IX. Sonntag-Abend

[147] »Es ist so leicht, die Menschen zu verachten,

Weil sie die Quintessenz des Staubes nur;

Viel größer ist's, sie liebend zu betrachten,

Und kennen ihre arme Staubnatur!«

Alfred Meißner.


Es war kalt, ach schneidend kalt draußen. Der Himmel schien sich immer höher wölben zu wollen, als mög' er gar Nichts mehr wissen von der armen erstarrten Erde, und die Sterne kamen funkelnd heraus, einer nach dem andern, und es war als wetteiferten sie alle mit einander im hellen Flimmern und Prunken.

Es war kalt, ach schneidend kalt drinnen. Drinnen in den elenden Wohnungen der Fabrikarbeiter. Auf den meisten Heerden war längst das letzte im Walde aufgelesene Reisholz verbrannt, und wo ja noch ein paar Stücklein Kohlenvorrath waren, da glimmten sie in einem alten großen Ofen, der nur die empfangene Wärme von sich gegeben hätte, wenn ein großes Feuer ihn hätte zu durchhitzen vermogt. Durch die halb mit Papier verklebten, mit Lumpen[147] verstopften Fenster drang unaufhörlich ein eisiger Luststrom ein. – Auf verfaultem Stroh lagen die halbnackten Kinder, und rieben mit den blauen erstarrten Händen in den blöden Augen, die gar nicht zubleiben wollten, weil Frostschauer, die über die kleinen Gestalten liefen, sie immer wieder aufrissen. Die Mutter lag daneben in einer großen, weiten Bettstelle – das Weib lag weder auf Stroh, noch auf Federn, sondern auf den Latten des Gestelles, zum Kopf hatte sie die zerrissene Pelzjacke ihres Mannes, zur Decke einen alten wollnen Rock, den sie am Tage trug.

Es war kalt, ach schneidend kalt drinnen.

Dem Manne war es zu kalt, drum war er fortgegangen in die Schenke.

In der Schenke war es warm, da brauchte Niemand zu frieren, und Branntwein hatte der Wirth auch – und der Branntwein wärmte dann noch fort zu Hause die wenigen Stunden der Nacht bis die Glocke zur Arbeit geläutet ward.

Es war eine große von Rauch geschwärzte Stube. Einige Talglichter, meist schon herabgebrannte Stümpfchen, erleuchteten sie spärlich. Branntweindunst, der Qualm aus vielen Tabakspfeifen und das Athmen vieler Männer verdichteten die Luft in dieser Stube so, daß es den darin Versammelten unmöglich war, einander in größerer Entfernung, als der von ein paar Schritten, zu erkennen.[148]

An zwei Tischen saßen Einige dieser Männer in zerlumpten Kleidern mit theils bleichen, theils vom Trunk glühenden Gesichtern, und spielten mit beschmuzten Karten, auf denen man kaum noch die Figuren unterscheiden konnte, Schafkopf und Solo. In ihren Augen las man theils ängstliche Spannung, theils verzweifelnde Gleichgültigkeit, theils den Ausdruck thierischen Abgestumpftseins gegen Alles, theils endlich eine halb wahnwitzige Lustigkeit, welche in ihren lärmenden Aeußerungen selbst auf die meisten Andern der Anwesenden einen widerwärtigen Eindruck machte. Die Aeltesten unter diesen Spielern waren die rohesten, so auch unter denen, welche trinkend, fluchend und schimpfend den übrigen Raum füllten.

Nur wenige der jüngern Fabrikarbeiter befanden sich unter dieser Gesellschaft, aber diesen Wenigen sah man es an, daß sie zu den Verworfensten und Liederlichsten gehörten.

Die Meisten der jungen Fabrikarbeiter waren in einer andern Stube versammelt, deren Anblick in der That nicht im Entferntesten den widerlichen Eindruck machte, wie jene.

Diese jungen Leute trugen zwar auch wenig bessere Kleidungsstücke, als die alten, aber sie waren meist reinlicher, und zum Wenigsten alle mit einiger Sorgfalt angelegt. Ihr Haar war glatt gekämmt und unverwildert.

Vor ihnen standen Gläser mit Vier, daneben lagen[149] die kleinen Pfeifen, welche wenigstens jetzt nicht brannten. Kein Glas Branntwein, keine Karte war in dieser Stube zu sehen.

Sie saßen Alle an einer langen Tafel auf hölzernen Bänken sich gegenüber, und sangen.

