Neuntes Capitel
Verurtheilung

[190] Im Benediktinerkloster hatte man den beiden Baubrüdern zu ihrem Nachtquartier eine gemeinschaftliche Zelle angewiesen, welche sich etwas gesondert von den eigentlichen Mönchzellen nahe am Thor bei der Wohnung des Pförtners befand.

Ermüdet von dem ziemlich weiten Weg, den sie zurückgelegt, und von der Arbeit die sie nach kurzer Ruhe vorgenommen, warfen sie sich bald auf das ihnen bereitete Lager.

»Neugierig bin ich,« sagte Hieronymus, »wie sich die Geschichte mit dem Sacramentshäuslein aufklären wird. Wer weiß, welche rohe Hand sich daran mag vergriffen haben.«

»Kaum kann es anders als in einem Anfall von Wahnsinn, einen Wuth-Paroxismus geschehen sein,« sagte Ulrich.[190]

»Wer weiß, ob nicht ein widerwilliger Novize oder ein Mönch, der vielleicht ein vorschnell abgelegtes Gelübde bereut, diese Empfindungen im tollen Frevel an dem Allerheiligsten ausgelassen; wer weiß, ob nicht der Abt schon etwas davon ahnte oder wußte und sehr ungelegen durch Dich an seine Pflicht erinnert ward,« bemerkte Hieronymus.

»Vielleicht erfahren wir es von dem Bruder Konrad,« antwortete Ulrich, »der schon unsere Ansicht ausgesprochen und doch damit zurückgewiesen worden war.«

»Hast Du ihn schon nach dem Bruder Amadeus gefragt?« begann Hieronymus nach einer Pause; »der Abt sagte ja, daß dieser noch einmal Bericht über das zerstörte Tabernakel ablegen sollte – und sagtest Du nicht, daß er an Geistesstörungen leiden solle?«

Ulrich antwortete: »Ich sprach nichts mit Konrad, was Du nicht gehört.« Nach einigem Besinnen fügte er hinzu: »Ich traf Amadeus in der Kirche und wollte ihm das Kreuz geben; da rief man ihn ab – ich konnte nicht wagen weiter mit ihm zu sprechen – er schien mir allerdings nicht recht bei Sinnen zu sein.«

Hieronymus sagte nur noch unter Gähnen: »Die Räthsel werden sich wohl lösen, es kommt ja immer Alles an den Tag – ich bin zu müde, um mir jetzt[191] noch lange den Kopf darüber zu zerbrechen.« Bald darauf ließ er ein lautes Schnarchen hören und bewies, daß der ermüdete Körper den Schlaf gefunden, den er bedurfte.

