VIII. Ein Fabrikarbeiter

[131] »Aus dem Munde des Heloten

Strömen die Räthsel des neuen Bundes.«

Alfred Meißner.


Elisabeth war bei ihrer Ankunft in dem väterlichem Schloß mit keiner Illumination empfangen worden, aber von einem zärtlichen Mutterherzen und einem glücklich stolzen Vater. Sie fühlte sich stolz und befriedigt, als sie wieder diese alten ehrwürdigen Räume betrat, welche sie seit Jahrhunderten in dem Besitz ihrer Väter wußte. Sie fühlte, daß sie hier Herrin sei, und dies Bewußtsein gab ihr wenigstens auf Augenblicke Befriedigung.

Die beiden Freundinnen hatten sich am Christmorgen das leuchtende Zeichen ihrer einigen Freundschaft gegeben. Nach dem Schloß hinauf zogen die Kinder der ärmeren Landleute und empfingen dort die Gaben, welche Elisabeth unter den flimmernden Christbäumen für sie ausgebreitet hatte – und zu derselben Stunde zog eine ungleich größere[131] Schaar von Kindern in den ebenfalls glänzend geschmückten Saal des Fabrikgebäudes. Aber dies waren bleiche, schmächtige, dürftig in unreinliche Lumpen gehüllte Kinder, welchen man es ansah, daß ihre kleinen Hände und halbverkrüppelten Glieder schon an schwere Arbeit gewöhnt waren, auf deren Gesichtern man es las, wie oft ihr kleiner Mund mit den blassen Lippen umsonst nach Brod verlangen mußte, wie in diesen trüben, niedergeschlagenen Augen ein Ausdruck thierischen, stummen Duldens lag. Diese kleinen, blassen Kinder hatten einander seltsam angestarrt, wie man sie zu den schimmernden Christbäumen geführt, und ihnen dann die warmen Röckchen und Schuh mit den rothen Aepfeln und klappernden Nüssen gegeben hatte. Sie hatten die Gaben hingenommen ohne Dank und Jubel, beinah ohne Freude – und nur einem groben Instinkt folgend das Obst zum Munde geführt – so sehr ohnmächtig jeder Gefühlsregung hatte sie das tägliche Elend und die stete Arbeit gemacht, Pauline hatte laut weinen müssen, als sie diese unglücklichen Kleinen um sich versammelt sah – aber sie weinte nicht aus stiller Rührung, wie sie sich es wohl ausgemalt hatte, sondern aus tiefem, unendlichem Jammer, bei dem sie meinte, er müsse ihr ganz das weiche Herz durchschneiden.

Seitdem waren einige Tage vergangen, die Freundinnen hatten sich noch nicht wiedergesehen. Da sagte sich Elisabeth, daß sie, als die Höhergestellte, den ersten Schritt zu[132] ihrer Wiedervereinigung thun müsse. Sie wußte, daß dies ihre Eltern kränken würde, aber länger, fühlte sie, durfte sie es ihnen nicht ersparen. Aber als sie sich anschickte in die Fabrik zu gehen, sagte sie noch nicht, wohin sie ihre Schritte lenkte.

Es war ein Sonntag Nachmittag. In der Fabrik ward gefeiert. Elisabeth hatte deshalb absichtlich diesen Tag gewählt, weil sie da weniger glaubte jenes Getreibe roher und lärmender Arbeiter dort zu finden, welches ihr so lästig war, und für das sie eben so viel Furcht als Abscheu empfand.

Sie ging allein durch den Park, an welchen bereits die ersten Fabrikgebäude grenzten. Es war ein kalter, heller Wintertag, denn seit Weihnachten war der Winter in seiner ganzen empfindlichen Strenge gekommen, eine große Menge Schnee war gefallen, und von einer spätern festen Eiskruste überzogen, lag er undurchdringlich über den Fluren. Die Sonne schien hell, aber ihr Strahl vermogte nicht, auch nur einen Thautropfen hervor zu locken. Auf den Tannen im Wald lagen die weißen Flocken wie dichte Federdecken, krächzende Krähen flogen darüber hin, und ihr Geschrei war der einzige Laut, welcher die winterliche Todtenstille störte. Nur Elisabeths Pelzstiefelchen hörte man auf den halb ganz verschneiten Wegen knarren, auf welchen man keine andere[133] Spur eines Trittes gewahrte, als hier und da die kleine eines Eichhörnchens oder eines Hasen.

