V. Ein Schreiben

[76] »Ich bin erwacht, ich fühle Kraft –

Die Lumpen reiß' ich von den Gliedern,

Aus freier Seel' die feige Angst,

Den Schlaf von meinen Augenlidern,

Der Liebe Bündniß will ich schließen,

Nicht länger hassend einzeln stehn,

Des Lebens Wohlthat mit genießen,

Nicht länger hungernd zu nur sehn.«

Herrmann Püttmann.


Franz war aufgeregt aber glücklich von dannen gegangen. Pauline hatte ihn nicht von sich verbannt, wie er zuweilen gewähnt hatte, sie war nicht krank, wie man sich bemühte ihn glauben zu machen; sie war sogar stark genug, sich dem Willen derer, welche sie zunächst umgaben und welche, wie es nur zu klar war, sich bemühten, ihre Bestrebungen des Wohlthuns zu hemmen, ihnen Schranken zu errichten – zu widersetzen. Das gab ihm hohe Freude. Er hatte sie verloren geglaubt für sich, verloren für all' die Armen, welche das Schicksal zu seinen Brüdern[76] und Schwestern gemacht hatte, verloren für sie, welche bei ihrem Nahen die Erscheinung eines Engels segnen sollten.

Und es war nicht so! Sie war nicht ihm verloren, nicht ihnen! Sie hatte ihm auf's Neue die Hand zu diesem schönen Bunde gegeben.

Wer weiß? sagte er sich hoffend. Sie ist noch nicht lange hier und schon sind viele Thränen getrocknet worden und Manches ist besser geworden, als es jemals war. wer weiß, ob nicht, wenn sie länger hier weilt, noch bessere Zeiten kommen! Ob sie nicht auch ihren Vater zu milderen Gesinnungen zu stimmen vermag und nicht nur die Wunden heilt, die seine Härte schlägt, sondern seine Härte schwinden macht, daß Alles besser wird!

Als er eben so zukunftsfreudig vor sich hinging, kam Wilhelm ihm entgegen. Er rief:

»Da hat man mir einen Brief an Dich gegeben – es ist nicht die Hand Deiner Brüder auf der Aufschrift – auch lautet sie nicht wie gewöhnlich, ›an den Fabrikarbeiter Franz Thalheim,‹ sondern dem Namen ist noch beigefügt: ›Verfasser der Erzählungen aus dem armen Volke.‹ Sieh' einmal, wie schön sich das ausnimmt; ich glaube, Du hast einen Namen – nun man merkt es doch, daß Deine Eltern gute Bürgersleute waren und Du nicht im Straßenkoth geboren bist, wie unser einer.«[77]

Franz erröthete, als er einen Blick auf die Aufschrift geworfen, die ihm allerdings sehr schmeichelhaft erschien. »Es ist zu dunkel zum Lesen hier,« sagte er, »komm mit in meine Kammer, wir zünden die Lampe an und lesen zusammen.«

Sie traten in das Haus und stiegen hinauf in die kleine Kammer, welche Franz bewohnte. Bald brannte die kleine Lampe und erhellte düster und spärlich den elenden Raum. Franz hielt den Brief nahe an die düstre Flamme, öffnete das dunkle Siegel und sah zuerst auf der letzten Seite nach der Unterschrift. Es war unterschrieben: »Mehrere gleichgesinnte Fabrikarbeiter.« Ort und Datum waren nicht angegeben.

»Das ist seltsam,« sagte Franz, »und das Schreiben ist so lang.«

»Weißt Du was?« sagte Wilhelm. »Du hast gewiß davon gehört, wie es seit einiger Zeit unter denen, welche sich um die Staatswirthschaft bekümmern, oder doch darum bekümmern mögten, Mode geworden ist, an Diejenigen, welche in diesen Angelegenheiten einflußreiche Schritte gethan haben, oder thun könnten, ein Schreiben zu richten, welches von Einem verfaßt und von Vielen unterschrieben wird.«

»Ja, man nennt das eine Adresse,« sagte Franz.