Ulrich bedurfte ihn wohl nicht minder, aber ihm blieb er fern. Er setzte sich in seinem Lager auf, stützte den wirren Kopf in die Hand, den Ellenbogen auf eine Strohschicht gestemmt, ob so vielleicht das emporgehobene Haupt ihm leichter werde und der Alp weiche, der auf seiner Brust zu ruhen schien. Das Bild seiner Mutter Ulrike, die er über Alles geliebt, stand vor ihm. Er rief es sich zurück in all' der zarten Sorge, mit der sie über seine Kindheit gewacht; er hatte den sanften schmerzlichen Zug der Entsagung nicht vergessen, der ihrem edlen Antlitz seinen eigenthümlichen Ausdruck gab, noch die ganze stille Würde ihres Wesens, mit der sie sich vor den andern Bäuerinnen seines Heimathdorfes auszeichnete, trotzdem sie die niedrigsten Arbeiten verrichtete gleich ihnen, ja oft das Schwerste vollbrachte, indeß der Vater ein faules Leben führte, ihr keine Arbeit erleichterte und nur that, was er mußte. Dieser war ein gewöhnlicher roher Bauer, der die Mutter mit Härte und den Sohn mit Gleichgültigkeit behandelte, oder sich gar nicht um ihn kümmerte. Es war darum[192] doppelt natürlich, daß dieser nur an der Mutter hing, es herausfühlte, daß sie unglücklich war, und darum, als ihm beide Eltern verschwunden, den Verlust des Vaters leicht verschmerzte, über den der Mutter aber lange Zeit untröstlich war. Sie war es auch gewesen, die ihn als Hirtenknaben dem Kloster zugeführt und immer gewünscht hatte, daß er von den weisen Benediktinermönchen mehr lernen möge, als außerhalb des Klosters dem Kinde eines Dorfes möglich war, in dem es keine Schule gab, noch sonst Jemanden, ein Kind zu unterrichten. Ihr eigenes sinniges Gemüth nur, das aus allen Werken und Walten der Natur das Schöne mit offenem Auge herausfand, hatte auch schon früh die Augen des bildsamen Knaben dafür geöffnet und damit den ersten Grund schon unbewußt gelegt zu seiner Liebe für die Kunst. Sechszehn Jahre waren nun seit der Trennung von dieser theuern Mutter vergangen. Man hatte ihn erst lange mit der Hoffnung hingehalten, daß sie wohl wiederkehren werde, und er hatte es sich selbst für unmöglich gedacht, daß sie ihn verlassen und nie wieder nach ihm fragen könne – und da es nicht geschah, nahm er an, sie sei todt, und wenn er dann betete, richtete er seine Gebete, statt an die Mutter Gottes, an[193] seine eigene verschwundene Mutter, die sich ihm zur Heiligen verklärt hatte.

Da mußte ihm, als er aus dem Kloster in die Bauhütte zu Straßburg ging, der Benediktinermönch Anselm den doppelten Glauben an seine Mutter durch das Gelübde zu rauben versuchen, das er ihm abnahm: nie nach seiner Mutter zu forschen, weil man Unwürdiges von ihr gesagt. Er hatte diesen Schwur gehalten, die Kunst selbst war ihm sein Alles; Mutter, Heilige, Geliebte, war seine Religion geworden; er hatte sich losgerissen von allen irdischen Banden, von allen Wünschen, Plänen und Hoffnungen, die nicht Hand in Hand gingen mit seinem kunstgeweihten Streben – und nun, seit er hier in Nürnberg war, kamen diese Mahnungen an seine Vergangenheit, an seine Mutter.

Der Propst Kreß und Amadeus sprachen von ihr wie von einer Unglücklichen, Verirrten, noch Lebenden – Amadeus nannte ihren Namen Ulrike. So gab es zwei Wesen auf der Welt, die dem Sohn von der Mutter Auskunft geben konnten – und vielleicht hatte er diese Auskunft zu scheuen, vielleicht weihete sie ihn der Schande, ward ihm zum Fluch! Was war denn Amadeus seiner Mutter, was war er denn ihm? Was redete er denn zu ihm von Liebe zu ihm, die ihn zu[194] einem Frevel getrieben – von Vatermord und Gericht? War es Wahnsinn? und war nicht etwas Ansteckendes in diesem Wahnsinn?

Als strecke der Wahnsinn in einer grausen Gestalt seine Krallen nach Ulrich, als setze er sich auf sein Lager, rückte ihm näher und näher und schaue unverwandt auf ihn mit hohlen Augen, aus denen rothglühende Blitze schossen – und als wandele er sich dann in die Gestalt des Mönches Amadeus – so war es Ulrich! Dann wieder sah er seine Mutter vor sich, die frommen Augen auf ihn gerichtet, segnend und betend, aber dann war er in der Bauhütte, die schwarz ausgeschlagen war; die Baubrüder umstanden ihn und spieen ihn an, und der Hüttenmeister zerbrach das Richtscheit über ihm, indeß der Pallirer sein Monogramm aus den Steinen kratzte – und dann hing sich Rachel, das Judenmädchen, an ihn – plötzlich erschien die stolze Elisabeth Scheurl und neigte sich über ihn – da war es, als wichen alle Dämonen und alle Qualen – sein Herz ward groß und ruhig.