Sie wußte nicht, welchen Weg sie einzuschlagen hatte, als sie aus dem Park getreten war, und nun eine Menge kleiner, unregelmäßiger Wege gewahrte, die bald in diese, bald in jene Hütte, bald in dieses oder jenes Fabrikgebäude sich verliefen. Da kam ein junger Mann aus einer der Hütten. Er trug einen alten kurzen grauen Rock, einen rothen Shwal unter dem weißen herausgeschlagnen groben Hemdkragen um den Hals gewunden, wollne blaue Fausthandschuh, und eine hohe Pelzmütze, aus welcher ein rother Sack mit langer Quaste auf der linken Seite heraushing. Dieser an sich zwar nicht ungewöhnliche, zwar sehr abgetragene, aber doch reinliche Anzug, gab doch dem jungen Mann etwas Abenteuerliches – sein Gesicht aber machte auf Elisabeth einen seltsamen Eindruck, so daß sie ihn eine Weile aufmerksam betrachtete. Er hatte eine auffallende Aehnlichkeit mit Thalheim. Dieselbe lange, schmächtige Gestalt, dieselbe blasse Gesichtsfarbe. Auch das Haar zeigte dieselbe Farbe, nur daß es länger als das Thalheims zu beiden Seiten des Gesichtes lockig herabfiel. Seine Augen waren blau und glänzend. Aber auf diesem Gesicht, das übrigens noch das eines Jünglings von etwa 24 Jahren war, thronte neben dem Zug des Schmerzes, welcher es wie das Thalheims charakterisirte, nicht wie bei diesem jener[134] heilige Friede, sondern eine bittre Unzufriedenheit, ein kecker Ungestüm, welcher Ausdruck jedoch nicht hinderte, daß dieses Gesicht, besonders wenn man es öfter und länger betrachtete, von edlen und liebevoll-milden Empfindungen zeugte.

An diesen Jüngling wandte sich Elisabeth mit der Frage: »Welcher von diesen Wegen führt zunächst in Herrn Felchners Wohnhaus?«

»Hier rechts, gerade aus, ich gehe jetzt auch dahin,« antwortete der Angeredete mit einer schönen klangreichen Stimme, welche nicht den entferntesten gemeinen Ausdruck hatte, ohne jedoch etwa einen sehr höflichen oder unterwürfigen Ton anzunehmen.

Nachdem sie durch verschiedene kleine Straßen und Höfe gekommen waren, langten sie vor der Hausthüre zu Felchners Wohnung an. Der Führer trat zur Seite, und nahm ehrerbietig die Mütze zwischen die Finger – ein Fabrikarbeiter trat aus dem Hause, und sagte, ohne Elisabeth zu grüßen, oder irgend auf sie zu achten: »Willst Du zum alten Herrn, Thalheim? Da wirst Du jetzt Wenig ausrichten, denn er hat ganz schlechte Laune.«

»Ist gleich,« sagte der junge Mann kalt. »Für uns wird er ja doch niemals gute haben.«

Elisabeth konnte sich des Ausrufs größter Ueberraschung nicht enthalten: »Sie heißen Thalheim?«[135]

»Zu dienen, Franz Thalheim,« antwortete Jener mit einer Art von Selbstgefühl.

»Siehst Du,« sagte der Andre, »die Mamsell wird Deinen Namen wohl kennen, in der Stadt lesen sie Alles, was Du schreibst.«

Franz schüttelte mit dem Kopfe.

»Sie sind also wohl Literat?« fragte Elisabeth.

