Vierter Abschnitt

[378] Er langte des Morgens früh um fünf Uhr vor Amsterdam, an dem Utrechter Tore, an. Gleich bei dem Aussteigen aus der Schuit kam ihm ein Deutscher entgegen, der ihn sehr dienstfertig: »Herr Landsmann!« anredete und sich erbot, ihn in eine gute Herberge zu bringen.

Sebaldus versetzte: »Wenn sie nur nicht zu kostbar ist, denn meine Barschaft ist gering. Ich bin ein armer abgesetzter Prediger.«

»Sie sollen sehr billig behandelt und doch gut bedienet werden«, rief der Herr Landsmann und griff nach Sebaldus' Reisesack, den er dienstwillig auf die Schulter nahm.

So traten sie bei Eröffnung des Tores in die Stadt. Sebaldus konnte nicht umhin, seine Freude zu bezeugen, daß er einen Deutschen gefunden, der ihn in dieser großen Stadt zurechteweise, zumal da er der Sprache noch nicht gänzlich kundig sei.

»Ach ja, ehrwürdiger Herr«, sagte sein Begleiter, »es ist mir Ihretwegen selbst lieb, daß ich mich von ungefähr[378] am Tore befunden. Sie können gar nicht glauben, ehrwürdiger Herr, wie gefährlich es in dieser Stadt ist. Insonderheit gibt es böse Leute, die man Seelenverkäufer nennet, welche die unerfahrnen Fremden, besonders Deutsche, mit List in ihre Häuser locken, um sie nach Ostindien in ein unbeschreibliches Elend zu verkaufen.«

Sebaldus erstaunte, daß es so boshafte Menschen geben könne. Indem schrie sie ein gemeines Weib auf holländisch heftig an:

»Sieh den verdammten Seelhund, da hat er wieder eine Seele!«

»Kommen Sie geschwind«, raunte ihm sein Begleiter ins Ohr, »dies ist eine Kreatur der Seelenverkäufer, welche mit uns Zank anfangen will, damit Sie im Tumulte den Bösewichtern in die Hände fallen sollen.«

Sie verdoppelten also ihre Schritte, um diesem Unglücke zu entgehen, und kamen endlich an das Haus, wo die Herberge sein sollte. Sie gingen eilig hinein. Die Tür ward hinter ihnen zugeschlossen. Wie erschrak aber Sebaldus, als ihn sein Begleiter in eine Art von Unterkammer stieß, wo ungefähr dreißig elende Menschen auf Stroh lagen. Er brach in die heftigsten Vorwürfe gegen seinen Begleiter aus, die dieser, nachdem er ihm einigemal in trotzigem Tone stillzuschweigen geboten hatte, durch derbe Schläge mit einem dicken Seile beantwortete, wovon Sebaldus ganz betäubt auf das Strohlager niederfiel.

Als er sich ein wenig erholte, sah er um sich eine Anzahl elender Schatten ähnlicher Menschen, durch Hunger, Blöße, Schläge, Krankheit und Kummer ganz ausgemergelt, von ihrem Strohlager aufkriechen. Neben ihm lag ein Mensch, günstigen Ansehens, aber vom Fieber ganz abgezehrt, der ihm auf seine laute Klagen mit matt aufgehobener Hand und schwacher Stimme hochdeutsch zusprach:[379] »Sei geduldig, Freund, denn es wartet dein noch mehr Elend; das meinige ist hoffentlich bald zu Ende.«

Sebaldus fiel wieder in schwermütiges Staunen, aus welchem er ungefähr nach einer Stunde erweckt wurde, da man ihn holte, um vor dem Seelenverkäufer zu erscheinen, der nicht längst aufgestanden war.

Er fand diesen Mann in einem sauber aufgeputzten Seitenzimmer, mit Huysums und Mignons Meisterstücken ausgeziert, das von dem Elende, womit im Keller Menschen gequält wurden, sowenig Spur zeigte als das wohlbeleibte Ansehen des hartherzigen Besitzers. Dieser nahm mit zufriedner Gebärde sein Frühstück zu sich, und vor ihm lagen Erbauungsbücher, aus denen er eben seine Morgenandacht hergelesen hatte. Denn Bücher dieser Art sind dem Schurken und dem schwachen ehrlichen Manne gleich behaglich. Der letztere zieht Trost im Unglücke und Befestigung frommer Entschließungen aus ihnen; jener aber, der den Mangel innerer Rechtschaffenheit durch äußere Religion ersetzen will und tägliche Gottlosigkeit unstrafbar gemacht zu haben glaubt, wenn er sie morgens und abends in vorgeschriebenen Gebeten bereuet, sucht die Unruhe seines Gewissens in der Ruhe einer selbstgefälligen Andacht zu ersticken.