Er wußte nicht, ob das Bilder waren einer wachen, zum Fieber erhitzten Phantasie, eines von mannigfachen Eindrücken geängsteten Gemüthes, oder eines Traumes, der seinen Schlaf beunruhigt – er ward sich nur bewußt,[195] daß von alledem Elisabeth's Bild der letzte und bleibende Eindruck gewesen – der Gedanke an sie war ihm durch die Begegnung mit Streitberg gekommen – und er hing ihm noch nach, um eine Weile Amadeus und seine Worte zu vergessen.

Am folgenden Morgen wohnten die Baubrüder der gemeinschaftlichen Messe mit bei, dann gingen sie still an ihre Arbeit. So verging eine Woche eintönig und ohne Unterbrechung. Amadeus sahen sie nicht, mit Niemand sprachen sie, nur mit Konrad wechselten sie zuweilen einige Worte.

Eines Tages gegen Mittag berief man sie in's Conclave.

Sie fanden alle Klosterbrüder versammelt. Der Abt saß in der Mitte vor einem schwarzbeschlagenen Eichentisch, auf dem sich Schreibgeräth und Aktenstücke befanden. Zwei Mönche saßen daran ihm zur Seite, die andern standen.

Als Alle versammelt waren, erhob sich der Abt und sagte: »Ich habe Euch Alle in einer traurigen Angelegenheit berufen müssen. Ein schweres Verbrechen ist in unsern Mauern, in unserer Kirche verübt worden; einer unserer Brüder hat es im Wahnsinn begangen. Höret die Mittheilung.« Er winkte dem beisitzenden[196] Mönch, und dieser las nach einer salbungsreichen Einleitung.

»Am ersten Tage des Hornung hatte der Bruder Amadeus die Nachtwache in der Kirche. Nach Mitternacht läutete er im Kloster, wo man läutet, wenn ein Feind in der Nähe ist, oder Feuer, oder dem Kloster irgend eine Gefahr droht. Bleich und zitternd vor Schrecken meldete er, daß während er sich in der Kirche an einem Seitenaltar befunden, plötzlich ein Krachen durch die Wölbung gegangen, alle Thüren zusammengeschlagen seien, wie eine Wolke von Staub neben dem Hochaltar aufgestiegen, und er dann hinzueilend gesehen, daß derselbe durch das Herabfallen des oberen Theils des Sacramentshäusleins entstanden. Wir eilten Alle in die Kirche und sahen das Werk der Zerstörung, sonst war nichts darin geschehen und Alles unverändert. Der Novize Konrad stellte auf, daß das Werk nur gewaltsam und von Menschenhand könne abgebrochen sein, aber Niemand konnte dem Glauben schenken. Es ward beschlossen, das Weihbrodgehäuse so schnell und schön als möglich wieder herstellen zu lassen und Einen aus unserer Mitte gen Nürnberg zu senden zu seiner Hochwürden dem Herrn Propst Anton Kreß, uns zwei Baubrüder zu senden. Bruder Amadeus bat um diese[197] Sendung als Gunst, und weil er der Erste gewesen, der die Zerstörung gesehen und den heftigsten Schrecken gehabt, so erhielt er den Auftrag, und da er am Abend zurückkehrte, schien er ihn auf's Beste ausgerichtet zu haben. Da behaupteten die herbeigerufenen Baubrüder, daß die Zerstörung nur von Menschenhand geschehen sein könne; wir beriefen Bruder Amadeus noch einmal genauen Bericht von ihm zu hören. Kein Verdacht hatte sich gegen ihn geregt. Er aber fiel auf seine Kniee und bekannte freiwillig, wie er sagte, durch die Worte Ulrichs von Straßburg im Gewissen getroffen, wie durch die Angst, daß man statt seiner einen Unschuldigen verdächtigen könne, daß er selbst mit eigenen frevelhaften Händen in jener Mitternacht das Kunstwerk herabgerissen und zerschlagen. Nichts hat er angegeben, was ihn zu der ungeheuren, himmelschreienden That verleitet haben könne – er hat die Größe seines Verbrechens eingesehen und ist darauf gefaßt, es mit dem Tode zu büßen. Da er aber schon früher, besonders vor anderthalb Jahren, Spuren und Ausbrüche von Wahnsinn gezeigt, und er sonst nichts begangen, wodurch man ihn einer solchen Versündigung an dem Allerheiligsten für fähig halten könnte, so ist nicht anders anzunehmen, denn daß ihn wieder der Wahnsinn ergriffen[198] hat. Er ist darum in seiner Zelle an die Kette gelegt worden und wird als Wahnsinniger behandelt werden. Alle Tage werden wir für seine Seele beten, damit der böse Geist von ihm weiche.«