»Nun sieh! Vielleicht haben diese Fabrikarbeiter in[78] Bezug auf Dein Buch, das sie doch auf der Aufschrift erwähnten, eine solche beifällige Adresse an Dich verfaßt. Wenn sie auch ihre Namen darunter gesetzt hätten, so wären uns dieselben doch unbekannt gewesen und deshalb ist es gleich, wenn sie es unterlassen haben. Das ändert in der Hauptsache ja doch Nichts.«

»Nun lass' uns lesen,« sagte Franz, »Deine Ansicht gefällt mir wohl, aber ich weiß nicht, ob Du Recht hast – ich kann nicht glauben, daß man mir eine solche Ehre erweisen würde.«

»Ei, alle Donnerwetter!« rief Wilhelm heftig, »ich wüßte nicht, warum Jemand Dir nicht dieselbe Ehre erweisen könnte, wie Denen, welche oft unnützere Bücher schreiben, als Du und weniger Herz für die Sache haben, welche sie führen wollen, als Du.«

Franz seufzte und sagte: »Wir wollen doch lieber lesen.« Wilhelm sah über seine Achsel hinweg mit in das Papier.

Das Schreiben begann:

»Lieber Franz Thalheim! Wir nennen Dich Du, weil wir alle Menschen. Du nennen, die wir in allgemeiner Liebesvereinigung als unsere Brüder anerkennen. Dich nennen wir aber ganz besonders mit Stolz und Freude Kamerad, denn Du hast es öffentlich ausgesprochen, daß Du dem armen Volke angehörst, für das Du leben willst[79] bis zu Deinem Tode. Wir danken Dir, daß Du Worte gefunden hast, das Elend Deiner Mitbrüder in ergreifenden Geschichten vor aller Welt zu schildern.«

»Wir sind Dir für dies und alles Andere sehr dankbar, was Du bisher im Dienst unserer guten Sache gethan hast, aber um so mehr hoffen wir auch, daß Du nicht dabei stehen bleiben wirst, den Menschen zu zeigen, daß dieses Unglück besteht – sondern daß Du auch auf diesem Wege weiter schreiten und sagen wirst, wodurch diesem Unheil allein zu helfen.«

Franz seufzte und sagte, ehe er weiter las: »Es wird diese gleichgesinnten Brüder freuen, wenn sie mein zweites Buch sehen werden: ›die Rechte des Armen – den Verzweifelnden gewidmet.‹ Es enthält manchen Vorschlag, wie dem Uebel, wenn nicht gänzlich abzuhelfen, doch zu steuern wäre – aber freilich – wenn kein Fabrikbesitzer darauf eingeht – –«

»Lies nur weiter,« sagte Wilhelm gespannt.

Franz las: »Wir wollen Dir in kurzen Abschnitten einige von den Ansichten mittheilen, welche wir zu den unsrigen gemacht haben. Männer, hochgebildete und gelehrte, welche es aber gut mit dem armen Volke meinen, haben das ausgesprochen, was wir Dir jetzt in kurzen Bruchstücken zu lesen geben, damit Du zu derselben Einsicht über unsere Gegenwart und Zukunft kommst, wie[80] wir und danach Dein Streben und Wirken regeln lernst.«

In dem Brief waren nun einige Stellen aus communistischen Schriften angezogen, in welchen die Grundlehren des Communismus mit feuriger Beredtsamkeit und scharfsinniger Dialektik entwickelt waren. Mit glänzenden Farben ward dies System als das einzige angepriesen, in welchem allein das Heil der gesammten Menschheit zu finden sei – ja, der als zu erwartend und unausbleiblich geschilderte Sieg des Communismus ward geradezu als eine historische Nothwendigkeit, als eine zweite Welterlösung dargestellt, welcher die in Irrthum und Unnatur befangene Menschheit bedürftig sei.

