das Fräulein berichtete:

»Ach, meine Mamsell hat mich hingeführt. Sie glauben nicht, gnädige Mama, wie gut sie ist, sie hat die armen Leute schon seit sechs Wochen erhalten, daß sie nicht vor Hunger und Frost umgekommen sind. Ach, ich habe auch gern mein ganzes Spargeld hingegeben, mehr konnte ich nicht, aber Sie, gnädige Mama, können mehr, Sie können die Kinder glücklich machen, wenn Sie den Vater loslassen.«

»So, Mademoiselle«, sagte Frau von Hohenauf, indem sie Marianen mit selbstgefälliger Würde über die linke Achsel ansah, »Sie führt meine Fräulein in schöne Gesellschaft, um Lebensart und monde zu lernen.«

»Ach, gnädige Mama ...«

»Schweig still, das verstehst du nicht. Es sind Diebe, die deines Vaters Forsten bestohlen haben, sie müssen hart gestraft werden, damit sich das andere Gesindel daran spiegele.«

»Ach, der arme Jakob verspricht Besserung, er will künftig lieber hungern als Wild schießen. Aber, gnädige Mama, die Kinder, die armen kleinen Kinder hatten nichts zu essen.«

»Schweig! Um solch Lumpengesindel mußt du dich nicht bekümmern.«

»Ach, liebste Mama«, rief Fräulein Adelheid schluchzend, »es sind Gottes Geschöpfe, Menschen wie wir – und unglücklich!«

»Fí, Fräulein, ist das auch eine von den schönen Lehren, die dir deine Mamsell gibt? Menschen wie du? Du bist von Stande, die Bauern nicht, sage mir kein Wort mehr hievon.«[160]

»Ach, gnädige Mama, sie bauen ja das Getreide, das wir essen. – Mein Großpapa ist ja auch ein Pachter gewesen, erbarmen Sie sich – Großpapa ist ja auch wohl arm gewesen, ehe er reich ward.«

Eine derbe Ohrfeige von der Hand der in äußerste Wut gesetzten Mutter unterbrach das gute Kind. Bisher war dies wichtige genealogische Geheimnis jedermann, soviel wie immer möglich, verborgen worden; und hier ward es öffentlich, in einer großen Gesellschaft von turnier- und stiftsfähigem Adel beiderlei Geschlechts ausgeplaudert! Dies war freilich ein niederschlagender Vorfall, zumal da in dem Gesichte mancher Umstehenden, denen das Bewußtsein von sechzehn reinen Quartieren ein gut Gewissen gab, einige Mienen ein wenig Schadenfreude über diese Demütigung einer mesallierten Familie erkennen zu geben schienen.

Die Frau von Hohenauf wollte noch einige Minuten Kontenance halten und fragte das Fräulein mit zorniger Miene, wer ihr solch dummes Zeug in den Kopf gesetzt hätte.

Das Kind konnte auf wiederholtes Befragen nicht leugnen, es von ihrer Mamsell gehört zu haben. Dies brachte die Frau von Hohenauf aufs neue in Wut. Sie befahl Marianen, ihr den Augenblick aus den Augen zu gehen, stieß ihre Tochter von sich und würde ihr vielleicht nochmals übel begegnet haben, wenn sie nicht die umstehenden Damen in Schutz genommen und der Frau von Hohenauf durch allerhand Gründe zugeredet hätten, dem Kinde ein unbedachtsames Wort zu vergeben und, einem so vergnügten Tage zu Gefallen, vielmehr ihre Bitte zu gewähren. Aber die Frau von Hohenauf ward durch diese Vorstellungen sehr wenig besänftigt, ob sie gleich sich zwingen und mit verbissenen Lippen höfliche Antworten geben mußte.[161]

Endlich wendete sich die Gräfin von ***, die unter den Vorbitterinnen sich am geschäftigsten erwiesen hatte, an den Herrn von Hohenauf, der bei der ganzen Szene sich noch nicht getrauet hatte, ein Wort zu äußern. Sie bat ihn, dem Geburtsfeste seiner Gemahlin zu Ehren, den Gefangenen loszulassen.

Der Herr von Hohenauf, mit eiskaltem Schweiße vor der Stirne, konnte mehr nicht als ein gestammeltes »In der Tat ... meine gnädige Gräfin ...« hervorbringen. Es war ihm wirklich gleich unmöglich, einer so vornehmen Dame eine so kleine Bitte abzuschlagen als wider den ausdrücklich erklärten Willen seiner Gemahlin etwas zu tun.

Die Gräfin, die ihren Mann sogleich übersah, wendete sich abermal an die Frau von Hohenauf, nahm sie bei der Hand und sagte mit liebreizender Miene: »Die Göttinnen können nicht Rache halten, sondern lieben die Vergebung. Kein Götterfest kann ohne Wohltun vollbracht werden. Ich fordere den Gefangenen von Ihnen als ein Dessert bei der Abendtafel; wollen Sie uns ohne Dessert lassen nach Hause fahren?«

Die Frau von Hohenauf hatte unter diesen Reden Zeit gehabt, sich zu besinnen, was der Anstand erfordere; sagte also mit gezwungen verbindlicher Miene: »Sie verlangen von mir eine Sache, wider die ich gar nichts einzuwenden habe, sondern die bloß von dem Herrn von Hohenauf abhängt. Der ist Erb-, Lehns- und Gerichtsherr.«

»Nun, mein gnädiger Herr von Hohenauf«, sagte die Gräfin, indem sie sich zu ihm wendete, »habe ich eine Fehlbitte getan?«

Dieser, mit einem Male seit einer halben Viertelstunde wieder tief frische Luft schöpfend, machte einen sehr tiefen Reverenz und murmelte einige Worte her,[162] die, obgleich unverständlich, doch nichts anders als seine Einwilligung bedeuten konnten.

