Vierter Abschnitt

[297] Nachdem Rambold auf diese Art sein Plänchen so einfach als künstlich angelegt hatte, erwartete er ruhig den erwünschten Erfolg, sehr zufrieden mit seiner schlauen Erfindung. Die übrigen Personen hingegen wurden durch ihre Lage unvermerkt immer unruhiger, unzufriedener und unwilliger gegeneinander.

Marianen mißfiel es, daß ihr der Oberste beständig nachfolgte und fortfuhr, sie mit vieler Dreistigkeit seiner Liebe zu versichern, so trocken und frostig sie ihn auch abgewiesen hatte. Nicht weniger unzufrieden war sie mit Säugling, den sie im Verdachte hielt, daß er das Fräulein heimlich liebte; und weder seine Briefchen, worauf sie nie antwortete, noch seine Verschen, von denen sie argwohnte, daß sie mehr aus der Phantasie als aus dem Herzen herrührten, konnten sie zufriedenstellen.

Das Fräulein war äußerst erbittert, alle Versuche, ihre beiden Liebhaber wieder zu sich zurückzubringen, fruchtlos zu sehen. Weil sie aus Politik ihren Zorn nicht ganz auslassen durfte, so blieb nichts übrig als der armselige Behelf, Marianen das Übergewicht eines höhern Standes fühlen zu lassen. Dies veranlaßte verschiedene kleine unangenehme Szenen, wodurch doch die üble Laune des Fräuleins nicht vermindert ward, da sie Marianen nur kränkten, ohne sie zu demütigen.

Der Oberste war nicht wenig verdrießlich, weil das Fräulein seiner Liebe gegen Marianen im Wege stand, welche er gern mit seiner Liebe gegen das Fräulein vereinigt hätte, zumal da er die Verbindung mit der letztern anständigerweise nicht ganz und gar aufheben konnte. Säuglingen war er herzlich gram, weil er sich einbildete,[297] dieser sei bei Marianen besser gelitten als er; und mit Marianen war er auch nicht sonderlich zufrieden, weil dies kleine Mädchen, welcher er die Ehre einer gelegentlichen Eroberung zugedacht hatte, sich gegen eine Person von seinen Verdiensten so gar spröde bezeigte, daß es noch ungewiß schien, ob sie nicht auch einer förmlichen Belagerung würde widerstehen wollen.

Säugling war unglücklich, denn er liebte Marianen herzlich, daher konnte er ihre Zurückhaltung nicht ertragen, die er bloß einer wirklichen Abneigung gegen ihn zuzuschreiben wußte, da er ihre verborgene Eifersucht nicht merkte. Dies kostete ihm viele Seufzer und nicht wenig Verse. Aber eben sein zweites Unglück war, daß seine Gedichte, deren gute Aufnahme in dieser Gesellschaft ihm bisher eine so seltne Glückseligkeit verschafft hatte, nun sehr zu fallen anfingen, wovon er die Ursachen gar nicht einzusehen vermochte. Sie waren gleichwohl sehr natürlich. Mariane schwieg davon gemeiniglich ganz still, weil sie sich fürchtete, ihre geheimen Bewegungen unvermerkt zu verraten, welche sie zu verbergen so wichtige Ursachen fand. Das Fräulein hatte immer etwas daran zu tadeln, weil ihr die Eifersucht eingab, sie wären an Marianen gerichtet oder spielten auf sie an; und der Oberste, der sich nie im Ernste um Verse bekümmert hatte, fand nicht nötig, wie vormals sich zu stellen, als ob sie ihm gefielen, vielmehr pflegte er in seiner jetzigen üblen Laune sich oft geradezu darüber aufzuhalten. Zum Unglücke für Säugling ward er darin zuweilen von der Gräfin unterstützt, deren feiner Geschmack schon längst in Säuglings Liedern eine gewisse Einförmigkeit und Schlaffheit wahrgenommen hatte, wofür ihm selbst der Sinn fehlte. Da er nun unablässig fortfuhr, täglich neue Gedichte vorzulesen, so nahm sich die Gräfin im Ernste vor, dem[298] sonst unbescholtenen guten Jünglinge die kleine Torheit des Versemachens abzugewöhnen.