Franz Thalheim rief unter dem Lesen einmal über das andere dazwischen, »das ist Wahnsinn – das verstehe ich nicht!« aber Wilhelm sagte fieberhaft aufgeregt:

»Ich bitte Dich, lies weiter – ich versteh' es auch noch nicht – aber es klingt wie lauter Musik vor meinen Ohren und klingt so in meinem Herzen wieder!«

Sie lasen weiter und immer verführerischer klangen ihnen die neuen Auffassungen von Menschenrecht und Lebenswonne, welche sie aus dem Briefe gewannen.

Wilhelm rief wie bezaubert: »So Etwas hab' ich in meinem Leben noch nicht gelesen – mir schwindelt! Vor meinen Blicken geht eine neue Welt auf bei diesen großen,[81] herrlichen Worten – ich habe wohl manch' Mal schon gedacht, daß doch dies ganze Leben, welches jetzt alle Menschen führen, die Einen gezwungen, die Andern freiwillig – eine Tollheit ist, eine Niederträchtigkeit – aber ich habe es noch niemals gesagt, nun sagen es Andere statt meiner!«

Franz verwieß ihm seine Rede und sagte ruhiger: »Diese Leute singen das Lied der Armuth aus einem ganz anderm Tone, als man es zu hören gewohnt – aus einem anderm Tone, als gut ist. Es kann Niemand froh werden, der es so hört. Es ist als wenn Jemand zu einem Krüppel sagte: Du könntest ein schöner Mensch sein, wenn Du nicht als ein Krüppel zur Welt gekommen wärest – er kann es doch nicht ändern – oder zu einem Menschen: Du bist eigentlich ein Engel, aber in eine irdische Gestalt gezwungen, die Deiner höheren Entfaltung hinderlich ist. – – Wie soll der Krüppel, wie der Mensch das ändern können?«

Erst hatte das Schreiben von den Prinzipien des Communismus gehandelt und davon begriff der gesunde Verstand der schlichten Arbeiter nicht das Geringste. Franz hatte Lust, diese Theorien geradezu für hohle Hirngespinste müssiger Köpfe zu erklären, welche, selbst in einer spitzfindigen Philosophie gefangen und von ihr irre geleitet, es dennoch wagten, die Philosophie zu verhöhnen – nur[82] Wilhelm ließ sich von diesen ihm, wie er selbst sagte, unverständlichen Redensarten blenden und bestechen. Aber in dem weitern Verlauf der Schrift ward die Sache des Communismus von der praktischen, von der unmittelbar in's Leben greifenden Seite angefaßt, und endlich schloß der ganze Brief mit einem Aufruf an alle Arme, namentlich alle arme Arbeiter zu innigster Vereinigung, damit es durch sie gelingen möge, die Reichen und Besitzenden all' ihrer Vortheile über die sogenannten untern Schichten der Gesellschaft verlustig zu machen.

Der Schluß des Schreibens lautete:

»Auch Dich, Franz Thalheim, rufen wir auf, Deine und unsere unglücklichen Brüder darauf aufmerksam zu machen, daß die Zeit einer neuen Ordnung der Dinge nahe herbeigekommen ist. Du hast die Kraft dazu, unser Werk unter Deinen Genossen zu fördern – so fördere es unter Deinen Mitarbeitern in der Fabrik durch erklärende und überzeugende Reden, fördre es durch Deine Schriften in weiteren Kreisen. Sehen wir, daß Du dieß thun willst und daß es Dein eifrigstes Bestreben ist den unglücklichen Millionen Deiner Brüder zu helfen – so wirst Du bald wieder von uns hören, so werden wir gemeinschaftlich berathen können, auf was wir Dich jetzt nur durch einzelne, bruchstückweise Erklärungen aufmerksam gemacht haben!«[83]

»Sei uns herzlich gegrüßt, wenn Du wirklich einer der Unsern bist und grüße alle Deine Kameraden, die es auch sind.«

Der Brief war hier zu Ende.

