VI. Tonkunst

[221] Von allen Künsten hat die Musik, obwohl sie gerade die jüngste unter den Schwestern ist, in unserer Zeit bei der weiblichen Erziehung die größte Berücksichtigung gefunden. Und wie sollte sie auch nicht? Ruht sie doch auf den Gesetzen der Harmonie, des Ein- und Zusammenklanges, des Tact- und Maßhaltens; spricht sie doch am[221] ehesten und zugleich am tiefsten zu dem Gefühle; ist es ihr doch gegeben, durch Töne auszusprechen, wozu ein übervolles Herz so oft keine Worte findet; – ist sie doch geeignet, einsame Stunden zu vertreiben und zu verschönen und zur Erhöhung häuslicher Freuden beizutragen.

Aber mag es auch daher gekommen sein, daß sich die Musik immer mehr in den Familien und in der Gesellschaft eingebürgert hat, so ist leider im Laufe der Zeit vielfach eine Modethorheit daraus geworden, der man eben fröhnt wie jeder andern, ohne höhere Motive und mit Verlust aller edleren Gesichtspunkte.

Weder aus dem pädagogischen Principe, daß die Harmonie des Charakters und Lebens nur gefördert werden kann durch Kenntniß der Gesetze der Harmonie, wie sie der Musik zu Grunde liegen und in ihr sich am schnellsten verdeutlichen und darlegen lassen, noch nach der Erkenntniß, das ein nicht gedankenlos betriebenes Studium schon an und für sich ein Gewinn ist, auch wenn man es später wieder liegen läßt, weil das Gelernte in irgend einer neuen Lebenslage sich nicht praktisch verwerthen läßt, – sondern lediglich aus dem Grunde, weil einmal alle Mädchen, die als gebildet gelten sollen, Musikstunden haben müssen, läßt man ihnen welche ertheilen, und allein aus dem Grunde, nicht im Scheine der Bildung gegen andere zurückzustehen, fügt sich jedes Mädchen in die musikalischen Unterrichtsstunden und zwingt sich am Pianoforte zu sitzen, auch wenn nicht im geringsten Neigung und Talent zur Musik vorhanden sind, und die Eltern bezahlen aus keinem anderen Grunde als dem der Eitelkeit die Musikstunden zu hohen und höchsten Preisen, auch wenn es ihnen noch so schwer fallen sollte; lieber schicken[222] sie die Töchter in keine Fortbildungsschule, um dasselbe Geld auf Musikunterricht bei sehr zweifelhaftem Erfolge verwenden zu können.

Von allem Dilettantismus gilt der auf dem Pianoforte als der unerläßlichste. Das klimpert und tönt und dröhnt in allen Häusern, allen Etagen, allen Zimmern! Während man sich zu Anfang des Jahrhunderts noch mit einer sanften Guitarre, einem bescheidenen Claviere bescheiden begnügte, das weder viel kostete, noch weit gehört ward, aber eben gut genug war, die stillen, einsamen Stunden zu versüßen oder die häuslichen Freuden des Familienkreises zu erhöhen, bedarf man jetzt eines kostbaren und geräuschvollen Pianofortes oder Flügels, an den man gern mehrere Hundert Thaler wendet und ihn dann selbst zu mechanischen Fingerübungen, womöglich bei geöffneten Fenstern, laut erdröhnen läßt, um auf sich und das schöne Instrument aufmerksam zu machen – zum großen Leidwesen aller fleißigen und denkenden Hausbewohner und Straßennachbarn, die dadurch um so mehr in ihrer Ruhe beeinträchtigt werden, als die Unsitte so allgemein ist, daß oft von allen Seiten, und darum sehr wenig harmonisch, die verschiedensten Weisen auf mehreren Pianofortes zugleich vernommen werden. Im Hause selbst aber sind Eltern und Geschwister nicht minder in Verzweiflung, wenn das Töchterchen täglich mehrere Stunden »übt«.