Wohl Keiner hatte diesen Bericht ohne Schauer vernommen – aber am meisten war Ulrich davon ergriffen. War Amadeus ein Wahnsinniger? war er es nicht?

Gerade jetzt hielt ihn Ulrich am wenigsten dafür. Die Worte, die ihm so erschienen: »Sie holen mich in's Gericht« – und: »ein Mönch, der Euch sein Todesurtheil dankt« – die waren nun sehr klar und wahr. Denn war auch hier kein Todesurtheil ausgesprochen, so hatte Amadeus doch nach seinem Bekenntniß ein solches erwarten können, und das Schicksal, das ihm nun bereitet war, erschien ihm selbst jedenfalls härter als der Tod. Und waren nun die andern Worte auch klar und wahr: »Aus Liebe zu Dir beging ich den Frevel; ich wollte meine Hand segnend auf Deinen Scheitel legen – es ist meine Sühne, daß ich durch meinen Sohn sterbe!«

Kalte Schauer durchrieselten Ulrich – eine furchtbare Angst kam über ihn, eine gräßliche Empfindung, die er noch nie gekannt: vielleicht ein Verbrechen wider[199] die Natur begangen zu haben, da er nur meinte, daß er Worte der Gerechtigkeit geredet.

Konnte es denn sein? war denn Amadeus wirklich in einer Beziehung zu seiner Mutter gewesen? war er ihr Entführer vielleicht in jenem Kampfe, der die Mutter dem Sohn geraubt? oder hatten sie noch früher, ehe er denken konnte, ehe er war, einander nahe gestanden – war nicht jener Bauer, den er nie geliebt, sein Vater – war es dieser Mönch? Mußte er ihn dann hassen oder lieben? War er nicht der Urheber seiner und seiner Mutter Schande – und doch seines Lebens?

Wie sich kreuzende Dolche durchzuckten ihn diese Gedanken, schnitten in seine Seele, wühlten in seinem Herzen.

Draußen im Kreuzgang kam er in Konrad's Nähe. Wie im Vorübergehen drängte er sich dicht an ihn und sagte: »Ich muß Dich allein sprechen, wann kann es geschehen?«

»Ich komme zu Nacht in Deine Zelle,« antwortete Konrad.

»Nein – da ist Hieronymus mit.«

Konrad sah Ulrich verwundert an: wie mochte ein Baubruder dem andern nicht trauen? »Ich will darüber nachdenken und es Dir bei der Arbeit sagen.«[200]

»Aber verschieb' es nicht lange!« drängte Ulrich.

Mehr durften sie nicht wagen zusammen zu sprechen.

Ulrich's sonst so kräftige und geschickte Hände zitterten bei der Arbeit. Er vermochte kaum das Richtscheit gerade zu halten, noch den Meißel da hineinzusetzen, wo er ihn hin haben wollte. Hieronymus sah ihm verwundert zu. Aber Keiner sprach. Wie gestern arbeiteten die Mönche und Novizen mit ihnen.

Da sie von der Arbeit gingen, sagte Konrad zu Ulrich: »Komm um Mitternacht in die Kirche an das Tabernakel. Der Bruder Martin hat die Nachtwache, der stört uns nicht.«

»Ich komme gewiß!« antwortete Ulrich.

Als er mit Hieronymus wieder in der Schlafzelle allein war, sagte dieser: »Es ist doch eine sonderbare Geschichte mit dem Sacramentshäuslein – glaubst Du, daß der Mönch wirklich verrückt ist, oder daß man uns nur etwas damit weiß machen will?«

»Meinst Du?« gegenfragte Ulrich; »ich weiß nicht, was ich dazu denken soll. Nur ein Wahnsinniger scheint mir so etwas thun zu können, das gar keinen Zweck hat – oder könntest Du Dir hierbei einen denken?«

»Wenn es nun doch ein verzweiflungsvoller Mönch wäre, der das Leben nicht mehr ertragen könnte und[201] vielleicht unfähig zum Selbstmord etwas thun wollte, danach man ihn zum Tode verurtheilte?« sagte Hieronymus.

»Dann hätte er ja seinen Zweck nicht erreicht,« bemerkte Ulrich.

Sein Kamerad lächelte: Denkst Du, man wird sich begnügen ihn in Ketten zu legen, bis er etwa wieder zur Vernunft käme? Man wird ihn darin verhungern und umkommen lassen.«

»Meinst Du?« fragte Ulrich entsetzt.

»Ich müßte diese Mönchsjustiz nicht kennen!« sagte Hieronymus gähnend und legte sich ruhig schlafen.

Ja, er kann schlafen! dachte Ulrich; er ist ja unschuldig an dem, was dem Unglücklichen geschieht – er hätte vielleicht geschwiegen – nur ich enthüllte den Frevel und forderte Rechenschaft dafür – – Hieronymus kann schlafen – ihm sagt sein Gewissen nicht, daß er vielleicht einen Vater ermordet – ihn klagt das Wimmern dieses Verschmachtenden nicht an als seinen Mörder – und ihm ist nicht die Wahl geboten: nach einer entsetzlichen Enthüllung zu verlangen, oder ihr zu entfliehen und sich die Möglichkeit zu rauben, je Gewißheit über sich selbst zu erhalten. O du glücklicher Hieronymus![202]

Zum ersten Mal stieg in Ulrich's edler Seele etwas auf wie Neid gegen ein anderes Wesen, und aus seiner Brust rang sich ein dumpfer Seufzer, indeß sein Kamerad friedlich und tief Athem holte im ruhigen Schlaf.

Leise erhob sich Ulrich, da es schon lange elfmal an der Klosteruhr geschlagen, und schlich durch den finsteren Kreuzgang in die Kirche. Der Mond, der sich zum letzten Viertel neigte, war eben aufgegangen und leuchtete durch die gothischen Fenstern herein, an denen Eisblumen aufblüthen, indeß silberner Schnee in den steinernen Bogen und Zacken hing.

Er trat in die Kirche. Konrad erwartete ihn schon an der bestimmten Stelle.

»Der Bruder Martin ist dort in der Ecke eingeschlafen,« sagte er, »wir können ungestört zusammen reden. Er ist ein guter Alter, der mir manchen Trost zugesprochen und manche Freundlichkeit gewährt. Dafür such' ich ihm wieder andere zu erweisen. Da er den Schlaf, ungern entbehrt, so habe ich schon ein paar Mal hier für ihn gewacht: aber da dies eigentlich kein Novizenamt ist, so muß er mit in der Kirche sein für den Nothfall; doch erfreut er sich auch in einem Kirchenstuhl eines gesegneten Schlafes. Es paßte gerade, daß er heute die Wache hat – sollte er wirklich erwachen und[203] Dich hier finden, so drückt er mir zu Liebe auch ein Auge zu; wir haben also in keinem Fall etwas zu fürchten. – Es freut mich, ungestört mit Dir plaudern zu können – aber mir schien auch, Du habest etwas Wichtiges auf dem Herzen. So rede!«

»Gewiß!« antwortete Ulrich, »und ich vertraue Dir – kein Baubruder wird den andern verrathen!«

»Meine Hand darauf!« sagte Konrad; »könntest Du in mein Herz sehen!« und er reichte ihm die Hand mit dem Drucke der freien Steinmetzen.

»Sage mir, was Du von Amadeus weißt!« bat Ulrich; »verhält sich Alles so, wie wir heute vernommen?«

»Alles,« antwortete Konrad.

»Ist Amadeus wirklich wahnsinnig?«

Der Novize zuckte die Achseln: »Ich kann es mir selbst nicht anders denken – doch möcht' ich auch keinen Eid darauf ablegen; ich habe ihn außerdem sehr vernünftig sprechen hören, doch bin ich noch kein Jahr im Kloster, und die Andern sagen, daß er früher schon solche Anfälle gehabt.«

»Und was wird nun sein Geschick sein?«

»Auf jeden Fall ein schreckliches; in dem finstern Loch an der Kette bei Wasser und Brod wird man ihn verschmachten lassen – vielleicht auch einmauern –«[204]

»O Gott! und ich habe ihm dies Loos bereitet!« rief Ulrich außer sich; »Du sagtest, daß Du schon auf die willkürliche Zertrümmerung aufmerksam gemacht und daß man Dir nicht glaubte; man wollte vielleicht diese schreckliche Strafe vermeiden – und nur durch mich ist der Schuldige gefunden und zum Opfer geworden!«

»Du sagtest ja selbst, daß ein solcher Frevel Strafe verdiene!« entgegnete Konrad verwundert.

»Im Eifer für die Kunst vergaß ich den Menschen!« seufzte Ulrich. »Kannst Du mir nicht helfen, diesen Amadeus zu sprechen.«

»Wozu sollte das führen? – es wird auch gar nicht möglich sein.«

»Konrad – ich beschwöre Dich – verrathe mich nicht! Hilf mir! Ich muß ihn sprechen – ich glaube, er ist ein Verwandter von mir. – Hast Du nie etwas von seinem frühern Geschick – seiner Herkunft gehört?«

»Daß er einst ein stolzer Ritter gewesen und vor ungefähr dreizehn Jahren in das Kloster gekommen, hat er mir selbst erzählt. Er habe schwere Sünde auf sich geladen gehabt und sich in diesem Walde das Leben nehmen wollen – da er aber das Schwert gegen sich selbst erhoben, habe ihm ein Mönch dasselbe entreißen wollen, so daß er sich nur verwundet; der Mönch, eben[205] der Bruder Martin, der dort schläft, hatte den Bewußtlosen mit in das Kloster genommen und hier den an der Wunde und einem hitzigen Fieber schwer Darniederliegenden verpflegt. Als er wieder zu genesen begann, blieb er im Kloster, um wenigstens für die Welt draußen todt zu sein, und ward Mönch, um seine Sünden zu büßen. Das hat er mir selbst erzählt, da er mich fragte, warum ich so jung schon Zuflucht in diesen Mauern suchte.«

»Du wolltest uns Deine Geschichte erzählen!« sagte Ulrich.

»Ich glaubte, Du habest mich darum hierher bestellt,« antwortete Konrad, »aber Du scheinst jetzt nicht aufgelegt, sie zu hören?«

