17. Am Sontage Quinquagesimä

[214] 1. Corinth 13.


Auff den 3. Psalm

Wie viel sind der, o Herr.


Hett' ich Beredtsamkeit

Der Menschen weit und breit,

Wenn ich wie Engel redte,

Doch were solche Zier

Ein nichtigs Thun bey mir,

So ich nicht Liebe hette.

Es were nur ein Thon,

Der kömpt und fleucht darvon,

Im Fall ein Ertz erklinget,

Nur einer Schellen Schall,

Die mit vergebnem Hall'

Uns in die Ohren dringet.


Weissagt' ich recht und wol,

Wer' aller Gaben voll

Und köndte Berge regen

Durch meines Glaubens Krafft,

So würde nichts geschafft

Der Liebe Mangel wegen.

Ließ ich den Armen hin,

Das was ich hab' und bin

Und liebe nicht von Hertzen,

So würd' es allen seyn

Nichts als ein blinder Schein,

Ein blosser Schimpff und Schertzen.


Die Lieb' ist jederzeit

Begabt mit Freundligkeit,

Läst bösen Eyfer bleiben;

Die Liebe schalcket nicht,

Sie denckt an ihre Pflicht,

Kan nicht viel von ihr schreiben,

Nicht ungebärdig seyn,

Sie läst den Geitz nicht ein,

Läst sich nicht zornig machen,

Kan nicht nach Schaden stehn,

Weiß auch nicht umbzugehen

Mit ungerechten Sachen.
[214]

Der Warheit ist sie huld,

Gläubt, hofft, und trägt Gedult;

Drumb wird sie auch bestehen,

Die wahre Liebesbrunst,

Wenn Sprachen, Witz und Kunst

Und alles wird vergehen.

Deß Menschen Müh und Fleiß,

Das was er kan und weiß,

Ist Stückwerck nur zu nennen;

Man wird es nach der Zeit,

Wenn die Vollkommenheit

Wird angehn, nicht mehr kennen.


Ich, als ich war ein Kind,

War kindisch auch gesinnt

Und that was Kinder machen:

Nach dem ich ward ein Mann,

Da hab' ich weg gethan

Der Jugend leichte Sachen.

Es siht jetzt unser Sinn

Durch einen Spiegel hin,

Steht weit vom rechten Liechte;

Hernach ists also nicht,

Man wird das Angesicht

Recht sehn zu Angesichte.


Was ich jetzt sehen kan,

Ist Stückwerck umb und an

In unsrer Schwachheit Orden;

Nach dieser Zeiten soll

Ich's kennen recht und wol,

Wie ich erkandt bin worden.

Was aber uns anjetzt

Am allermeisten nützt,

Ist Glauben, Hoffen, Lieben,

Das Lieben sonderlich,

In dem ein Hertze sich

Soll besten Fleisses üben.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 214-215.
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