Als einst die Frau von Ehrenkolb Mittagsruhe hielt und die übrige Gesellschaft im Garten spazierte, ergriff die Gräfin Säuglings Arm, führte ihn in einen Gang besonders, und nachdem sie das Gespräch auf Lektur gebracht hatte, sagte sie ihm geradeheraus: Gedichte wären nicht die Lektur, die sie am meisten liebte.

Säugling, nicht wenig beschämt und bestürzt, versetzte mit stammelnder Stimme: »Ew. Gnaden scherzen vielleicht. Es schien mir doch sonst, als ob Sie die schöne Literatur liebten.«

Gräfin: O ja, ich liebe sie ungemein. Aber Sie wissen, sie hat einen weiten Umfang, und die Poesie ist nur ein Teil davon. Diesen zu hassen, bin ich weit entfernt. Ich liebe vielmehr Gedichte herzlich, aber nur, wenn sie vortrefflich sind; sie wirken alsdann mit unbeschreiblichem Reize auf mich und bleiben meiner Seele tief eingeprägt. Aber Sie wissen, der ganz vortrefflichen Gedichte sind nur sehr wenige. Was die übrigen anbetrifft, so sind sie ganz gute Dingerchen, die man allenfalls einmal anhören, aber auch entbehren kann; und mich dünkt immer, die Augenlider sind einem leichter, wenn man sie entbehrt.

Säugling: Vielleicht sprechen Ew. Gnaden nicht ganz im Ernste; die Damen pflegen doch sonst, wenigstens glaube ich es so gefunden zu haben, unter aller übrigen Lektur am meisten Gedichte zu lieben ...

Gräfin: Glauben Sie das nicht, mein lieber Säugling; oft kaum, wenn wir darin gelobt werden, finden wir sie erträglich. Unter uns gesagt, wir haben oft herzliche Langeweile, wenn man sie uns vorlieset. Wir gähnen innerlich und trauen uns nicht, den Mund aufzutun.

[299] Säugling: Ach, ich merke schon, hier ist ein kleines Mißverständnis. Sie wollen sagen:


Die großen Verse, welche man

Auf einem großen Amboß schmiedet,

Die lies't man nicht, man wird ermüdet;

Ihr Donner störet unsre Ruh.

So großer Lärm, wozu? wozu?


Allein die kleinen niedlichen Verse:


Die kleinen Dingerchen, die sich

Gefällig zu Gedanken schmiegen,

Zwar nicht bis an den Himmel fliegen,

Jedoch auch nicht, dahin verstiegen

Und dann gestürzet, jämmerlich

Zerschmettert auf der Erde liegen:

Die kleinen Dingerchen lieb ich!

Sie pflegen sich mit Artigkeit

In das Gedächtnis einzuschleichen,

Darin zu bleiben und nicht weit

Den großen Versen auszuweichen.


Gräfin: Ach, das ist meine Meinung gar nicht; am wenigsten, wenn die kleinen Dingerchen voll kalter Tändeleien sind! Meinen Sie denn, daß dem Frauenzimmer das Süße und Tändelhafte so sehr gefällt? Wir sind nun freilich, weil es Ihrem Geschlechte so beliebt, das schwächere; aber glauben Sie mir, wir lieben an uns selbst die Schwäche nur, insofern sie uns schön und niedlich macht, und wer weiß, ob's nicht gar bloße Eitelkeit bei uns ist, daß wir die Mannspersonen nicht niedlich sehen mögen? Wissen Sie wohl, Säugling, daß Sie zu schön sind und daß ich auf Sie eifersüchtig bin? Wenn Sie mich beruhigen wollen, waschen Sie sich und Ihre[300] Gedichte nicht mehr mit Essenzen und lassen sich lieber ein wenig von der Sonne verbrennen. Hören Sie wohl! Schreiben Sie mir eine gute derbe Prose, so für den gesunden Menschenverstand, ohne Niedlichkeit. Oder, nehmen Sie sich in Acht, wenn Sie mich böse machen, verdamme ich Sie zum großen Amboß ...