»Literat!« versetzte Franz. »Das Wort klingt zu vornehm für einen armen Fabrikarbeiter, welcher nur in seinen wenigen Mußestunden hier und da ein offnes Wort geschrieben hat für seine armen geplagten Brüder – und was ein schlichter Arbeiter in seiner Einfalt schreibt, lesen doch die vornehmen Leute nicht – –«

In diesem Augenblick hüpfte Pauline, welche soeben Elisabeth bemerkt hatte, durch eine rasch geöffnete Zimmerthüre und warf sich jubelnd an den Hals der Freundin. Sie zog sie mit sich die Treppe hinauf in eines jener mit Glanz und Bunt überladenen Prunkgemächer, welche ihr Vater speciell für sie bestimmt hatte.

»Was ist das für ein Mensch, der mich hierher geleitete, und der sich Franz Thalheim nennt?« fragte Elisabeth nach der ersten herzlichen Begrüßung. »Er sieht ihm so ähnlich!« fügte sie bei, indem sie sinnend vor sich nieder sah.

»Ja,« antwortete Pauline lächelnd, »das hättest Du[136] wohl nicht gedacht? Er ist nur ein gewöhnlicher Arbeiter in unsrer Fabrik, aber ein jüngerer Bruder unseres Lehrers Thalheim.«

»Wär's möglich!« rief Elisabeth.

»Ja, dieser Franz hat mir es selbst erzählt, sein Vater ist Schuhmacher gewesen, und da sein ältester Sohn viel Anlagen gehabt, so hat er ihn zum Studiren bestimmt. Darüber ist aber der Vater gestorben, und da unser Lehrer das Studium nicht hat aufgeben wollen, so hat er sich auf der Universität sehr kümmerlich behelfen, und allerhand kleine Erwerbsquellen aufsuchen müssen. Die andern Knaben haben an die Erlernung eines Handwerkes gehen müssen, und so befindet sich denn seit Kurzem dieser Franz in unsrer Fabrik. Er ist nicht roh und ungesittet, wie die andern niedriggestellten Fabrikarbeiter, aber diese scheinen ihn mehr als irgend einen zu lieben, trotzdem, daß er ihnen manchmal mit strafenden Worten die Wahrheit sagt.«

»Ich hörte einen Andern davon sprechen, daß er schreibe – wohl für's Volk?«

»Ja, er hat einige einfache, aber rührende Geschichten geschrieben, welche die Noth der Fabrikarbeiter, der arbeitenden Classen überhaupt schildern – er hat mir selbst am Tage nach unsrer Christbescheerung ein Exemplar davon geschickt, und eine gefühlvolle Dedication für mich beigefügt. Bei dieser Gelegenheit war es auch, wo ich überhaupt zuerst[137] von ihm hörte, ihn sah und er mir seine Familiengeschichte und die Verwandtschaft mit unserm Lehrer erzählte.«

»O, erzähle mir Alles wieder, es interessirt mich Alles, was ich von seinem Bruder höre, laß Nichts aus, erzähle, wie Du ihn zuerst sprachst, und was er sagte,« bat Elisabeth.

»Gern,« antwortete Pauline mit einem leichten Erröthen, »denn ich muß Dir gestehen, daß auch mich dieser junge Mann lebhaft interessirt, welcher so verschieden von den andern Arbeitern der Fabrik ist, mit denen ich hier und da gezwungen bin, ein Wort zu wechseln.«