Es ist viel für und wider die gestrengen und wählerischen Hausbesitzer gesagt worden, welche, um sich und ihren andern Hausbewohnern die Ruhe zu sichern, nur an »Leute ohne Kinder und Hunde« vermiethen, – manche möchten aber noch gern eine dritte Bedingung hinzufügen:[223] »ohne Pianofortes«. Allein dieselben sind so verbreitet, daß es kaum möglich ist, diese Bedingung bei einem Familienlogis zu stellen, welche nur bei Aftermiethen immer häufiger vorkommt.

Wahr ist es, daß die Musik für viele Mädchen unentbehrlich ist zu ihrem Fortkommen in der Welt; die Gesellschafterin, die Lehrerin, bedarf der musikalischen Bildung, und schon manche junge Dame, die früher Musik zu ihrem »Vergnügen« trieb, wie ja leider immer noch ein gut Theil weiblichen Jugendlebens allein auf das Vergnügen hinausläuft, erwirbt sich später ihren Lebensunterhalt durch Ertheilung von Pianoforteunterricht. Man kann die Musik im Allgemeinen nicht für überflüssig erklären, wenn man dabei auch nicht an eine künftige Erwerbsquelle denkt, sondern die Beschäftigung mit der Musik nur als allgemeines und nothwendiges Bildungselement betrachtet. Aber wir möchten, daß sich das Musiktreiben unserer Mädchenwelt auf das richtige Maß zurückführe; daß man es nicht pflege auf Kosten anderer erhebender und nützlicherer Beschäftigungen; daß man ihm nicht huldige mit jener Gedankenlosigkeit, die überall das ergreift, was keine geistige Anstrengung kostet; daß man die Kunst nicht entwürdige zur Modenarrheit, oder, statt ein Mittel zur Bereicherung des eigenen Inneren, zur Verschönerung des häuslichen Lebens in ihr zu sehen, sie mißbrauche, Indolenz und Trägheit dahinter zu verstecken, oder Eitelkeit und Gefallsucht, Prahlerei und Vornehmthuerei damit zu verknüpfen.