Indem die Gräfin dieses sagte, erblickte sie das Fräulein und den Obersten, die aus einer benachbarten Allee auf sie zukamen.

»Kommen Sie«, rief sie, weil sie den armen Säugling ein wenig quälen wollte, »kommen Sie, meine Liebe, helfen Sie mir die kleinen tändelnden Liederchen gegen den Herrn von Säugling verteidigen. Stellen Sie sich nur vor, er will ihnen entsagen! Wenn wir ihn gehenlassen, so wird er große, mächtige Hexameter schmieden wollen, und dann ist er für uns verloren.«

Das Fräulein antwortete mit sauersüßer Miene: »Ach nein, dazu ist der Herr von Säugling viel zu zärtlich! Er wird nur merken, was ich schon lange gedacht habe, daß die deutsche Sprache überhaupt zu bäurisch ist, um liebliche Ideen auszudrücken. Er wird künftig französisch schreiben für die große Welt, nicht für die ungeschliffenen deutschen Bürger. Er liebt ja ohnedies die französische Nation vor allen andern.« Hiebei blickte sie Marianen, die aus einer andern Allee zu ihnen kam, spöttisch über die Achsel an.

Die Gräfin verstand den Stich, wollte ihn aber nicht verstehen, fuhr daher im scherzenden Tone fort:

»Nein, Säugling, wenn doch einmal das Schicksal beschlossen hat, daß es Ihnen unglücklich gehen soll, so werden Sie lieber ein Original als ein solches Mittelding, wie die meisten Schriftsteller sind, die in Deutschland französisch schreiben: in Frankreich fremd, in Deutschland nicht zu Hause. C'est à Paris qu'il faut écrire! ruft[301] der Franzose mit vollen Backen, und wenn er von seiner Sprache redet, mag er immer recht haben.«

Unter diesem Gespräche erreichten sie eine Laube, wo sie sich niedersetzten, und kurz darauf kam ein Bedienter, der Gräfin zu melden, daß von der durchfahrenden Landkutsche ein wohlgebildetes, aber todkrankes Frauenzimmer bei dem Prediger sei abgesetzt worden. Die Gräfin, bei welcher Handlungen der Wohltätigkeit allen Vergnügungen vorgingen, begab sich sogleich dahin und nahm Marianen mit sich.

In ihrer Abwesenheit nahm das Gespräch eine nicht sehr angenehme Wendung. Das Fräulein hatte mit dem Obersten über ihr beiderseitiges Mißvergnügen kurz vorher eine Erläuterung unter vier Augen gehabt, wodurch ihre gute Laune eben nicht vermehrt worden war. Von Natur eigensinnig und auffahrend, wie sich's auch für eine Petite-maîtresse gebührt, war sie nun äußerst bitter darüber, daß man ihren Reizungen den Sieg streitig machen wollte, und ließ jetzt ihren Zorn durch eine Menge Spöttereien über Säuglings unveränderliche Ergebenheit gegen Marianen ausbrechen. Der Oberste, ganz froh, daß ihre Pfeile nur auf Säugling gerichtet waren, hielt sich außer dem Schusse und sagte bloß etwa hie und da ein Wort. Säugling aber bekam Mut von seiner Liebe, und da er sich ohnedies vorgenommen hatte, mit dem Fräulein, das er nie geliebt hatte, ganz zu brechen, so verteidigte er sich nachdrücklich, obgleich anständig; ja sein offnes Herz floß von Marianens Lobe über, wovon es immer voll war. Das Fräulein verlor darüber alle Geduld und Fassung und rückte auf dem Stuhle hin und her, aus Verdruß stillschweigend.