»Es war an demselben Tag,« begann sie zu erzählen, »wo wir den Kindern bescheert hatten. Weder mein Bruder, noch mein Vater waren dabei gegenwärtig, denn die ganze Sache war ihnen unangenehm, mein Bruder hatte längst gestrebt, sie zu verhindern, und mein Vater mir nur auf lange Bitten die Erlaubniß dazu gegeben. Wie ich nun so die armen Kinder, die über den hellen Lichterglanz mehr vor Furcht, als vor Freude schrieen, an ihre kleinen Tische geführt hatte, vor denen sie mit halbblöden Blicken still und ohne sich zu regen standen, wie ich sie eben gestellt hatte – wie dann ihre Angehörigen, die sich zur Aufsicht der Kinder, und aus Neugier mit hereingedrängt hatten, den Raum der Stube erfüllten, wie von dieser meist in zerlumpte und unreinliche Sachen gekleideten Menge ein erstickender Dunst[138] in der geheizten Stube entstand, und Viele dieser Leute unter sich unschickliche Späße machten, und in groben Ausdrücken sich unterhielten, wohl hier und da auch halblaut die Gaben tadelten, oder darüber lachten – so ward mir unheimlich zu Muthe, und ich fing an zu weinen. Mein Kammermädchen Friederike, welche ich mitgenommen hatte, mir bei der Bescheerung behilflich zu sein, erschien mir unter diesen Leuten wie das einzige mir gleichstehende Wesen, und als ob es meine beste Freundin sei, sucht' ich an ihrer Seite Schutz vor dieser beängstigenden Umgebung, und indem mich ein kalter Schauer überrieselte, sagte ich leise ausrufend zu ihr: ›O, mein Gott, und das sind auch Menschen, wie wir!‹«

»In diesem Augenblicke war es,« fuhr sie weiter fort, nachdem sie einige Momente lang in sinnendem Schweigen vor sich niedergesehen hatte, »als ich Franz Thalheim zuerst sah. Er stand mir zunächst, und hatte meine unvorsichtigen Worte gehört. Er warf einen unbeschreiblichen Blick voll Schmerz und Vorwurf auf mich, vor dem ich beschämt und zitternd meine Augen senkte – er öffnete den Mund zum Sprechen, und ich fürchtete tadelnde, vielleicht rohe Worte von ihm zu hören – ich fühlte, daß ich sie verdient hatte – aber er sprach mit sanfter, bescheidener Stimme, indem er aber ganz dicht neben mich trat, daß außer Friederiken Niemand weiter hören konnte, was er sagte. ›Ja,[139] Fräulein, es sind Menschen, wie Sie, aber es ist eben ihr Unglück, daß man diesen Tausenden ihre Menschenrechte genommen, und deshalb sogar auch die Fähigkeit, sich über das Thier, zu dem man sie herabgestoßen, zu erheben.‹ Ich fühlte, daß in diesen Worten eine große Wahrheit lag, ja, ich empfand auch zugleich, daß ich ihm eine Abbitte, und für seine Klage ein tröstliches Wort schuldig war, und ich erwiderte: ›Mich jammert jede Noth, und was ich thun kann, um ihr abzuhelfen, will ich versuchen.‹ Er lächelte kummervoll bei diesen Worten, und statt der Antwort gab er mir eine dünne Broschüre. ›Ich bitte Sie, das zu lesen, wenn Sie einmal ein Wenig Zeit haben für diese Unglücklichen alle, welche Sie hier umgeben.‹ Dann trat er ehrerbietig mit einem Gruße zurück und sprach mit einer Frau, welche zwei kleine Kinder auf den Armen hatte. Diese kam dann auf mich zu und dankte mir, ihrem Beispiel folgten dann noch viele der Leute; Manche thaten es unmuthig und förmlich. Andere herzlich und mit Thränen, ich glaube, es geschah nur auf Franz Thalheims Aufforderung, daß sie mir dankten – ich hätte es ihnen gerne erspart, obwohl ich mir dabei sagte, daß es auch Hochmuth sei, ihren Dank nicht annehmen zu wollen, so gut als es Hochmuth sei, ihn zu fordern, – denn was mir bei diesem Dank unwillkührlich lästig war, waren die vielen unreinen, derben und schwieligen Hände, welche die meinen drückten,[140] und die Annäherung dieser schmuzigen Lumpen, welche sie trugen.«

Pauline stand auf, und holte aus ihrem Bücherschrank eine Broschüre, welche sie an Elisabeth gab. Diese las den Titel.