Die Kunst des Pianofortespiels hat in den letzten Jahren so große Fortschritte gemacht und es ist in ihr von den Koryphäen derselben so Außerordentliches geleistet, es sind der concertirenden Pianospieler beiderlei Geschlechts[224] so viele geworden, daß auch die Anforderungen der Zuhörerschaft in gleicher Weise gestiegen sind. Dazu kommen die immer größeren Anforderungen, welche durch die Componisten selbst an die technischen Fertigkeiten der Spielenden gemacht werden, so daß schon ein unendlicher Aufwand von Zeit und Geduld dazu gehört, wenn es eine Dame so weit bringen will, im geselligen Kreise sich hören lassen zu können, ohne die Zuhörer zu langweilen, zu ermüden und sich selbst den absprechendsten Urtheilen auszusetzen. Und doch ist es sehr häufig der Zielpunkt eitler Mütter, daß ihre Tochter in der Gesellschaft sich hören lassen könne, daß man sie bewundere, ihr huldige, und die auf diesen Irrweg gedrängte Tochter müht sich alltäglich stundenlang ab, um eine Fertigkeit zu erringen, die meist doch nur ein höchst zweifelhaftes Resultat herbeiführt. Viel öfter noch aber bringen es Mutter und Tochter nicht einmal so weit, um es nur wagen zu können, eine Probe der gehabten Mühe abzulegen; – es genügt, das Factum festzustellen, daß die Tochter bei einer der ersten und gesuchtesten Lehrkräfte Stunde hat, daß sie in einer musikalischen Leihanstalt abonnirt ist und täglich viele Stunden spielt. Wird sie aber ersucht, im geselligen Kreise ein Lied zu begleiten, so ist sie dies nicht im Stande; oder einen Tanz zu spielen, so ist das unter der musikalischen Würde: oder eine kleine Pièce vorzutragen, so kann sie keine auswendig; oder mit jemand vierhändig zu spielen, so will sie auch dazu sich nicht hergeben, wenn vielleicht eine andere Dame Solo gespielt hat u.s.w. Kurz, man bekommt sie nie zu hören, obwohl sie sich – um die Mode mitzumachen – mit dem Nimbus umgiebt, als sei sie sehr »musikalisch«. In[225] manchen Städten ist es ja – und besonders durch die Damenwelt – dahin gekommen, daß es überhaupt eine der ersten Fragen ist, ob eine Dame musikalisch sei, und daß die Musik im geselligen Leben in einer erschreckenden Weise dominirt. Sie übt eine bedeutende Herrschaft aus, nicht allein durch eine Menge von Concerten, welche immer besucht werden, aber von vielen Damen nur, weil es zum guten Tone gehört, sich dort zu zeigen und später darüber kritisirend zu plaudern, oder gar nur ihre Toiletten zur Schau zu tragen und einen bestimmten Abonnementsplatz zu haben, – sondern auch durch das Musiciren in Gesellschaft. Gewiß schätzt niemand die erhebende und vertiefende Macht der Tonkunst höher als wir selbst; wenn wir uns aber in so manchen Concertsaale umsehen, gewahren wir oft genug selbst bei einem Werke von Beethoven oder Liszt gelangweilte Gesichter und müssen uns sagen, daß viele Zuhörerinnen wirklich aus anderen Motiven kommen, als um an die Macht des Kunstwerkes sich rein und voll dahinzugeben. Auch wir wissen einen guten Pianofortevortrag zu schätzen; wenn aber in einer kleinen oder großen Gesellschaft das Musiciren kein Ende nimmt, so wird auf die Länge niemand davon erbaut sein. Man sieht sich nur zum Hören vielleicht von längst Bekanntem und was man schon unzähligemal besser gehört, verurtheilt, während man sich auf eine heitere oder geistreiche, anregende Unterhaltung gefreut hatte; – die Elemente sind vielleicht dazu vorhanden, man sieht Bekannte, mit denen man manches besprechen, Fremde, die man kennen lernen möchte, aber die musikalische Production schneidet alles ab. Die gebildeten Anwesenden heucheln ein Interesse, daß sie selten empfinden, und die ungebildeten[226] fangen an, miteinander zu zischeln, und beleidigen dadurch die Vortragenden, wie die Gesellschaft und die Kunst selbst. Ist dann ein solcher Vortrag vorüber, so dominiren – schon aus Artigkeit, noch mehr aber aus der Sucht, sich auf der Höhe musikalischer Bildung zu zeigen – wieder die musikalischen Gespräche mit gelernten und aufgefangenen Floskeln. – Wäre es dann nicht besser, statt mit specifisch musikalischer Bildung zu renommiren, sich im Allgemeinen als harmonisch gebildet zu zeigen?

Der Musikunterricht, den wir keineswegs verbannen wollen, möge sich höhere Ziele setzen, als bloße Fingerfertigkeit und Befriedigung von Eitelkeit und Gefallsucht! Er gründe sich auf Harmonielehre und werde, wo nicht entschiedenes Talent sich zeigt, mehr in der Weise betrieben, daß er einerseits zum musikalischen Verständniß führe und anderseits befähige, sich selbst durch richtige und seelenvolle Ausführung nicht zu schwieriger Stücke das Vergnügen zu verschaffen, welches uns jedes Instrument, das wir zu beherrschen vermögen, für einsame Stunden oder im häuslichen Kreise gewährt.

Der Dilettantismus in der Musik ist an sich eine sehr angenehme Sache, ein sehr edles Bildungselement; er beraubt sich aber seiner weihevollsten Eigenschaften, wenn er als Hauptsache betrachtet wird er mißbraucht zu einem Mittel der Coquetterie, des Sichbefreiens von nützlichen Arbeiten; nur zu oft versteckt sich hinter ihm die Denkfaulheit oder die Sucht einer unklaren Empfindsamkeit, die mit jener häufig Hand in Hand zu gehen pflegt.

Wir schätzen jede musikalische Bildung, welche zu einer gediegenen universalen Bildung sich gesellt und gleichsam[227] deren Blüthe ist; aber wer nichts zu treiben und zu reden weiß, als was dazu dient, mit musikalischer Bildung zu renommiren, macht sich uns dringend verdächtig, die allgemeine Bildung vernachlässigt zu haben.

Quelle:
Louise Otto: Frauenleben im Deutschen Reich: Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1876, S. 221-228.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Frauenleben im deutschen Reich
Frauenleben im Deutschen Reich

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon