IV. Nr. 18 in der Klosterstraße

[58] »Die Kette, die die Herzen band,

ist nun zerstückt, zerschellt«

Otto v. Wenkstern.


Die beiden Pensionärinnen, Elisabeth von Hohenthal und Aurelie von Treffurth, waren im Begriff, ihr Vorhaben auszuführen, welches sie in später Nacht beschlossen hatten. Sie wollten zu der Blumenmacherin gehen, welche mit Thalheim in einer Etage wohnte. Elisabeth, sonst nicht gewohnt, viel Zeit auf ihre Toilette zu verwenden, machte sie heute mit besondrer Sorgfalt. Sie war ganz in Weiß gekleidet, nichts Farbiges war in ihrem Anzug. Als sie in den Garten trat, wo Aurelie sie erwarten wollte, und die andern Mädchen versammelt waren, blieb Elisabeth in der Thüre stehen, weil sie die Gefährtinnen in Aufregung, wie es schien, in einem Streit gewahrte, und erst von fern sehen und hören wollte, was es gäbe, ehe sie sich in eine Sache mische, für welche sie vielleicht kein Interesse hatte. Sie lehnte sich an das von Ephen umrankte Portal des Einganges,[58] die rechte Hand auf das zierliche Sonnenschirmchen gestützt, und blieb in lauschender Stellung.

Pauline Felchner stand in der Mitte der andern jungen Mädchen, welche theils mit hohnlachenden, theils hochmüthigen, zürnenden Blicken auf sie sahen.

»Solches Gesindel in unsre Gesellschaft zu bringen!«

»Ich habe es immer gesagt, sie taugt besser zu dem Bettelvolk, als zu uns – es ist ja ihres Gleichen.«

»Ihr Geld ist ja das Einzige, worauf sie stolz sein kann!«

So und ähnlich schallten die Reden von Paulinen's Gefährtinnen. Sie selbst brach endlich in Thränen aus und sagte: »Ihr mögt mich schelten, wie Ihr wollt, hättet Ihr nur das arme Mädchen in Frieden gelassen – ich bin es ja schon gewohnt, um Nichts von Euch verachtet zu werden.«

»O, sie thut noch hochmüthig –« sagte Aurelie, »aber dort steht Elisabeth – es ist Schade, daß sie nicht da war – ein Wort von ihr würde Paulinen so imponirt haben, daß sie nicht zu antworten wagte.«

»Elisabeth ist kalt und stolz, aber sie ist nicht ungerecht, sie hat mich niemals beachtet, aber sie ist nicht fähig, Jemandem absichtlich Unrecht zu thun,« sagte Pauline entschieden.

Elisabeth trat vor – sie sah Paulinen groß und verwundert[59] an – womit hatte sie es verdient, um Paulinen verdient, daß diese eine so ehrende Meinung von ihr hegte? In diesem Augenblicke, als die stille Pauline ihre großen blauen Kinderaugen o vertrauend auf Elisabeth richtete, als suche sie bei ihr Schutz gegen die Unbilligkeiten der Andern, drang dieser Blick so tief in den Grund ihrer Seele, daß sie sich davon ungewohnt bewegt fühlte. Sie näherte sich ihr, ergriff ihre Hand freundlich und sagte: »Rede doch! Was giebt es?« Nie hatte Elisabeth so liebreich zu Paulinen gesprochen, wie sie jetzt diese wenigen Worte sagte – Pauline drückte ihr die Hand und ließ sie nicht wieder los, während sie ihre Rede nur an sie richtete:

»Wir waren hier bei einander, und warfen Reifen, als wir draußen an der Thüre eine weinende, bittende Stimme hörten, dazwischen scheltende Worte eines unsrer Dienstmädchen – dabei ward mein Name genannt – ich war deshalb Eine der Ersten, welche hinliefen, um zu sehen, was es gäbe. – ›Ich muß durchaus mit Mamsell Paulinchen sprechen, der liebe Gott wird's Ihnen segnen, wenn Sie mich zu ihr lassen –‹ hörte ich wieder sagen – da macht' ich rasch die Gartenthüre auf – und ein ärmlichgekleidetes, blasses Mädchen, ein altes Körbchen mit Blumen am Arm, stand vor mir. Es sah sehr leidend und kummervoll aus, und sein Anzug war aus vielen Stücken mühsam zusammengenäht. – – – Die Armuth mußte die[60] andern Mädchen wohl sehr belustigen, sie brachen in ein lautes Gelächter aus, daß die Fremde hoch erröthete, und die Augen niederschlagend ein paar helle Thränen verschluckte. Ich nahm sie bei der Hand, indem ich ihr sagte, daß ich Pauline Felchner sei, und die Andern bat, doch nicht zu lachen – sie lachten aber nur desto mehr, sagten, ich habe wohl solche Jugendfreundinnen – die reichen Fabrikanten hätten immer Bettelvolk zu Verwandten, und ließen solche hämische Worte mehr fallen, so daß jene immer verwirrter ward, mir zu Füßen fiel, und schluchzend bat: ›Ach, Mamsell Paulinchen, meine Mutter hat Sie oft mit mir auf einem Arme zugleich getragen – jetzt liegt sie hier auf den Tod, und die kleinen Geschwister sterben vielleicht auch bald vor Hunger. Sie hat mir oft erzählt, wie gut sie es in Ihrem Hause gehabt – und wie ich nun hörte, daß Sie hier wären, so dacht' ich in meinem Innern: die hilft euch vielleicht. Ich sah einmal bei Doctor Thalheim's, wo ich die Aufwartung habe, ein Buch, auf welches Ihr Name gedruckt war – da fragte ich den guten Herrn Doctor, ob er Etwas von Ihnen wisse – und er erzählte mir, wie Sie hier so fromm und gut wären, daß Sie mir gewiß helfen würden – nicht mir, sondern der kranken Mutter, den hungernden Kindern – da faßt' ich mir ein Herz und lief her, und da bin ich nun –‹ sie hielt inne, und barg ihr Gesicht unter der Schürze, es war vielleicht das erste Mal,[61] daß sie fremdes Mitleid in Anspruch nahm – und diese vornehmen Fräuleins antworteten ihr mit Gelächter –« sagte Pauline mit Bitterkeit, indem sie inne hielt.

»Es war auch ein ganz närrischer Auftritt,« sagte ein Fräulein – »die Bettlerin nahm sich sehr possirlich aus, und Pauline machte die Scene vollkommen, indem sie uns trotz dem besten Kanzelredner eine hochtrabende Strafpredigt hielt – ihr Eifer war es, über den wir natürlich noch mehr lachen mußten, und darüber, daß sich überhaupt ›Mamsell Paulinchen‹ unterstand, sich zu unsrer Gouvernante und Sittenrichterin aufzuwerfen.«

»Es kann sein, daß ich mich vergessen habe,« sagte Pauline, »aber ich war jetzt nicht die Erste von uns, der dies geschah –«

»Lass' das gut sein,« unterbrach Elisabeth. »Was antwortetest Du der Armen?«

»Ich hatte zum Glück in meiner Schürzentasche einen Thaler, da ich mir eben Etwas wollte holen lassen – den gab ich dem Mädchen mit dem Bemerken, daß ich nächstens zur kranken Mutter kommen würde. Wenn sie Thalheim zu mir geschickt, so würde er mir auch sagen können, womit ihrer Noth am Besten geholfen sei. – Sie wollte mir die Hand küssen, aber das duld' ich von Niemand, so umarmte ich sie, und bat sie, so schnell als möglich zur kranken Mutter zu gehen, und drängte sie fort, denn ich wollte[62] sie so schnell als möglich den Demüthigungen hier entziehen – ich weiß ja, wie weh sie thun! Ich wollte dadurch, daß ich sie küßte, sie vergessen machen, was die Andern an ihr verbrochen – – und nun hast Du nur einen Theil von dem gehört, wie sie mich deshalb verhöhnen. – –«

Elisabeth fiel Paulinen um den Hals, und sagte: »Vergieb mir, daß ich Dich mit thörigtem Hochmuth gekränkt habe – ich habe Dich früher ja nicht gekannt – nun aber kenne ich Dich, und bitte Dich: sei meine Freundin! – Und Ihr Andern, wenn Ihr sie wieder kränkt – so kränkt Ihr mich auch. Das wird Euch freilich einerlei sein, und wie Ihr vorhin sie ausgelacht habt, so werdet Ihr mich jetzt auslachen – aber Du, gute Pauline, wirst nicht mehr allein und unverstanden unter uns sein!«

Und Pauline erwiderte innig die herzliche Umarmung, und vermogte weiter Nichts zu sagen, als: »Ich danke Dir!« und eine große, helle Freudenthräne fiel aus ihrem Auge auf Elisabeth.

Diese hatte eine solche Autorität bei sämmtlichen Pensionärinnen, daß ihr wenigstens in's Gesicht keine ein Wort zu erwidern wagte. – Einige griffen wieder zu den Reifen, als seien sie durch Nichts unterbrochen worden. Andere rümpften die Nasen, und tauschten halblaut spitzige Bemerkungen über die neue Freundschaft – nur Aurelie, die immer muthwillig, und in ungezähmter heitrer Laune[63] war, sagte: »Ach, ich bitte Euch, welche sentimentale Scene! Ich glaubte eine solche heute wenigstens an einem ganz andern Ort, als hier, zu erleben, und niemals hätte ich mir träumen lassen, daß Du, Elisabeth, über eine Kinderei unsern wichtigen Ausgang ganz vergessen könntest! Ich warte schon lange auf Dich, und wir müssen sehr eilen, wenn Du nicht Dein ganzes Vorhaben aufgegeben hast. –«

»Ja, wir haben Eile,« sagte Elisabeth, »aber auch Du, Aurelie, konntest? –«

»O, ich war nicht im Geringsten besser, als die Andern. – Wenn ich aber eine zu erwartende Strafpredigt von Dir ohne Unterbrechung anhören soll, so muß ich mir dabei ein Liedchen singen.« Und indem sie dies gesagt hatte, fieng Aurelie an eine Tyrolienne zu jodeln.

Elisabeth antwortete nicht, nahm Aureliens Arm, und so gingen sie, von dem längst harrenden Diener gefolgt, schweigend durch die Straßen. Im Hause von Obrist Treffurth, als sie den Diener fortgeschickt hatten, sagte Elisabeth; »Es ist zu spät geworden, als daß wir Beide zu der Blumenmacherin gehen könnten, geh' Du nur immer herauf zu Deinen Verwandten, hier durch den Garten ist es nicht weit, und ich komme bald zurück.«

Aurelie sah sie erstaunt an: »Du willst uns Alle hofmeistern, und dies soll die Strafe sein, die Du für mich[64] ausgesonnen hast,« sagte sie erbittert, »aber Du bist in meiner Hand, sobald ich Alles sage. – –«

»Du bist muthwillig, aber Du bist nicht hinterlistig – Du wirst mich also nicht verrathen – und wenn Du es thun könntest, so scheue ich auch das Unangenehme nicht, was mich allein trifft.«

Elisabeth schlüpfte schnell durch den Garten, und hatte dann nur wenig Schritte zu gehen, so stand sie in der Klosterstraße vor dem Hause Nr. 18.

Mit klopfendem Herzen trat sie hinein und eilte schnell die breiten, hohen Treppen hinauf. Sie hatte sich außer Athem gelaufen, und mußte ein Wenig ausruhen, als sie in der 2. Etage anlangte. An der Thüre links, die nach dem Hintertheile des Hauses zu führen schien, stand der Name: Doctor Thalheim. Unwillkührlich lief Elisabeth nach der entgegengesetzten Thüre, und zog hastig an der Klingel: Wenn er jetzt käme! dachte sie ängstlich. An dieser Thüre war ein großes, rothes Schild befestigt, worauf mit goldnen, stattlichen Buchstaben zu lesen war: »Blumenfabrik von Henriette Krauß.«

Ein Dienstmädchen kam heraus, bat Elisabeth, einzutreten, indem sie ihr auch eine zweite Thüre öffnete.

Es war ein großes, helles Zimmer, ringsum mit Glasschränken, in welchen die von Sammt und Seide und andern kostbaren Stoffen künstlich geschaffenen Blumen in[65] den mannigfaltigsten Gestalten und Farben prangten. Aus einer Nebenstube schallte helles Gelächter vieler weiblicher Stimmen. Es war das Arbeitslocal – aus ihm trat jetzt die Leiterin dieses Geschäftes, Henriette Krauß, ein Mädchen von ungefähr dreißig Jahren, eine verblühte Schönheit, welche derselben durch etwas auffälligen, dabei nachlässigen Putz nachzuhelfen suchte. Ein Kind von etwa drei Jahren, mit einem braunen Lockenköpfchen und wunderbar großen, tiefblauen Augen drängte sich ihr nach.

»Womit kann ich dem Fräulein dienen?« fragte Henriette mit verbindlichem Knix, und Elisabeth verlangte ein Hutbouquet. Während sich nun das Gespräch um die Wahl dieser Blumen drehte und Elisabeth, dabei verlegen nachsinnend, wie sie wohl das Gespräch auf Thalheim bringen könnte, eine Anzahl blauer Blumen in der Hand hielt, sagte das Kind, sie groß ansehend:

»Blau gefällt dem Papa am Besten – nicht wahr blau? Und ich gehe auch blau,« fügte es, auf sein blaues Kleidchen deutend, hinzu.

»Geh hinein, Annchen,« sagte die Verkäuferin, »Du sollst nicht immer mit heraus kommen, wenn Damen da sind.«

»Ich habe aber die schönen Damen lieb,« versetzte die Kleine.[66]

Elisabeth neigte sich zu ihr: »Mich auch?« fragte sie. »Kennst Du mich denn?«

»Nein,« antwortete Annchen kleinlaut, und fing an mit der goldnen Kette zu spielen, welche an Elisabeths Halse herabhing. Diese fragte:

»Wie heißt Du denn weiter, Anna?«

»Es ist das einzige Kind vom Doctor Thalheim, der mit mir in einer Etage wohnt,« antwortete Henriette für das Kind. – »Die arme Mutter ist so krank, überhaupt immer so häßlich gegen das liebe Kind, daß ich es seit mehreren Wochen ganz mit zu mir herüber genommen habe.«

Da war nun auf einmal Elisabeth der Erreichung ihres Zweckes so nahe!

»Ist die Doctor Thalheim ohne Aussicht auf Rettung krank?« fragte sie.

»Es wäre ihr wohl eine baldige Erlösung zu wünschen, freilich mehr noch für Mann und Kind, denn sie ist die grilligste Kranke, die mir vorgekommen, und dadurch ist die Noth auf's Höchste bei ihnen gestiegen – man sieht es dem Doctor an, wie viel er leidet, obwohl er es Allen zu verbergen strebt – er ist der edelste Mann, den ich kenne.«

Während die Blumenfabrikantin so sprach, spielte das Kind noch immer mit Elisabeths Fingern unter dem seidnen Handschuh, und diese sagte jetzt zu jener leise: »Ich mögte[67] Etwas mit Ihnen allein reden, vor Allem darf es das Kind nicht hören.«

Letzteres war bald entfernt, und Elisabeth nahm Henriettens Hand und sagte: »Darf ich auf Ihre Verschwiegenheit rechnen? Ich bin beauftragt, diese Kleinigkeit an Doctor Thalheim gelangen zu lassen – aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, um ihn nicht zu beleidigen, und zugleich auch zu dessen Annahme zu vermögen. Sagen Sie ihm, daß es aus der Hand des Reichthums kommt, die sich am Fröhlichsten öffnet, wo sie es für Nothleidende kann, daß man es für seine Gattin bestimmt, daß es die Dankbarkeit sendet – sagen Sie ihm Alles, wodurch Sie ihn bewegen können, es nicht zurückzuweisen, aber verschweigen Sie ihm, daß man mich als erste Mittelsperson gewählt hat – wenn Sie mich kennen sollten – verschweigen Sie überhaupt, daß es ein Mädchen Ihnen übergeben hat – wenn Sie es nicht verschweigen,« fuhr sie mit ängstlicher Stimme fort, »könnte es leicht traurige Folgen für die Personen haben, welche Thalheims beste Freunde sind –« mit diesen Worten gab sie an Henriette ein Couvert, welches eine Banknote von 50 Thalern enthielt, und empfing dafür das feierlichste Versprechen, sowohl der pünktlichsten Abgabe, als des strengsten Schweigens.

Als Elisabeth an der Vorhausthüre, welche ihr Henriette öffnete, eben den letzten Knix empfing, öffnete sich[68] auch die entgegengesetzte Thüre. Eine Scene anderer Art hatte unterdeß in dem Zimmer Statt gehabt, zu welchem diese Thüre führte.

Es war eben vier Uhr vorüber, als Graf Jaromir von Szariny an Thalheims Thüre schellte.

Er öffnete selbst.

Sie standen sich gegenüber.

Sie standen sich gegenüber, Jaromir, dem die Braut, Thalheim, dem die Gattin untreu geworden – und Braut und Gattin waren eine Person.

»Man hat mich hierher beschieden –« sagte Jaromir.

»Es war Amaliens Wille,« antwortete Thalheim.

»Sind Sie Amaliens Gatte, und kamen die Zeilen, die ich diesen Morgen erhielt, von Ihrer Hand? – Nur dann habe ich das Recht, hier zu erscheinen.«

»Ich bin Thalheim – Sie werden unser Zusammentreffen hier seltsam finden, aber der Wille einer Sterbenden war mir heilig. Sie wartet jetzt auf uns mit Ungeduld, und deßhalb muß unsere Unterredung hier kurz sein. Es wird später Zeit sein zu einer nähern Erklärung. Amalie meint, nicht eher sterben zu können, bis sie Ihre Vergebung für ergangenes Unrecht und Weh erlangt hat. – Sie werden sie ihr nicht verweigern. Sie haben sich hier wiedergesehen –«

»Wiedergesehen?« fragte Jaromir, Thalheim unterbrechend,[69] »ich habe gar nicht gewußt, daß sie hier ist. –«

Thalheim sagte, mit einem langen Blick auf den Grafen: »Sie hat Ihnen eine Rose mit einem Zettel zugeworfen, als Sie unter ihren Fenstern weilten –«

»Unter ihren Fenstern – die Rose kam von Amalien?« rief Jaromir, immer verwunderter und bestürzter. »Wahrhaftig, der Zufall treibt ein närrisch Spiel mit mir!« und ein bittres und schmerzliches Lächeln zuckte dabei um seinen Mund.

Thalheim starrte ihn verwundert an – auch um seinen Mund zuckte ein bittres Lachen – er verstand jetzt Alles: der Graf hatte Amalien längst vergessen, und nicht um ihret Willen sah er leidend aus, nicht um ihret Willen war er in diese Stadt gekommen – aus andern zarten Händen hatte er gehofft, Rosen und geschriebene Worte zu empfangen, als aus ihren – es war der Selbstbetrug der Liebe, welcher Amaliens Herz und Sinne gefangen genommen. So sagte er jetzt sehr ernst, beinah feierlich zu Jaromir:

»Herr Graf, Amalie glaubt sich von Ihnen noch geliebt – schonen Sie die Sterbende, ohne sie zu täuschen – vergeben Sie ihr als ein milder, mitleidiger Richter.« Er trat jetzt aus dem Vorsaal, in dem beide leise diese Unterredung[70] geführt, in das Zimmer, in welchem Amalie angekleidet auf dem Bette lag, und sagte zu ihr mild:

»Bist Du stark genug, Szariny zu empfangen? Er wartet draußen.«

»Ich hörte seine Stimme längst, warum läßt Du ihn warten?« rief sie ungeduldig.

Szariny trat ein.

Welch ein Wiedersehen!

Er ein glücklicher, lebensfroher und lebensfrischer Jüngling, Sie ein glückliches, blühendes Mädchen – beide glücklich allein durch die zärtliche Liebe, in welcher sie für einander schwärmten und glühten – so hatten sie einst einander verlassen mit den heiligsten Liebesschwüren.

Vier Jahre waren seitdem vergangen.

Jetzt sahen sie sich wieder. Sie hatte ihn wieder erkannt, denn sie liebte ihn noch, und das liebende Frauenherz findet aus Tausenden den wieder heraus, dem es in Liebe schlägt – und trotz der Macht der Jahre, jedes äußeren Einflusses den Gemüthsbewegungen und Leidenschaften, äußere und innere Leiden, ja selbst Lebensverhältnisse und Tracht auf eine Menschengestalt und ein Antlitz ausüben. So hatte sie ihn erkannt. Aber hätte man ihm nicht gesagt, diese bleiche Kranke sei Amalie – er hätte es nimmer geglaubt.

Vielleicht hatten die innern, steten Kämpfe Amaliens[71] – dieses stete Ringen in einem zuckenden Herzen, das es sich selbst nicht einmal wissen lassen will, wie es stündlich kämpft – dieses Ringen, das vielleicht nur die Frau mit seinen ganzen gräßlichen Qualen ganz verstehen kann, welche selbst an einen Mann gefesselt ist, den sie hochachten muß, aber für den ihr Herz sich vergebens bemüht, Liebe zu empfinden – vielleicht hatte dieses Ringen Amalien schon vor ihrer Krankheit verändert. Es hatte ihr inneres Leben verbittert – und dieses Verbittertsein prägte sich deutlich auf ihrem Gesicht aus, ihr Charakter war heftig und herrisch geworden, und dadurch, daß sie für Alles, was sie im Stillen litt, Niemand und nichts Anders verklagen konnte, als sich selbst, so nagte das Bewußtsein, nur selbst verschuldetes Weh zu tragen, und zwar durch Leichtsinn und Unrecht verschuldetes, nur um so zehrender an ihrem Innern. – Und weder dies Bewußtsein, noch die Reue, die sie verbergen mußte, war geeignet, sie ergeben und friedlich zu machen – sondern sie ward dadurch nur immer heftiger – und so war auch aus ihrem Antlitz längst jede Spur von Milde und Friede gewichen – ein unheimliches Etwas, das immer Unzufriedenheit und Unbehagen ausdrückte, war an dessen Stelle getreten. Anderen Frauen verleiht die Mutterwürde und das Mutterglück einen neuen, oft einen heiligen Zauber, auch dem Aeußeren, besonders dem Ausdruck der Züge – bei Amalien war das nicht so. Sie liebte ihr[72] Kind nicht, denn es war das Kind eines ungeliebten Gatten, und da sie allein sich seiner mühsamen Pflege hatte unterziehen müssen, oft kämpfen mit täglichen Entbehrungen, und manches Opfer bringen mußte, so erschien es ihr oft eher eine Last als ein Glück – Mutter zu sein. Sie fühlte sich einmal nicht glücklich, und so ward Alles, was in andern Fällen geeignet ist, das Glück zu erhöhen, für die einmal Unzufriedene eine neue Quelle zur neuen Unzufriedenheit. Durch all' dieses hatte ihr Gesicht schon längst jeden Ausdruck von Milde und Lieblichkeit verloren. Nun hatte die Krankheit ihre Wangen bleich und hohl gemacht, ihre Augen waren matt geworden, und hatten ihren früher schönen Glanz verloren; ihren bleichen Lippen konnte man es nicht ansehen, wie glühend sie einst geküßt hatten, und so glich ihre ganze Erscheinung einer verwelkten Blume.

Jaromir stand erschüttert vor ihr. Es war eine lange, peinliche Pause.

Jaromir, als er so das Weib seiner heiligen, ersten Liebe vor sich sah, hielt den Anblick kaum aus. Er drückte die eine Hand vor die Augen, und ihm war, als sehe er so seine eigene Jugend selbst vor sich, verwelkt und vergiftet, und langsam dahinsterbend – diesem Weibe hatte er seine Jugend gegeben, und wie ein Gespenst, das keine Ruhe finden kann, stand sie jetzt vor seiner Seele – wie ein schöner Traum, den er nur ein Mal geträumt, nicht wieder[73] träumen kann, und der ihn doch immer mit Erinnerungen quält. Er konnte sich nicht fassen, er stand regungslos da, und war keines Wortes mächtig.

Thalheim hatte das Zimmer verlassen.

»Nun Jaromir,« flüsterte endlich Amalie, »Du bist gekommen, aber Du hast kein Wort für mich?«

»Es liegt Viel zwischen dem Heut und unserer letzten Zusammenkunft,« sagte er, »aber auch eine lange Zeit ist seitdem verflossen, und wir könnten einander jetzt ruhig gegenüberstehen, wenn der Zufall uns anders zusammengeführt hätte, als heute und hier.«

»Als durch meinen Gatten, meinst Du? – Jaromir, kannst Du mir vergeben, wenn ich Dir sage, was ich um Dich gelitten?«

»Sei ruhig,« sagte er, »ich habe Dir längst vergeben. – Warum überhaupt diese Erinnerungen wecken an Schmerzen, die ja nun überwunden, an Kämpfe, die nun ausgekämpft sind? – –«

»Ja, ausgekämpft, wenn das Leben aus ist – bei mir nicht eher! – Jaromir – ich habe es wohl gesehen, wie Du verlangend nach meinen Fenstern spähtest, bis ich Dir die Rose sandte – ich sah, wie ich Dir noch theuer war, und deshalb dachte ich, wir müßten uns noch ein Mal in diesem Leben wiedersehen.«

Es war ihm peinlich – aber er nahm ihr ihren süßen[74] Wahn nicht – Thalheim hatte ihn ja selbst gebeten, ihn zu schonen.

Eine Thräne trat in seine Augen, er nahm ihre Hand und die Thräne fiel darauf.

Amalie zuckte zusammen, die innere Aufregung rief einen heftigen Anfall ihrer Körperschmerzen herbei. Thalheim eilte sogleich in das Zimmer, und an ihr Lager. Es war ein heftiger Krampfanfall, der sie in Zuckungen hin und her warf. – »Ich sterbe!« stöhnte sie dazwischen. »Vergebt mir Beide!«

»Beide!« riefen Thalheim und Jaromir feierlich zugleich.

»Ich danke Dir,« sagte sie zu Jaromir. – »Seid Beide glücklich, ich segne Euch – jetzt sterb' ich schön und in Frieden.«

Ihre Augen schlossen sich, und so sank sie in die Kissen zurück. Aber der Tod kam noch nicht.

Es war nur eine Ohnmacht, welche auf diese Krämpfe folgte, und dann ein sanfter, stiller Schlaf.

»Mag sie es für einen Traum nehmen,« sagte Jaromir, »ich will sie verlassen, damit sie aufwachend mich nicht wiederfinde, und auf's Neue sich aufrege. – Doctor Thalheim – ich danke für Ihr Vertrauen – Amalie war meine erste Liebe – aber ich habe ihr entsagt von da an, wo sie freiwillig sich von mir wandte – für mich war sie[75] nun längst gestorben – und wie auch jetzt ihre Krankheit sich gestalte, und welchen Ausgang sie nehme – für mich ist Amalie keine Lebende mehr, so hab' ich sie immer betrachtet, wenn ich jetzt einmal träumend meiner Jugend und ihrer gedachte – und so wird es immer bleiben.«

»Herr Graf,« versetzte Thalheim, »nur der sehnliche Wunsch einer Sterbenden konnte meine Aufforderung an Sie und diese Scene entschuldigen und heiligen – es ist in Ihrer Macht, mich und Amalien dem allgemeinen Spott preiszugeben – aber ich denke besser von Ihnen.«

»Das hoff' ich zu verdienen. Sie werden nie Ursache haben, es zu bereuen, mir gegenüber der Stimme des Gefühls gefolgt zu sein. Ob und wie wir uns auch wieder im Leben begegnen, wir werden es mit dem Bewußtsein können, einander vertrauen zu dürfen.«

So schieden sie von einander.

Als Thalheim die Vorsaalthüre geöffnet hatte, bot ihm Jaromir noch die Hand, die jener schweigend drückte.

Dies war der Augenblick, in welchem Elisabeth aus der entgegengesetzten Thüre trat, welche zu der Blumenfabrikantin führte.