»Doch« – versetzte Ulrich; »vielleicht gleicht sie der meinen.«

»Da sei Gott vor!« rief Konrad im schmerzlich abwehrenden Tone. »Aber ich kann Dir Alles mit wenig Worten sagen. Meine Mutter war eine Wittib in Regensburg, und da mich meine Liebe frühe zur Kunst zog, so lernte ich dort in der Bauhütte und ward in die Zunft der freien Steinmetzen aufgenommen. In dem Hause, in dem wir wohnten, hatte die Tochter unserer Hausfrau ein Auge auf mich geworfen, aber ich[206] wollte meinem Gelübde treu bleiben und folgte nicht ihren Lockungen, obwohl ich das Mädchen selbst lieb hatte und es mir manchen schweren Kampf kostete, in meinem Vorsatz fest zu bleiben. Das Mädchen war unglücklich und liebeskrank; ihre Mutter machte mir Vorwürfe und fragte, ob ich ihr die Tochter ermorden wolle oder nicht? Ich hatte keine andere Antwort, als meinen Schwur als Baubruder, der mich zum Cölibat verdammte – da sagte sie: dann wisse sie einen Rath. Ich blieb dennoch von ihr zurückgezogen. Nicht lange darauf erhielt meine Mutter eine gerichtliche Vorladung, deren Inhalt ich nicht erfuhr, und wieder nicht lange darauf ward mir in der Bauhütte angekündigt, daß man mich aus derselben stoßen müsse, denn meine Zeugnisse seien falsch gewesen: ich sei nicht von ehrlicher Geburt. Meine Mutter habe mich zwar für das Kind ihres Gatten ausgegeben – aber jetzt habe sie selbst auf Befragen gestanden, daß ich der Sohn des reichsten Nürnberger Patriziers Christoph Scheurl sei. Ich sei dadurch unwürdig bei der Genossenschaft freier Maurer zu bleiben. Um meiner Jugend Willen aber und weil ich noch in den untersten Graden sei, wolle man mich nicht mit Schimpf und Schande ausstoßen, dafern ich selbst meinen Austritt erkläre, um mich in ein Kloster zurückzuziehen.[207] So mußte ich diese Zufluchtsstätte wählen, um nicht als Geächteter einen ewigen Schimpf auf mich zu laden. So kam ich hierher. Das ganze Unheil hatte unsere Hausfrau angestiftet, der es bekannt war, daß kein unehrlich Geborener Baubruder sein durfte. Sie wollte dadurch ihrer Tochter und vielleicht mir selbst zum Glück verhelfen und dachte, ich könne als profaner Steinmetz mit ihr verbunden überall Arbeit finden – so hatte sie verrathen, was ihr meine Mutter schon einst vor vielen Jahren in einem Moment unbedachter Eitelkeit offenbart: daß ich eigentlich ein vornehmer Herr sein sollte, da ein Rathsherr von Nürnberg mein Vater. Ich aber flüchtete vor der Schande in's Kloster, deren Bestrafung auch nur dadurch meiner Mutter erspart blieb. Das unglücklich liebende Mädchen ist gestorben – und ihre Mutter hat durch dies gewaltsame Eingreifen so den Tod des eigenen Kindes und unser Aller Unglück verschuldet!«

Ulrich fühlte sich bei dieser Erzählung von kaltem Schauer geschüttelt – er war keines Wortes fähig, da der Jüngling geendet – umarmte ihn und sagte nur: »Bruder!«

»Du verachtest mich deshalb nicht?« fragte Konrad.[208]

»Nein!« rief Ulrich; »denn ich glaube mehr an den Gott der Liebe, denn an den der Strenge, der die Sünden der Väter an den Kindern heimsucht bis in's dritte und vierte Glied!«

»Dank Dir dafür!« antwortete Konrad. Nach einer Pause, in der jeder seinen Gedanken nachhängen mochte, sagte er: »Und warum willst Du zu Amadeus?«

»Ich muß ihn um Vergebung bitten« – sagte Ulrich; »er wollte mir etwas sagen vorgestern Morgen, als man ihn abrief – ich muß es wissen.«

»Vielleicht kann es morgen Nacht geschehen – verlaß Deine Zelle um Mitternacht, ich will Dich an Deiner Thür abholen, wenn es mir möglich wird, Dich in das unterirdische Gefängniß zu führen.«

So trennten sie sich, noch aufgeregter als wie sie gekommen.[209]

Quelle:
Louise Otto: Nürnberg. Band 1–3, Band 2, Bremen 21875, S. 190-210.
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