Auch dieser Bube, der mit kalter Fühllosigkeit jeden Menschen im Elende konnte schmachten sehen, ließ es dabei an keiner äußerlichen Religionsübung mangeln. Er war in der gangbaren Landestheologie sehr bewandert und fand sogar durch dieselbe eine Hintertür, alles Böse, was ihn zu tun gelüstete, mit seiner phlegmatischen Gewissensruhe zu vereinigen; denn er hatte sich überzeugt, alles sei absolut notwendig, er sei daher prädestiniert, die Moffen68 zu schinden, und die Moffen seien[380] prädestiniert, sich von ihm schinden zu lassen. Deshalb konnte er mit ebender Gleichmütigkeit einen Moffen in seinen Keller stoßen sehen, womit der Koch einen lebendigen Krebs in den siedenden Kessel wirft.

Er fragte den Sebaldus, dessen geistlichen Stand er von seinem Unterhändler erfahren hatte, zuvorderst nach der Geschichte seiner Absetzung und nach seinen folgenden Begebenheiten; und da er dadurch dessen heterodoxe Meinungen erfuhr, ließ er sich mit ihm in einen theologischen Disput ein, dessen Ende war, zu behaupten, daß die dem Sebaldus aufgestoßnen widrigen Begegnisse eine Folge der göttlichen Strafgerechtigkeit wären, deren unwürdiges Werkzeug er jetzt auch sein solle. Er führte ihm dabei zu Gemüte, daß er Gott versuchen würde, wenn er lieber zu den stinkenden Ketzern, den Kollegianten, gehen wollte als nach Batavia, der orthodoxen Stadt, wohin sich noch nie eine Ketzerei habe wagen dürfen. Er legte also dem Sebaldus einen schon aufgesetzten Kontrakt zur Unterschrift vor. Allein dieser weigerte sich, weil ihm die Art, wie er zu dieser Reise gezwungen werden sollte, eine schreckliche Aussicht gab, und verlangte endlich nach verschiedenem Hinundwiderreden wenigstens Bedenkzeit, welche ihm auch bis auf den morgenden Tag, aber länger nicht, verstattet ward, worauf ihn der Seelenverkäufer entließ und sich wieder ruhig zu seinem Erbauungsbuche kehrte.

Als Sebaldus in den Keller zurückkam, sah er das Stroh aufgeräumt und seine Unglücksgefährten teils in stummem Kummer, teils in fühlloser Sorglosigkeit, teils in tobender Verzweiflung. Nur sein vorheriger Nachbar lag noch in großer Schwachheit. Da Sebaldus' geistlicher Stand schon bekannt war, so verlangte der Kranke seinen Zuspruch, den ihm dieser, so trostlos er auch selbst[381] war, von ganzem Herzen gewährte. Der Kranke wurde dadurch in etwas erquickt und konnte nun die Erzählung und die Klagen des Sebaldus anhören, dem noch alles, was ihm diesen Morgen begegnet war, als ein Traum vorkam und der besonders sich noch nicht zu überreden wußte, daß Menschen so tief sinken könnten, ihre Nebenmenschen vorsätzlich ins Elend zu stürzen.

»Was bewegt diese Leute zu solcher Ungerechtigkeit?« rief er zuletzt aus. »Warum sind wir hier wie Übeltäter eingeschlossen? Was will man mit uns anfangen? Darf man in diesem Lande der Freiheit den friedsamen Wanderer unverschuldet ins Gefängnis schleppen? Ist bei der Obrigkeit kein Schutz wider so scheußliche Unterdrückung zu finden?«