Sobald die Gräfin davon gewiß war, so riß sie Säuglingen, der über dem großen Lärmen voll Todesangst dagestanden hatte, den Hut aus den Händen, warf einige Karolinen hinein und gab ihn ihm zurück. Dieser, erfreut über den Wink, ahmte ihr nach und ging mit dem Hute in der Hand zu allen anwesenden Gästen, in der ehrenvollen Beschäftigung, für bedürftige Unglückliche eine Beisteuer zu sammeln, schämte sich auch nicht, aus Freuden über den glücklichen Ausgang einer Sache, über die ihm von Anfange an das Herz geklopft hatte, manche Träne fließen zu lassen, worin ihm die Gräfin und noch mehrere schöne Augen Gesellschaft leisteten. Indem dieses geschah, führte die Gräfin die zitternde Adelheid zur völligen Versöhnung in ihrer Mutter Umarmung und erhielt auch, mit einiger Mühe, für Marianen die Erlaubnis, wieder zu erscheinen und durch Küssung des Rocks der Frau von Hohenauf um Vergebung zu bitten, daß sie menschlich gedacht hatte.

Die Gesellschaft ging darauf in den großen Saal, um sich zum Spiele zu setzen. Säugling aber, der sich ein viel süßeres Vergnügen vorbehielt, schlich nach dem Hinterhofe, ließ einen Wagen anspannen, erlösete den ganz betäubten Jakob aus dem Gefängnisse, führte ihn selbst wieder zu seiner bisher verlassenen Familie und schüttete die ansehnliche Summe, die er für sie gesammelt hatte, in den Schoß der Hausmutter aus, die bei so vielem Glücke, das auf so viel Unglück so schnell folgte, vor Freuden verstummte. Er genoß die Wollust, das Haus des Elends und des Klagens in ein Haus der Freude verwandelt zu sehen, genoß den stammelnden Dank des Hausvaters und der Hausmutter, empfand den Druck der kleinen Hände der Kinder, die vor Freude[163] weinend an seine beiden Seiten hingen, und neigte sich liebreich zu den lallenden kleinen Kranken, die, von ihren Eltern ermuntert, aus dem Strohlager ihre matten Hände emporzuheben suchten, um ihrem Wohltäter zu danken.

Er hätte sehr gern Marianen mitgenommen, um sie diese süße Szene, die Frucht ihrer menschenfreundlichen Anlage, mit genießen zu lassen, wenn er nicht die Denkungsart seiner Tante allzu genau gekannt hätte. Er hatte ein für schöne Handlungen empfindliches Herz, und obgleich seine kleine Eigenliebe nicht ermangelte, ihm darüber ein Kompliment zu machen, daß dieser Endzweck durch sein Drama erreichet worden, so war er doch durch Marianens großmütige Gesinnungen, deren ganzes Verdienst um die unglückliche Familie er jetzt erst in seinem völligen Umfange erfahren hatte, äußerst gerührt. Er stieg bei seiner Zurückkunft sogleich in ihrem Zimmer ab, und nachdem er ihr von seiner kurzen Fahrt Bericht erstattet hatte, ließ er seiner warmen Empfindung freien Lauf, er pries sie als die Ehre ihres Geschlechts, als die schönste Seele, welche ihrer Tugend wegen das glücklichste Schicksal verdiente.

Mariane, voll von dem heitern Vergnügen des edelmütigen Wohltuns, aber von allem Dünkel entfernt, sagte: »Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht allzusehr! Ich habe nur eine sehr gemeine Pflicht beobachtet; denn Sie werden doch nicht glauben, daß eine weibliche Seele solcher Empfindungen weniger fähig sei, die billig ein jeder Mensch haben sollte.«

Indem sie dieses sagte, warf sie, ohne es selbst zu wissen, auf Säuglingen einen Blick, der seine ganze Seele traf, einen Blick, wovon diejenigen, die er jemals traf, versichern, daß er tief empfunden werde, aber daß sich seine Wirkung nicht beschreiben lasse. Professor Stiebritz,[164] der Wolffische Philosoph, würde ihn vielleicht folgendermaßen definiert haben: Es sei ein Blick gewesen, wodurch auf einmal Säuglings symbolische Kenntnis von Marianens Vollkommenheiten anschauend geworden sei. Soviel ist gewiß, daß von diesem Augenblicke an mit seiner Hochachtung für Marianen eine wahre Freundschaft verknüpft ward. Wenn nun, wie man sagt, die Freundschaft zwischen Personen zweierlei Geschlechts sehr bald einen viel zärtlichern Namen zu verdienen pflegt, so ging in diesem Augenblicke in Säuglings Herzen eine Veränderung vor, deren ganze Wichtigkeit er erst in der Folge spürte.

22

Die deutsche Sprache, an Konversationsausdrücken sehr arm, hat kein eigentliches Wort für Sostenutezza, und doch ist an vielen gnädigen und nichtgnädigen deutschen Herren und Damen die Sostenutezza eine der gewöhnlichsten Eigenschaften.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 154-165.
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