Thalheim trat zurück und schloß die Thüre, ohne sie bemerkt zu haben. Aber sie hatte ihn und den Händedruck gesehen, mit dem er von dem Grafen schied, und war deshalb[76] unwillkührlich einen Augenblick auf ihrem Platze stehen geblieben.

Jetzt begegnete ihr Auge dem des Grafen – sein Blick auf sie ward immer schwärmerischer, leuchtender – sie senkte schnell ihre Augenlider und eilte die Treppe hinab. Sein Weg führte ja auch hinunter, aber er folgte ihr nur langsam.

Für Amalien hatte er Nichts mehr empfinden können, als Mitleid – er empfand jetzt dasselbe beinahe für sich selbst. Ihr Leben schien vergiftet und elend geworden zu sein von dem Augenblick an, wo sie das Liebesverhältniß zu ihm aufgelös't hatte, und so war es ihm selbst auch ergangen. Von jenem Augenblick an hatte für immer seine glückliche Jugend mit all' ihren glücklichen Zukunftsträumen geendet – er war ein anderer Mensch geworden. Er dachte jetzt an dieses Jugendglück. – Da fiel sein Blick auf Elisabeth – – auf diese schlanke, weißgekleidete Gestalt mit den schwärmenden Augen, der stolzen Stirn und den ernsten, fest aneinander geschlossenen Lippen, diese ganze Erscheinung, um welche der Zauber der heiligsten Jungfräulichkeit schwebte, einer schönen Unschuld, welche doch nicht mehr die eines spielenden Kindes war – es war eine Unschuld, die Würde und Grazie zugleich hatte und von hohem Ernst zeigte neben dem Ausdruck unentweihten Engelfriedens.[77]

Jaromir fühlte in diesem Augenblick ein neues Gefühl in seinem Herzen, das er aber nicht einmal zu fragen vermogte: woher kommst Du mir?

Als er so hinter ihr in ihrem Anblick verloren langsam die Treppe herabschritt, trat die Schauspielerin Bella aus dem Garten am Arme eines geschwätzigen Leutnants.

»Sie suchten mich in meinem Zimmer, lieber Graf?« sagte Bella zu Jaromir. »Vermuthlich um Ihr unartiges Billet von diesem Morgen wieder zurückzufordern, oder wenigstens dessen Ausdrücke zu corrigiren? Nun – kommen Sie als reuiger Sünder, wer weiß, ob nicht Vergebung für Sie zu hoffen ist – ich bin gerade in gnädiger Laune.«

Bella hätte zu jeder andern Stunde eher Jaromir begegnen und ihn wieder zu ihrem Sclaven machen können – aber nur jetzt nicht!

Der Contrast der Stimmungen und der Erscheinungen war zu groß – er fühlte plötzlich einen heftigen Widerwillen gegen Bella, und alle Höflichkeit, sogar alle gewöhnlichen Rücksichten vergessend, antwortete er heftig:

»Es thut mir leid, daß ich in meiner jetzigen Stimmung unfähig bin, Ihr Gesellschafter zu sein,« und eilte mit flüchtigem Gruß an ihr vorüber.

Elisabeth war eben zur Hausthüre herausgegangen, Bella hatte sie vorher auch begegnet, und war von der idealischen Schönheit des Mädchens überrascht gewesen. – Wer[78] ist diese junge Fremde, fragte sie sich jetzt, mit welcher Szariny es wagt, sich in demselben Haus ein rendez-vous zu geben, welches ich bewohne, und mit der er es zugleich verläßt? Daß sie den höchsten Ständen angehört, sah man auf den ersten Blick. – Und trotz dieser stolzen Haltung und diesem hochmüthigen Ausdruck im Gesicht wagt sie es, um des Grafen willen, die Etiquette zu verletzen? – Ja, Szariny ist ein Zauberer! – Und indem Bella dies dachte, fühlte sie heute mehr, als jemals, welche Macht Jaromir über Frauenherzen besitzen müsse, da das ihre, das er so eben schwer verletzt, gerade heute glühender, als jemals, für ihn schlug.[79]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 1, Leipzig 1846, S. 58-80.
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