Franz Thalheim und Wilhelm Bürger saßen obenan – sie waren Vorsänger.

Diese beiden jungen Arbeiter waren innige Freunde und hatten gemeinsam endlich die Einrichtung zu Stande gebracht, von welcher wir jetzt Zeuge sind.

Sie hatten die sämmtlichen unverheiratheten Arbeiter aufgefordert, mit ihnen zu einem Verein zusammen zu treten, dessen hauptsächlichste Regeln waren:

Keine Karten anzurühren.

Keinen Branntwein zu trinken.

Keine Schulden in der Schenke zu machen.

Sich von dem Fabrikherrn niemals Arbeitslohn voraus bezahlen zu lassen.

Dies war der negative Zweck dieses Vereins. Er hatte aber auch einen positiven.

Die Arbeiter hatten eine gemeinschaftliche Kasse, in welche jedes Mitglied wöchentlich eine Kleinigkeit beisteuerte. Aus dieser Kasse bezahlte man an den Schenkwirth, bei dem man Sonntags und Mittwochs Abends zusammenkam, das Bier gemeinschaftlich. Auch bezahlte man davon die[150] Noten-, Sing- und Lesebücher, welche sich der Verein anschaffte, um gemeinschaftlich zu singen und zu lesen. In dieser Kasse hielt man immer auf einen kleinen Fonds, von welchem man auch, wenn eines der Mitglieder krank ward, dasselbe unterstützen konnte.

Diese Einrichtung war nicht ohne die heilsamsten Folgen für die Linderung der äußern Noth, und die Erhebung und Veredlung des Innern für Alle, welche ihr angehörten, deshalb war ihr nicht einmal der Fabrikherr entgegen, obwohl es ihm ziemlich einerlei war, wie es um die Moral seiner Arbeiter stand, und wiewohl ihm die Bedingung: »Sich von dem Fabrikherrn niemals Arbeitslohn vorausbezahlen zu lassen« ziemlich verdrießlich war, denn wenn dies die Arbeiter thaten, konnte er dann ihre Arbeit leicht zu einem geringen Preis erhalten, und hatte dadurch die Leute ganz in seiner Gewalt. Dies eben hatten die Arbeiter nur zu oft schon erfahren müssen, und suchten daher, eh' sie noch ferner zu diesem äußersten Mittel griffen, lieber, wenn sich ein Mitglied durch irgend einen Unglücksfall in dringender Noth befand, durch die gemeinschaftliche Kasse zu helfen, und wenn es auch oft nur in der Art eines Darlehns geschehen konnte.

Zum Kassirer war Wilhelm Bürger erwählt worden. Er saß jetzt obenan. Es war ein junger Mann, der einige Jahr über zwanzig zählen mogte. Seine Figur war klein[151] und gedrungen, von kräftigem Gliederbau. Er hatte kraußes, schwarzes Haar, dunkle Augen und eine frische, gesunde Gesichtsfarbe. Er trug eine Art Blouse von grau und schwarz melirter Wolle, eben solche Beinkleider, und ein roth und gelb gewürfeltes Tuch um den Hals geknüpft, daß zwei ziemlich lange Enden davon herabhingen.

»Ich dächte, drüben in der großen Wirthsstube ginge es recht laut zu? Da sind wohl schon wieder Einige trunken?« sagte Wilhelm, als der Gesang, welchen man soeben gesungen hatte, zu Ende war, und eine augenblickliche Stille herrschte, in welche plötzlich lautes Geschrei, wie von rohem Gezänk vieler Stimmen, herein schallte.

»Viele sind ja den ganzen Sonntag betrunken,« erwiderte einer der andern jungen Arbeiter. »Da kann es wohl bald zu einer Prügelei kommen.«

»Ich höre August's Stimme,« sagte wieder ein Andrer. »Der Junge sollte sich schämen, läßt sich da mit verführen von den Alten – nun die alten Arbeiter sind einmal von Jugend an den Branntwein gewohnt, können einmal nicht anders leben, Vielen thut er gar Nichts mehr – da mag es schon sein, aber der August sollte sich doch schämen.«

»Ja, er lacht uns nur immer aus,« versetzte ein Dritter. »Mich sollt's aber freuen, wenn ihn die alten Kerle drinnen einmal recht durchhieben.«

»Hätte es wohl verdient,« sagte Franz Thalheim, »aber[152] daß eine große Prügelei wird, wollen wir doch nicht wünschen, da heißt es dann gleich in der Fabrik, es sei großes Unrecht geschehen und ein Exceß verübt worden, daß dabei die Unschuldigen mit den Schuldigen leiden müssen.«

Der Lärm, der hereinschallte, ward immer größer.