»Er würde gewiß zu finden sein«, sagte der Kranke mit schwacher Stimme, »wenn ihr unsere Not nur bekannt werden könnte. Aber während der sechs Wochen, die ich in diesem abscheulichen Loche zugebracht habe, merkte ich genugsam, welche sichere Maßregeln unsere Peiniger nehmen, um dies unmöglich zu machen. Von außen hat diese Einrichtung das Ansehen, als ob der Zweck sei, ganz armen Leuten, die von allen Hilfsmitteln entblößet sind und freiwillig nach Ostindien gehen wollen, bis zur Abfahrt Nahrung und Equipierung zu reichen und sich durch das Handgeld, welches die Ostindische Kompanie gibt, und durch eine Verpfändung des künftigen Soldes wieder bezahlt zu machen. Es kann sein, daß die Absicht im Anfange ganz gut gewesen, aber jetzt wird sie durch die List hartherziger Bösewichter fast immer zu schändlichem Mißbrauche. Wenige gehen freiwillig, viele werden durch Ränke ins Garn gelockt, durch Peinigungen zur Unterschrift gezwungen, in Gefängnisse gesperrt, mit der elendesten Kost kaum beim Leben erhalten und zuletzt oft, von übler Begegnung[382] und Kummer abgemergelt, anstatt aller Erfordernisse zu einer Seereise von einigen tausend Meilen kaum mit ein paar groben Hemden versehen. Und für diese elende Verpflegung werden so große Kosten angesetzt, daß das unglückliche Schlachtopfer in Ostindien wohl sechs oder sieben Jahre nicht für sich, sondern für den Seelhund arbeiten muß. Oh, könnte doch die christliche Obrigkeit dieses Landes solche unmenschliche Begegnung allezeit wissen, sie würde gewiß die Gerechtigkeit, die sie sonst immer ausübt, auch hier ausüben. Sie hat wirklich schon in den wenigen Fällen, die zu ihrer Kenntnis gekommen sind, exemplarisch gestraft. Könnte die edle Ostindische Kompanie doch nur erfahren, wie unerhört man oft ihren Namen mißbraucht, sie würde zu ihrem Ruhme und zu ihrem Nutzen den Bösewichtern dies schändliche Handwerk dadurch legen, daß sie selbst auf dem ostindischen Hause diejenigen, die sich ihrem Dienste widmen wollen, öffentlich und freiwillig annehmen und unter der Aufsicht redlicher Leute unterhalten und ausrüsten ließe. Aber bis einst ein Menschenfreund die Stimme solcher Notleidenden zu den Ohren derer bringt, die dem Elende bis in die geheimsten Winkel nachspüren und ihm abhelfen können, wäre sehr zu wünschen, daß diese schreienden Ungerechtigkeiten wenigstens in Deutschland nicht unbekannt blieben. Man sollte sie dort in den Seestädten, auf allen Straßen, in allen Wirtshäusern, bei allen Zünften bekanntmachen, man sollte auf den Kanzeln davor warnen. Denn die Bösewichter schicken ihre Unterhändler nicht nur bis an die Stadttore Amsterdams, nicht nur bis an die Grenze, sie schicken sie nach Hamburg, Bremen und Stade. Sie gebrauchen unzählige Ränke, um den unvorsichtigen Seemann, den einfältigen Handwerker, den treuherzigen Bauer in ihre Schlingen zu ziehen. Ich selbst bin von[383] ihnen aus Bremen durch die süßesten Vorspiegelungen weggelockt und in diesen elenden Zustand gebracht worden; ich habe aber zur Vorsicht das Vertrauen, daß er sich nun bald endigen wird.«

Hier schwieg der Kranke aus Entkräftung, und Sebaldus war wieder seinen traurigen Gedanken überlassen. Er blieb darin den ganzen übrigen Tag, die Zeit ausgenommen, da eine sparsame Mahlzeit verzehrt wurde, die zugleich so beschaffen war, daß kaum der härteste Hunger den Widerwillen dagegen bezwingen konnte. Abends mußte er sich unter den übrigen auf das elende Strohlager hinstrecken.

Den andern Morgen ward er wieder vor den Seelenverkäufer gebracht. Dieser suchte ihn durch freundliches Zureden und durch starkes Getränk zur Unterschrift zu verleiten. Da Sebaldus sich aber standhaft weigerte und aus seiner ungerechten Gefangenschaft entlassen zu werden verlangte, so hieß es endlich: er möchte vierzehn Gulden für Wohnung und Kost des gestrigen Tages zahlen, dann könne er frei weggehen. Sebaldus, froh, griff in die Tasche; aber ein angestellter Bube hatte ihm in der Nacht sein Geld gestohlen. Er ward nunmehr hart angefahren und ihm nur noch bis auf den Abend Bedenkzeit gegeben; und als er auch da noch bei seiner Weigerung blieb, ward er auf den Söller geführt, an einen Pfosten gebunden und so lange unbarmherzig gegeißelt, bis die Schmerzen ihn nötigten, endlich die verlangte Einwilligung zu geben.