»Aus dem armen Volke. Erzählungen von Franz Thalheim, allen Menschenfreunden gewidmet.« Auf das leere Blatt hinter dem Titel hatte der Verfasser geschrieben: »Dem Fräulein Pauline Felchner mit besondrer Hochachtung gewidmet.« – »Wie ein Engel in der Christnacht sind Sie unter uns, den armen Sclaven Ihres Vaters, erschienen. Sie wollen die Herzen dieser armen Kinder erfreuen, welche niemals eine Ahnung von dem gehabt haben, was man Glück der Kindheit nennt. Wir Alle segnen Sie dafür! Aber wir mögten Ihnen auch zurufen: vergessen Sie über den Segen, welchen Ihre Milde über diese unglücklichen Kleinen bringt, niemals, daß eben diese Kinder einem Elend entgegengehen, von welchem Sie gewiß keinen Begriff haben, Frost und Hunger ist noch das Geringste, das ihrer wartet – ihr Geist erstarrt ohne die Nahrung des Schulunterrichts, und ihr Herz vertrocknet mit ihrem kleinen Körper unter der anhaltenden Arbeit, zu welcher man sie benutzt, Ihre Sitten werden verderbt, alle ihre edleren Gefühle erstickt, weil man sie gänzlicher Verwilderung Preis giebt. Bei diesem Frevel an der menschlichen Würde rufe ich Ihnen[141] zu: mögten Sie diesen Verstoßenen auch als ein Engel erschienen sein, welcher sie aus dem Abgrund emporhebt, in dem sie täglich immer tiefer versinken. – Vergeben Sie, wenn diese Worte zu kühn sind für einen armen Fabrikarbeiter, wie der Verfasser.«

»Ja,« rief Elisabeth erschüttert, als sie noch eine Weile in diesem Buche geblättert hatte, »das ist ein unabsehbares Elend, von dem ich bis jetzt Nichts gewußt habe,« und ihre Haut überlief ein leiser Schauer.

»Wie ich Alles gelesen,« sagte Pauline, »versuchte ich, meinem Vater Vorstellungen zu machen, ob er, wenn einmal Kinder arbeiten müßten, ihre Zahl nicht noch vermehren könnte, aber so, daß sie, einander ablösend, nur wenig Stunden des Tages arbeiteten, und Schulunterricht haben könnten. – Er antwortete mir: den hätten sie, und ob ich denn den Lehrer noch nicht kenne? Wie ich aber weiter sprechen wollte, ward er so böse, wie ich ihn noch niemals gesehen, und verbot mir bei seinem höchsten Zorn, jemals wieder über solche Dinge zu sprechen, welche ich nicht verstände – ja er lachte mich geradezu aus, und schloß endlich damit, daß ein längeres Leben hier mich wohl überzeugen würde, wie seine Arbeiter ganz glücklich wären, und auch alle Ursache dazu hätten, während nur Einige über Elend jammerten, weil ihre unverschämten Forderungen nicht erfüllt würden. Nach Allem, was er sagte, fühlte[142] ich, daß ich gegen meinen Vater schweigen müsse.« Sie seufzte, und fuhr dann weiter fort: »Ich sagte ihm Nichts von Franz Thalheims Buche, ich verbarg es unter meinen andern Büchern. Ich schickte aber nach Thalheim, als eines Sonntags Nachmittags mein Vater in die Stadt im Schlitten gefahren war. Franz kam, ich will ihn nun so nennen, damit wir nicht immer an unsern Lehrer denken, oder ihn doch mit diesem verwechseln, denn auch die Fabrikarbeiter nennen ihn nur bei seinem Taufnamen. Franz trat leise ein, und blieb bescheiden mit der Mütze in der Hand an der Thüre stehen, aber er war nicht verlegen, wie ich gedacht hatte; wenn Jemand von uns Beiden verlegen war, so glaube ich eher, ich bin es gewesen. Ich hatte mich auf sein Kommen vorbereitet, und nun wußte ich eigentlich nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich danke Ihnen für Ihr Buch, begann ich endlich, aber ich würde Ihnen rathen, damit vorsichtiger zu sein, wenn es in die Hand meines Vaters, Bruders oder irgend eines Factors unserer Fabrik käme, so könnten Sie wohl einen schweren Stand bekommen. – Franz erwiderte: ›Kann man die Wahrheit schonender sagen, als ich es gethan? Ich habe ja auch in diesem Buch gar nicht von den Einrichtungen dieser Fabrik gesprochen, sondern was ich versucht habe, ist weiter Nichts, als darauf aufmerksam zu machen, daß die Noth der arbeitenden Classe groß ist, und daß, wenn Einzelne unter ihnen[143] zu Verbrechern herabsinken, nicht sie allein dafür verantwortlich sind, sondern diejenigen, denen es ein Leichtes gewesen wäre, sich ihrer Noth zu erbarmen, und welche es doch nicht gethan haben. Verzeihen Sie, wenn ich zu laut und zu heftig spreche,‹ setzte er hinzu, indem er wieder zurücktrat, und seine Augen senkte, ›aber ich kann nicht anders.‹ Ich suchte ihn darauf deutlich zu machen, wie glücklich es mich selbst machen würde, wenn ich all' dies Elend verschwinden sähe, wie ich aber selbst ganz unbekannt sei mit aller Leitung des Fabrikwesens, und wie es mir nicht zukomme, ich mithin auch nicht im Stande sei, andere Einrichtungen zu bewerkstelligen, durch welche die Arbeiter besser gestellt, und die Kinderhände erspart würden – ja daß ich nicht einmal wisse, ob dies wirklich möglich sei, wenigstens sagten mir Alle, welche Fabriken zu leiten hätten, es sei nicht möglich – und das mache mich selbst am Allertraurigsten. Unwillkührlich traten mir, als ich dies Alles sagte, Thränen in die Augen, und ich konnte nicht weiter sprechen. – ›Ja, ich glaube es wohl,‹ sagte er. ›Diejenigen, welche gern helfen möchten, können es nicht, und Alle die, welche es recht wohl vermöchten und sollten, die wollen nicht helfen.‹ Ich ließ das unbeachtet, und sagte: ›Ich ließ Sie rufen, ein Mal, um Sie zu warnen, von Ihren Büchern wo möglich meinem Vater Nichts wissen zu lassen, und dann wollte ich Sie bitten, da, wo Sie eine augenblickliche Noth[144] welcher zu helfen ist, in den Familien unsrer Fabrikarbeiter sehen, mich davon zu unterrichten, und da werde ich Alles thun, was ich vermag. Oder haben Sie selbst nicht ausreichenden Verdienst? Nehmen Sie dies Geld für Diejenigen, welche es am Meisten bedürfen.‹ Er nahm, was ich ihm gab, mit leuchtenden Augen, sagte, er habe für sich schon Erwerb genug, aber er wisse Viele, die es brauchen könnten – und er drückte mir herzlich, mit edler Freimüthigkeit die Hand. Darauf fragte ich ihn, ob er ein Bruder des Doctor Thalheim in *** sei, und er erzählte mir kurz, was ich Dir bereits mitgetheilt. Ehe jener weiter gereis't war, hatte er Franz hier besucht, da er vorher ein paar Tage auf Waldow's Gut gewesen, und er habe gesagt, wiederholte mir Franz: Fräulein Pauline ist ein edles Mädchen, das, wo es kann, sich Eurer Noth annehmen wird.«

Elisabeth umarmte die Freundin, und sagte: »Also war es deshalb, als Thalheim Dir das Versprechen abnahm, ›immer, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein –‹ es ist sein Befehl, sein Wunsch, darum ist er so heilig.«

Während dieses langen Zwiegespräches der Freundinnen war bereits das spärliche Sonnenlicht längst verlöscht, und der frühe Abend begann hereinzudunkeln. Elisabeth[145] brach auf. Pauline schlug vor, sie zu begleiten, um sie noch länger sprechen zu können. Beide hüllten sich in ihre warmen Schleierhüte und dichten Pelzmäntel, und gingen.

Es war kalt.[146]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 1, Leipzig 1846, S. 131-147.
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