»Nun, wenn's was Ernstliches giebt, muß ich auch mit dabei sein!« riefen Einige der jungen Arbeiter, und sprangen hinaus.

»Mengt Euch doch lieber nicht hinein, und bleibt!« riefen Andre. Aber es war schon zu spät, Viele waren trotz der Warnung hinausgeeilt.

»Paß Du doch auf, daß sie keine dummen Streiche machen,« sagten Einige zu Franz. »Du hast ja schon manchmal gewußt, sie von Prügeleien und unvorsichtigem Gelärm zurückzuhalten.«

Franz trat in den Hausflur. Die Thüre, welche derjenigen gerade entgegengesetzt war, aus welcher er kam, führte in die große Wirthsstube, in welcher die älteren Fabrikarbeiter zechten und spielten. Diese Thüre war jetzt weit aufgerissen, und Viele Derer, welche vorhin in dieser Stube saßen, hatten sich dazwischen gedrängt.

Im Hausflur wand sich ein junger Bursche – es war der vorerwähnte August – unter den derben Fäusten von einigen der älteren Arbeiter, deren Kräfte durch die Wuth verdoppelt erschienen, und deren Wuth durch die[153] Trunkenheit verdreifacht war. Die entsetzlichsten Flüche und Schimpfworte sandte man von allen Seiten auf ihn.

»Was hat denn der August gethan?« fragte Franz die Umstehenden.

»Falsch gespielt! – Er hat dem alten Böttcher den letzten Dreier auch noch abgewonnen. Er hat uns Alle um's Geld betrogen – uns, wo zu Hause Frau und Kinder fast erfrieren und verhungern – uns hat er das Letzte abgewonnen – ist erst zwanzig Jahr, und doch so ein Gauner!« So riefen viele Stimmen zugleich, und grobe Schimpfreden hallten immer dazwischen.

»Nun aber die Prügelei hilft Euch doch zu Nichts – spielt nicht wieder mit ihm, seht ihn nicht mehr an, da wird er schon bestraft sein,« redete Franz zur Sühne.

»Können wir uns jetzt anders rächen, als wenn wir ihn zu Schanden treten?« rief Einer der Wüthendsten. »Sollen wir ihn etwa verklagen und einstecken lassen, daß wir dann wochenlang umsonst arbeiten können, weil man uns die Gerichtskosten vom Lohne abziehen würde?«

»Franz, Franz!« schrie der unglückliche August, welchen eine starke Faust an den Haaren gefaßt hielt und zur Erde auf die Steintafeln drückte, während ein Anderer einen Fuß, den ein schwerer mit Nägeln beschlagener Stiefel bekleidete, auf seinen Rücken setzte. – »Franz, ich habe schon Alles wieder herausgegeben – Du bist ja sonst menschlich[154] und gerecht! Laß es nicht zu, daß sie mich todtschlagen!«

»Wir wollen ihn hinauswerfen,« sagte Franz. »Da seid Ihr ihn los, und Euer Aerger hat ein Ende, denn er kommt gewiß nicht wieder – das Geld hat er Euch doch herausgegeben?«

»Ja, das haben sie ihm alles wieder abgenommen, und sein eignes dazu,« schrieen Einige, welche gemäßigte Zuschauer abgegeben hatten.

»Nun,« sagte Franz, »so wollen wir ihn hinauswerfen,« und mit Riesenkraft schob er den Fuß des Einen von Augusts Schultern, und unwillkührlich ließ der Andere, welcher sein Haar gefaßt hielt, los, und Franz schleppte nun mit einem raschen Griff den Geschlagenen vor die Hausthüre und rief: »Nun lauf, wenn Du noch laufen kannst!«

August lief wirklich. Einige der Arbeiter sprangen ihm nach, Andere schimpften wenigstens hinter ihm her.

In diesem Augenblicke hörte Franz eine zarte, schluchzende Stimme rufen:

»Helft mir! Erbarmen, wenn ich noch unter Menschen bin!«

Franz kannte diese Stimme, er kannte auch diese Worte, welche er voll desselben entsetzlichen Vorwurfes schon einmal vernommen hatte. Wie ein zweischneidiger Dolch[155] drangen sie wieder in sein Herz, aber wie ein Dolch, welchen eine reine Kinderhand führt, ohne zu ahnen, wie schwer sie verwunden kann.

Er kannte diese Stimme, und sprang in demselben Moment dahin, woher er sie kommen hörte.

Es war dunkel.

Er sah nur eine kleine weibliche, zitternde Gestalt neben einem taumelnden Mann, welcher ihren Schleier mit der einen Hand wegzog, und mit der andern ihren Arm hielt – dabei lachte er, und führte unanständige Reden.

Aber mit starkem Arm schleuderte ihn Franz auf die Seite, daß er taumelnd zu Boden fiel.

Pauline athmete auf – aber sie fürchtete auch den Befreier, und begann zu laufen.

»Gehen Sie lieber langsam,« sagte Franz. »Ich bin es, Franz Thalheim, ich werde Sie sicher bis in Ihr Haus begleiten, gehen Sie nicht schneller, als gewöhnlich, ich folge Ihnen, Sie haben Nichts zu fürchten.«

Er sagte dies mit so schmerzlich bewegter Stimme, weil es ihm weh that, daß nun Pauline vor jedem Fabrikarbeiter fliehen werde, da sich Einer erlaubt hatte, ihr roh zu begegnen – und Pauline errieth an dieser wehmüthigen Stimme, was in ihm vorging, und noch an allen Gliedern zitternd, blieb sie stehen, gab ihm ihre Hand, und sagte unendlich mild:[156]

»Ich danke Ihnen, ich bin so erschrocken, daß ich kaum weiß, wie ich noch das kleine Stück bis nach Hause gehen soll – und Ihnen meinen Dank ganz auszudrücken, vermag ich jetzt auch noch nicht.«

Sie ließ diese kleine Hand mit dem weichen, gefütterten Handschuh in seiner groben Hand, welche nur leise ihre Fingerspitzen zu fassen wagte, und so ließ sie sich von ihm führen. Bald waren sie an dem Wohnhause angelangt – die Laternen davor brannten schon hell.

»Ich danke Ihnen nochmals,« sagte sie freundlich, »und wenn ich wüßte, womit ich Ihnen diesen großen Dienst besser als mit Worten vergelten könnte –«

»Nein, dafür dürfen Sie mich nicht bezahlen!« rief er rasch und wie außer sich – Pauline sah, daß bei diesen Worten seine Augen seltsam glänzten, und eine große Thräne in sie trat, während ein schmerzliches Zucken seinen Mund bewegte, und doch über sein ganzes Gesicht eine Art von Freudenglanz flog – er eilte hastig von dannen.

Friedericke kam Paulinen an der Treppe entgegen. »Da sind sie ja endlich, mein Fräulein! Mein Gott, welche Angst habe ich um Ihretwillen gehabt! Es ist schon acht Uhr vorüber, Sie sind ganz allein gegangen, und wir wußten nicht, wo Sie waren, um Ihnen Jemand entgegen zu schicken.«

Während Pauline ablegte, sich in den Lehnstuhl warf[157] und die kleinen erstarrten Hände wärmte, erzählte sie: »Ich hatte meine Freundin bis an das kleine Haus begleitet, welches in der Nähe des Parkes steht, und in dem unser Oberfaktor mit seiner Frau wohnt. Da fing es sehr heftig an zu schneien, es schien uns vorübergehend, und da wir die Oberfaktorin allein zu Hause sahen, gingen wir Beide hinein, um dort die Schneewolke vorüber zu lassen. So kam es denn, daß wir dort länger blieben, als wir erst gedacht hatten, denn Elisabeth schickte einen Knaben nach ihrem Schlitten in's Schloß, und es dauerte ziemlich lange, ehe dieser kam. Dann hatte es aufgehört zu schneien, ich fürchtete mich nicht, da es so sternenhell war, und nahm nur den Knaben auf Zureden als Bedeckung mit, denn weiter war Niemand zu Hause. Als ich bei der Schenke vorüber kam –«

»Ach, liebes Fräulein, Sie zittern ja am ganzen Körper – es wird Ihnen doch Nichts begegnet sein?« sagte das besorgte Mädchen.

»In der Schenke war ein entsetzlicher Lärm – auf einmal umringte mich ein Trupp Männer und führten gemeine Reden – ich lief stumm fort so schnell ich konnte – da kam mir ein Trunkener von ihnen nach – faßte mich an – und was er sagte, mag ich nicht wiederholen – ich weinte und schrie nach Hilfe – da kam Franz – – er führte mich sicher hierher.«[158]

Pauline hatte dies unter immer heftigerem Zittern erzählt, und sank jetzt ohnmächtig in die Kissen des Lehnstuhls zurück. Friedericke war auf's Theilnehmendste um sie beschäftigt, und weinte selbst mit über die doch bereits überstandene Angst ihrer Herrin. Als diese wieder zu sich kam, fragte sie:

»Ist mein Vater schon zurück?«

»Nein.«

»Wenn er kommt, so laß ihm sagen, es sei mir nicht ganz wohl, ich habe mich zeitig niedergelegt – sage aber Niemand, was mir begegnet ist – hörst Du, Niemand!«

»Wenn Sie es wollen, so kann ich schweigen, als wäre ich stumm,« versprach Friedericke. Pauline ließ sich von ihr entkleiden, und legte sich zu Bette.

Sie war so erschöpft, aber doch zugleich so aufgeregt, daß sie lange vergeblich zu schlafen suchte. Endlich gelang es – aber auch durch ihren Traum klangen immer noch die rohen, schreienden Stimmen hindurch, welche sie im Wachen so geängstet hatten, bis denn auch im Traum Franz Thalheims Bild wie das eines Schutzengels vor ihr auftauchte, daß sie selbst im Schlafe beruhigt und friedlich lächelte.

Auf Franz wartete man an diesem Abend vergeblich in der Schenke, er ging nicht wieder dahin, obwohl es erst[159] acht Uhr war, und bis gegen zehn Uhr pflegten sie gewöhnlich dort beisammen zu bleiben.

Er ging in seine kleine Kammer, er zündete sich nicht erst seine kleine Oellampe an – er hing beim Sternenlicht den Rock, den er auszog, an seinen Nagel, den Shwal über den hölzernen dreibeinigen Schemel, und legte sich auf seinen Strohsack. Es war kalt, aber seine Wangen brannten. Zuweilen aber doch überrieselte ihn ein kalter Schauer – es kam aber nicht nur vom Frost und weil es kalt durch das kleine, in seinen Rahmen klappernde Fenster hereinzog – dieser Schauer kam in den Momenten, wenn er daran dachte, daß Pauline gesagt hatte:

»Helft mir, wenn ich noch unter Menschen bin!«

Und immer wieder mußte er daran denken. Sie hatte diese vielen Stimmen gehört, diese Stimmen Derer, welche arme Arbeiter waren, wie er auch – und sie hatte daran gezweifelt, unter Menschen zu sein – ja sie hatte ihn in der Angst ihres Herzens herausgeschrieen diesen ungeheuern Vorwurf! Ach, freilich! Sie hatte diese Trunkenen, diese rohen Schreier gehört, welche sich sogar mir niedrigen Worten an ihr vergangen hatten – an Menschenwürde hatte sie ja da wohl zweifeln müssen! Und ach, das war es ja eben – sie war auch vor ihm geflohen, denn er war ja auch unter diesen armen, unglücklichen Menschen ohne Menschenrechte, an deren Fähigkeit zur edelsten Menschenwürde[160] Niemand glauben will – sie dachte nun es sei Keiner unter ihnen im Stande, Recht zu handeln – sie war auch vor ihm geflohen, als er sich ihr genähert.

Aber da leuchtete es wieder hell auf in seinem kummervollen Antlitz, und er sagte sich selbst, wie sich plötzlich besinnend: Nein – vor ihm war sie nicht geflohen – nur vor dem ungekannten Mann. Als er seinen Namen genannt, hatte sie ihm vertrauend die Hand gegeben – sie hatte ihn nicht hinter sich gehen lassen, wie einen Diener, wie er bescheiden gewollt – sie hatte ihm die Hand gegeben, und war neben ihm gegangen, wie neben einem Freund – und dann hatte sie ihm gedankt. Aber gewiß hätte sie ihn dafür gern mit irgend einer Gabe gelohnt – aber das sollte sie nicht, nein, dies Mal gewiß nicht, sie sollte ihn nicht bezahlen, wie die reichen Leute die armen für jeden Liebesdienst, womit sie oft so weh thun – sie sollte ihn nicht bezahlen, weil er ein paar Minuten so glücklich gewesen war.

Und so dachte und grübelte er noch lange fort, bis endlich der Schlaf kam, und mit ihm der Traum, und mit diesem Paulinens Bild.[161]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 1, Leipzig 1846, S. 147-162.
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