Er ward in den Keller zurückgebracht und konnte die ganze Nacht kein Auge schließen, teils wegen Schmerzen, teils wegen der Seufzer seines kranken Nachbars, welcher mit dem Tode rang und gegen Morgen starb. Sebaldus fiel in die stumpfe Fühllosigkeit, durch die der tiefste Jammer erduldet wird, und erwartete sonder[384] Bewegung, in welches unbekannte Land man ihn schleppen würde und welchem unbekannten Elende er noch entgegensehen sollte.

Indes verschaffte der Tod des einen Unglücklichen den übrigen unvermutet einige Erleichterung, denn der Geiz allein konnte den Seelenverkäufer etwas menschlicher machen. Er glaubte ein Kapital verloren zu haben, indem er den Verstorbenen sechs Wochen vergebens genährt hatte. Bei einigen Übergebliebenen äußerten sich noch dazu Schwachheiten, wodurch die Furcht entstand, es möchte ein ansteckendes Fieber unter ihnen einreißen. Dies bewirkte den Entschluß, sie sämtlich, nachdem sie mit Wein und starken Getränken etwas erquickt worden, frische Luft schöpfen zu lassen. Vorher ward jeder, der unterweges nur mucksen würde, mit der schärfsten Strafe bedrohet; und so ließ sie der Seelenverkäufer, unter Begleitung sechs seiner Knechte und Unterhändler, ausgehen: wenn das Schleichen solcher durch Krankheit und Kummer abgezehrten Gestalten noch Gehen benennet werden kann. Mancher ehrliche Bürgersmann sah ihnen mit Mitleiden nach. Hin und wieder zuckte ein Vornehmer über sie die Achsel und rief: »'s sind ja nur Mofjes!« So zogen sie durch die schattigen Gänge der Plantage endlich zum Muider-Tore hinaus, um auf dem Dyk nach Seeburg reine Luft zu genießen.

Sebaldus' Geist, obgleich von tiefem Elende niedergedrückt, erhob sich bei Erblickung der Aussicht, die nirgend ihresgleichen hat: auf dem Y und auf der Südersee tausend Segel, das ganze Gewühl des arbeitsamen Fleißes; auf der Landseite grünende Wiesen und Gärten, die ruhige Schönheit der Natur.

Die Gesellschaft warf sich ins Gras und ruhte eine Stunde lang, erquickt von dem kühlen Wehen der Luft und dem frischen Geruche des federweichen Lagers.[385] Sebaldus, insonderheit an Geist und Körper erfrischt, brach, in der Fülle seines Herzens, endlich in ein lautes Lob des Allmächtigen aus, der für seine geplagtesten Kreaturen in den einfachsten Genuß seiner Schöpfung Trost und Stärkung legte.

Der Schall des Dankgebets erweckte die Aufmerksamkeit zweier Geistlichen, die in der Gegend spazierengingen. Sie hatten vorher die unglückliche Gesellschaft nur mit der allgemeinen Teilnehmung betrachtet, welche die Menschenliebe keinem Elenden versagt. Jetzt traten sie näher, durch Sebaldus' Stimme und Gebärden gerührt, ob sie gleich seine Worte nicht verstehen konnten. Sie betrachteten ihn aufmerksam, besonders schien der Ältere von beiden sehr bewegt, hob endlich die Hände empor, tat einen Ausruf und wollte auf den Sebaldus zugehen. Der andere hielt ihn zurück, und man hörte, daß er sagte: »Laßt es sein, Ihr würdet es sonst nur noch schlimmer machen.« Sie kehrten sich darauf um und sprachen einander ins Ohr.

Sebaldus, in frommer Entzückung, hatte diesen Vorfall nicht einmal bemerkt, aber seine Gefährten fingen an, die Köpfe zusammenzustecken. Dies war genug für die argwöhnischen Wächter, den ganzen Trupp sogleich aufstehen zu lassen und ihn nach Hause zu führen. Die beiden Geistlichen, nachdem der Zug sich in etwas entfernt hatte, folgten demselben von weitem bis an des Seelenverkäufers Haus, das sie auf diese Art entdeckten.

68

So pflegt der niederländische Pöbel die Deutschen, besonders die Niedersachsen und Westfälinger, zu nennen.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 378-386.
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