VIII. Rhetorische und dramatische Kunst

[233] Es handelt sich hier um ein Gebiet, das sehr wichtig ist, das aber, wie ja auch dasjenige der Tonkunst in vielen Fällen, nicht allein zur eigenen Unterhaltung betreten werden soll und kann, sondern das der Geselligkeit, sei es auch nur im Familienkreise, gehört.

Ehe man singen lernt, soll man sprechen lernen. Nach dem Sprechen folgt das Vortragen, und dann mag man, wenn man will, sich auch bis zum Liebhabertheater versteigen.

Alles, was wir unter jenen vier Fertigkeiten verstehen, wird zwar jetzt allmählich in die höheren Töchterschulen eingeführt; – aber da wir uns hier nicht an diese, sondern an das Haus und an die weibliche Jugend selbst wenden, müssen wir es als wünschenswerth erklären, daß[233] dieselben auch später nicht vernachlässigt, sondern in den Mußestunden geübt werden.

Gewiß ist das Vorlesen, wenn auch nur im Familienkreise, ebenso angenehm als vortheilhaft. Wie angenehm ist es für die älteren Familienglieder, deren Augen vielleicht, wenigstens am Abend, nicht mehr so gut oder nur mit Anstrengung und schlimmen Folgen zum Sehen ausreichen, wenn dann die Tochter, Nichte oder Enkelin ihnen gut vorzulesen versteht; oder wenn dies Schwestern und Freundinnen untereinander abwechselnd thun und, während sie so sich an langen Winterabenden bei der traulichen Lampe oder an schwülen Sommernachmittagen in der schattigen Veranda interessant und bildend geistig unterhalten, auch daneben noch allerlei nützliche und nothwendige Handarbeiten vornehmen können, die um so mehr gefördert werden, wenn dabei kein Moment der Langenweile aufkommen kann. Es ist nicht etwa nothwendig, daß dann mit Pathos und aller Aufwendung vom Stimm-Material und declamatorischen Effecthaschereien gelesen werde, – im Gegentheil: beim längeren Vorlesen wirkt nichts auf die Zuhörenden so abspannend oder nervös aufregend und darum unangenehm, als wenn jemand mit forcirter Stimme, Affect und Phatos liest und statt des ruhigen Tones der Erzählung oder Berichterstattung in einen pathetischen oder theatralischen verfällt. Aber gerade darin liegt die Kunst: einfach und natürlich vorzulesen, ohne eintönig und langweilig zu werden; verständlich und sinnig vorzutragen, dem Inhalte gemäß und ohne Affectation, – sei's nach der Seite des Sentimentalen, Weinerlichen, oder nach der emphatischer Begeisterung und Eraltation.[234]

Die Leseabende oder geselligen Lesekränzchen, – sei es, daß sie allein von jungen Mädchen, denen sie sich vorzüglich zur Übung empfehlen, oder überhaupt von Damen allein oder im Vereine mit Herren gehalten werden, sind gewiß ein ebenso angenehmes und anregendes Bildungsals Unterhaltungsmittel und haben dabei noch einen indirekten Nutzen: sie leiten ab von dem faden Geschwätz, das nur zu leicht in solchen Kreisen herrscht und in Ermangelung anderer Themata sich so gern in spöttelnder Weise mit abwesenden Bekannten und Unbekannten beschäftigt, wahrlich so wenig zu deren Vortheil wie zu dem eigenen. In solchen Kränzchen liest man gern Theaterstücke mit vertheilten Rollen, was jedenfalls sehr zur Erhöhung des gemeinsamen Genusses beiträgt. Gewöhnlich wählt man dazu die Werke der deutschen Classiker, sowohl um ihrer unvergänglichen, immer neu wirkenden Schönheit, als auch um des praktischen Grundes willen: weil man sicher ist, von Schiller, Goethe, Lessing die nöthige Zahl Exemplare zur Hand zu haben, während es schwerer hält bei den neueren Dichtern. Auch ist man ja mit den classischen Gestalten vertraut und weiß sie taditionell aufzufassen, indeß man sich in unbekanntere Dichtungen erst einzuleben suchen muß. In kleineren Städten, deren Bewohner sich entweder gar keines Theaters oder nur seltener und oft zweifelhafter Vorstellungen erfreuen, mag es gerade sehr angenehm sein, sich durch gemeinschaftliche Lectüre mit den neueren Bühnenstücken bekannt zu machen, sich dadurch in den Bühneninteressen auf dem Laufenden zu erhalten, wenn sich solche Stücke, die überall gefallen, ihrem Leserepertoire einreihen könnten, Wir möchten hier bei den Besitzern von Leihbibliotheken[235] und Sortimentsbuchhändlern den Antrag stellen, von derartigen Stücken, wie z.B. »Stiftungsfest«, »Epidemisch« u.a., so viel Exemplare anzuschaffen, als Hauptrollen darin vorkommen, und dies bekannt zu machen; es wäre dies sicher kein schlechtes Geschäft und günstig für Autoren wie für Theaterfreunde in kleinen Städten, die sie sich ja dann könnten aus der Großstadt – wir denken an unser Leipzig – kommen lassen.

Der Dilettantismus bleibt oft nicht nur beim Lesen stehen, – er schwingt sich bis zum Liebhabertheater empor. Die Manie, die einmal früher auf diesem Gebiete herrschte, ist zwar glücklicherweise verschwunden, seit es überall eine Unzahl von Theatern giebt und man eingesehen hat, daß Dilettantenleistungen gerade hier immer weit zurückbleiben hinter den Leistungen selbst der allermittelmäßigsten Schauspieler von Fach, – und wir möchten, daß sich dies unsere Leserinnen recht klar machten, ehe sie sich zur Betheiligung bei dieser gefährlichen Liebhaberei entschließen. In der Regel sind dabei die Proben die Hauptsache, weil das Hauptvergnügen, und als dramatisches Talent gilt meist schon, wer ohne Verlegenheit auftreten, sich bewegen und richtig sprechen kann bei äußerer Anmuth und Grazie. Oefter als zum wirklichen Theaterspiel sehen sich junge Damen veranlaßt, bei den üblichen Polterabendaufführungen mitzuwirken, – daß ist ungleich harmloser und fordert als Gelegenheitswerk und im Familienkreise die Kritik nicht heraus. Aber eben um solcher kleiner Freundschaftsdienste willen sollte im weiblichen Dilettantenthum der Poesievortrag, das Declamiren nicht so sehr vernachlässigt werden, wie es meist geschieht.[236]

Wie oft stehen nicht die klügsten und liebenswürdigsten jungen Damen linkisch und mit niedergeschlagenen Augen da, wenn sie ein Gedicht sprechen sollen. Sie beginnen mit zitternder Stimme, mit stockendem Odem und sprechen meist so leise, daß kein Mensch ein Wort davon versteht, oder so schnell, daß sich dabei die Worte überstürzen und man den Eindruck hat, als wollten sie nur um jeden Preis mit ihrer Aufgabe zu Ende kommen. Es bedarf auch hier keines pathetischen, mit schauspielerischer Effecthascherei verbundenen Vortrags, – aber doch der edeln Ruhe, die jeder aus Kunstgebiet streifenden Leistung zu Grunde liegen muß, der würdigen Sicherheit, die das auch wirklich den anderen vermittelt, was einmal übernommen worden. Man hält der mädchenhaften Schüchternheit viel zu gute, aber es macht einen peinlichen Eindruck, wenn man jemand zittern sieht und stottern hört, – und derselbe wirkt sogar komisch, weil im übrigen die Schüchternheit so ziemlich aus dem Mädchenleben – nicht immer zum Vortheil desselben – verschwunden ist, also hier nicht als eine Folge natürlicher Bescheidenheit und tiefen Gefühls, sondern in der That nur der Unbeholfenheit und Stümperei erscheint.

Der Mangel an Gewöhnung aber trägt die Schuld daran. Man übe sich darum nicht allein vor sich selbst im Vorlesen und Declamiren, sondern auch vor anderen, man übe sich auch in der freien Rede, im Vortrag.

Bis etwa vor einem Vierteljahrhundert konnten selbst von den deutschen Männern, Schriftstellern, Gelehrten, Juristen u.s.w. nur wenige frei und öffentlich sprechen: es gab eben keine Gelegenheit zum Redenhalten und Vortragen, außer vom Katheder – Es wurde alles schriftlich vermittelt, man schrieb, man las ab allenfalls, aber[237] man sprach nicht. Jetzt ist es umgekehrt, jetzt wird mehr gesprochen und vorgetragen, als geschrieben und gelesen. Auch an die Frauenwelt tritt mehr und mehr die Nothwendigkeit heran, die Kunst des Vortrags sich anzueignen, nicht allein über Gedanken, sondern auch über den rhetorischen Ausdruck derselben zu verfügen. In den Schulen wird wenigstens jetzt insofern damit der Anfang gemacht, daß sich die Lehrenden das Vorgetragene von den Schülern in fließender freier Rede wiedergeben lassen, und wir kommen damit auf das zurück, wovon wir ausgingen: Es wäre besser, sich im Schreiben und im Sprechen und Vortragen eigener Gedanken zu üben, als nur im gedankenlosen Musiciren und Singen.

Quelle:
Louise Otto: Frauenleben im Deutschen Reich: Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1876, S. 233-238.
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