Gerade zu dieser Zeit kam Mariane zurück, ohne etwas von diesem Gespräche zu wissen. Sie erzählte, indem sie sich die Augen trocknete: »Das unglückliche[302] Frauenzimmer ist höchst zu bedauern. Sie ist eine Person bürgerlichen Standes von guter Herkunft. Sie hat einen Leutnant aus Liebe geheiratet, der kurz vor dem Frieden in einem Scharmützel tötlich verwundet ward. Er erhielt zwar wegen seines Wohlverhaltens eine Kompanie, aber das Regiment ward nach erfolgtem Frieden abgedankt. Sie hat, in seinem langwierigen Krankenlager, was sie gehabt, zu seiner Heilung verwendet, und nun ist er gestorben. Sie steht im Begriffe, zu weit entfernten Verwandten ihre Zuflucht zu nehmen. Von Gram und Nachtwachen entkräftet, ist sie unterwegs so krank geworden, daß sie ohne Lebensgefahr nicht weiterreisen kann. Den Beweis dieser Aussage haben wir in einigen Briefschaften der Kranken gefunden. Die Gräfin ist sehr gerührt und hat mich vorausgeschickt, um einen Reitknecht nach der Stadt zu einem Arzte zu senden und einen Wagen anspannen zu lassen, denn sie will die Kranke selbst nach dem Schlosse begleiten. Sie läßt sich bei der Gesellschaft ihres langen Außenbleibens wegen entschuldigen.«

Säuglingen trat eine mitleidige Träne ins Auge, der Oberste drehte sich auf einem Absatze herum, und das Fräulein, dessen innerer Unmut aufs höchste gestiegen war, fuhr hart heraus: »Die Gräfin beweiset in der Tat übertriebene Gütigkeit, daß sie alles Gesindel bei sich aufnimmt. Eine Person von der Landstraße! Am Ende geht's Personen so, die sich über ihren Stand erheben wollen. Wer weiß, wo sie Kammermädchen oder Gesellschaftsjungfer gewesen ist. – Es ist Zeit, daß wir abreisen, denn die Gesellschaft ...« Hier nahm sie eine Prise zur Kontenance, ließ ihre Dose fallen und rief Marianen: »Mein Kind, nehme Sie mir doch die Dose auf!« Mariane, über die ganze Szene erstaunt, stand sprachlos da, denn soweit hatte das Fräulein die Unhöflichkeit[303] noch nie getrieben. Säugling sprang auf und überreichte dem Fräulein die Dose.

»Lassen Sie«, rief sie, »lassen Sie, Herr von Säugling, Mariane wird sie schon ...«

Säugling nahm allen seinen Ernst zusammen und versetzte: »Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein! Ihnen aufzuwarten halte ich nur für meine Schuldigkeit.«

Das Fräulein maß ihn mit den Augen von oben bis unten und schlug ein bitteres Gelächter auf.

Mariane, welche empfand, daß die Demütigung, wodurch sie bis zu einer gemeinen Dienstmagd heruntergesetzt werden sollte, zu den Beleidigungen gehöre, wofür man keine Worte hat, um sich darüber zu beschweren, so grob sie auch sind, konnte nicht verhindern, daß sich nicht eine Träne in ihr Auge drängte, und ging stillschweigend ab, doch nicht ohne auf Säugling einen Blick zu werfen, worin er ihr ganzes Herz las.

Der Oberste, ob er schon an sich Marianen diese Demütigung erspart hätte, war doch wohl damit zufrieden, weil er glaubte, sie würde Säuglingen verdrießen, den er haßte, weil er ihn von Marianen geliebt glaubte. Um ihn noch mehr zu kränken, spottete er unhöflich über Marianen, nachdem sie weggegangen war.

Beleidigungen, die stufenweise steigen, können endlich den geruhigsten Menschen aufbringen, und wenn er edel denkt wie Säugling, so wird er die Beleidigung seiner Geliebten höher empfinden als seine eigene.

Säugling antwortete also dem Obersten lauter und entschlossener als jemals; der Oberste fuhr im hohnneckenden Tone immer weiter fort, bis ihm Säugling sehr trocken sagte:

»Ich kann Ihnen in Gegenwart des Fräuleins hierauf weiter nicht gehörig antworten, aber wir wollen uns deshalb besonders sprechen.«[304]

Der Oberste lachte ihm in die Zähne und rief spöttisch: »Mein gutes Herrchen, trotz des kleinen Federhuts, den es Ihnen zu tragen beliebt, sind Sie nicht von solchem Stande, daß ich Ihnen Satisfaktion geben werde.«

»So«, rief Säugling, »Sie halten mich für wehrlos und erlauben sich doch, mich anzugreifen? Ist dies wie ein Mann von Ehre gedacht? Aber ich bin nicht wehrlos. Wenn Sie mir nicht Genugtuung geben wollen, werde ich sie mir nehmen, oder Sie müßten jede kahle Stichelei doppelt von mir zurückbekommen und es ruhig ertragen wollen.«

Der Oberste ward lauter, Säugling auch. Das Fräulein saß ruhig und wiegte sich mit dem Gedanken, auszusprengen, daß um ihretwillen ein Zweikampf geschehen wäre. Die Gräfin kam zurück, nachdem sie die Kranke bis in das für sie bereitete Zimmer begleitet hatte, forschte nach der Ursache des Streits, gab dem Obersten unrecht und vereinigte beide um soviel leichter, weil der Oberste eben kein Liebhaber vom Halsbrechen war und sich wirklich eingebildet hatte, der sanfte Säugling sei ein bloßes Jungferngesicht und werde, was es auch sei, ohne Antwort einstecken.

Unterdes ging Mariane im Garten herum, um sich zu fassen, weil sie die Gräfin mit Erzählung des unangenehmen Vorfalles nicht kränken wollte, zumal da sie wußte, die Ehrenkolbische Familie werde nächstens abreisen. Rambold begegnete ihr, indem er, voll von seinem Projekte, im Garten irrte. Sie gab ihm den Arm, weil sie durch seine Unterhaltung ihre Gedanken am geschwindesten zu zerstreuen hoffte. Rambold schwatzte, wie schon gedacht, vielerlei von gelehrten Sachen, war voll von Anekdoten und Journalhistörchen, und die gute Mariane, mit einem ziemlichen Ansatze, eine Gelehrte vorzustellen,[305] mochte gern diese gelehrten Diskurse hören, um soviel mehr, da aus der Gesellschaft der Gräfin alles Ansehen von Belesenheit verbannt war.

Rambold hub also an die lange Geschichte von der Regierung Königs Johann Christoph des Dummen und Königs Johann Jakob des Gescheuten53 und von ihrem Streiten um die Monarchie und von ihren Schlachten und wie sie gewannen, indem sie verloren, und verloren, indem sie gewannen. Und wie unter vielem Getümmel und fruchtlosem Streben nach der Alleinherrschaft der Geist der Freiheit erwacht sei unter dem Volke und entstanden seien Demagogen, die Literaturbriefsteller, die laut gerufen, das ganze Volk habe gleiches Recht, seine Meinung zu sagen über alle Vorfälle; und wie keine Oberherrschaft sei gewesen und wie jedermann habe gedacht und getan, was ihm recht deuchte; und wie man die Demagogen im Verdachte gehabt habe, daß sie wollten Könige werden und Ephoren der Könige; und wie diese schwachen Köpfe nicht daran gedacht, sondern ihre Hantierung getrieben hätten, ohne ins Forum zu kommen, und wie da gar keine Zucht und Ordnung sei gewesen unter der Menge. Und wie sich da hätten weise und erlauchte Männer zusammengetan und hätten festgesetzt, dem Volke sei es nützlich, wenn es beherrscht werde. Hätten ausgemacht, daß stattliche und ernsthafte Männer sollten am Regimente sein, sollten umtun[306] lange Feierkleider und aufsetzen grüne Eichenkränze, sollten sitzen auf breiten Stühlen und sollte ihnen jedermann tiefe Reverenzen machen und desgleichen mehr. Hätten auch Ratsfahrten angesetzt und Gerichtstage, Gesetze gemacht und Strafen verordnet; und wäre nunmehr alles richtig: nur, wer regieren solle, wisse man noch nicht, darüber wären die Herren sehr uneins; und solange diese Uneinigkeit dauere, habe mancher noch Hoffnung, in den Rat zu kommen; und würden darüber heimliche Unterhandlungen gepflogen, woran er, Rambold, vielen Anteil habe und gewiß glaube, wegen seiner weitläuftigen Verbindung mit vielen Zunftmeistern und Ausrufern noch ein ansehnliches Ehrenamt davonzutragen.

Alle diese Nachrichten hörte Mariane an, bloß weil sie ihr ganz neu waren, ob sie gleich sonst an diesen gelehrten Reichsangelegenheiten, bei aller ihrer Liebe zur Lektur, keinen Teil zu nehmen wußte; so wie etwa wunderbare Geschichten von neuentdeckten Völkern im Südmeere der Sonderbarkeit wegen Aufmerksamkeit erregen auch bei denen, die sonst nicht Lust haben, diese fremden Völker zu besuchen, die sich weder von den otaheitischen Jungfern voll Süßigkeit wollen liebkosen noch von den neuseeländischen Herren voll Stärke wollen fressen lassen.

Unter diesem langen Gespräche hatte sie Rambold unvermerkt in das an den Garten stoßende Wäldchen geführt; sie waren in demselben schon eine ziemliche Strecke fortgegangen, als plötzlich einige starke Kerle hinter einem Baume hervorsprangen und Marianen ergriffen. Rambold war unbewaffnet. Er suchte zwar von einem Baume einen Knüttel abzureißen, hielt sich aber so lange dabei auf, daß Mariane gemächlich in einen nahe stehenden sechsspännigen Wagen geschleppt werden[307] konnte, der sogleich eiligst fortfuhr. Rambold lief zwar hinterher, und Mariane, die ihn erblickte, suchte herauszuspringen, aber sie ward festgehalten, und der Wagen kam ihm bald aus dem Gesichte. Er verweilte noch einige Zeit im Walde, damit die Entführer Zeit hätten, sich zu entfernen; hernach eilte er zurück, um außer Atem und mit erschrocknem Gesichte Marianens Entführung zu verkündigen. Die ganze Gesellschaft erstaunte. Säugling, dessen Nerven durch den Zank mit dem Obersten schon ziemlich erschüttert waren, bekam eine Anwandlung von Ohnmacht, erholte sich aber augenblicklich und eilte in den Stall, um ein Pferd satteln zu lassen, sosehr ihm auch Rambold dies zuwiderraten suchte, der endlich, als Säugling auf seinem Sinne blieb, selbst mit ihm Marianen nachritt. Der Oberst wollte ein gleiches tun, aber das Fräulein verlangte seinen Arm und seine Gesellschaft, führte ihn in den großen Saal und zwang ihn, Pikett zu spielen.

53

Gelehrte Meinungen, wenn sie auch eine Zeitlang noch so erheblich scheinen, und noch mehr die gelehrten Streitigkeiten darüber werden gemeiniglich bald vergessen. Daher ist's vielleicht nicht überflüssig, zu bemerken, daß sich Rambold und Mariane hier von Johann Christoph Gottsched und von Johann Jakob Bodmer und von einigen folgenden Begebenheiten in der gelehrten Republik unterhielten, wovon jetzt gar nicht mehr die Rede ist.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 297-308.
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