Franz starrte vor sich nieder und stand regungslos.

Die Lampe flackerte ungewiß auf, dann ward sie trüber und trüber. –

Draußen fuhr der Wagen des Fabrikherrn mit vier munter wiehernden Pferden an dem kleinen Haus, in welchem Franz weilte, rasselnd vorbei, daß die Scheiben zitternd, klagend und grollend zugleich in den lockern Fensterrahmen klirrten.

Hundert Mal schon mogte dieser Wagen so vorbeigerasselt sein, wie jetzt und die beiden Arbeiter hatten nicht darauf geachtet – sie hatten nicht darauf geachtet, wenn eben so oft schon die Scheiben unruhig mit einander gemurmelt hatten – jetzt horchten sie Beide auf und riefen Beide zugleich – Wilhelm mit wildem Gelächter des Hasses, Franz unendlich schmerzlich bewegt:

»Da fährt er hin!« –

»Die Laternen seines Wagens blitzen durch den hereinbrechenden Abend,« sagte Wilhelm, »und so fährt er hin durch die Dunkelheit. – Jetzt auf einmal begreif' ich Alles.«

Wilhelms Augen glänzten im dunklen Feuer, die Adern[84] auf seiner Stirn schwollen, seine ganze Gestalt schien größer zu werden, indem er sich hoch aufrichtete. Mit feierlicher, gehobener Stimme sagte er:

»Ja, die Zeit ist gekommen, wo die Armen ihre Rechte wiederfordern dürfen! Daß ich wüßte, wer diese erhebenden Worte geschrieben, diese herrliche Verkündigung eines neuen Evangeliums! Daß ich hineilen könnte zu diesen armen Brüdern, welche zu solcher Erkenntniß gelangt sind, daß ich ihnen sagen könnte: wir wollen zusammen stehen, zusammen handeln!«

Franz nahm seine Hand und sah ihn an. »Du auch, Bruder, Du auch?« sagte er erschrocken. »Was faßt Dich an? Beginnt schon das Gift zu wirken, welches aus diesem Schreiben uns entgegenhaucht? Läßt sich Dein Verstand so bald umnebeln, daß Du schon jetzt zu taumeln beginnst? Ach! diese Worte bethören Dich, diese schlimmen Worte, welche verführerisch klingen, wie Worte des Teufels.«

»Lass' den Teufel aus dem Spiel!« lachte Wilhelm, »mahne mich nicht an die elenden Mährchen! Vor hohlen Schrecknissen zu erzittern habe ich aufgehört – die armen Leute brauchen wahrhaftig nicht erst an eine Hölle da drüben zu glauben.«

»Wilhelm, lästere nicht!« mahnte Franz. »Ich hätte nicht geglaubt, daß dies Schreiben voller Trugschlüsse und[85] Widersprüche Dich so packen, so überwältigen könnte! Es klingt freilich schön, wenn sie sagen: die Liebe, die allgemeine Menschenliebe, welche in den Himmel geflohen ist, als die kindische, junge Erde sie noch nicht zu fassen vermogte, wird ihren Wohnsitz wieder an dem Orte, wo sie geboren und genährt ward, in der Menschen Brust haben. Wir werden unser wahres Leben nicht mehr vergebens außer und über uns suchen – wir werden es in uns tragen, in uns selbst und werden es so wiederfinden in den Andern, in dem Verbande der ganzen Menschheit! – Ach es klingt wohl sehr schön, wenn man so Etwas liest – aber es klingt auch nur so – es ist ein tönendes Erz, es sind Worte ohne Sinn und Verstand. Kannst Du Dir eine menschliche Gesellschaft denken, in welcher Alle zufrieden, Alle in harmonischer Gleichheit leben? – Du mußt das verneinen, Du kannst Dir nicht einmal eine Vorstellung von einem solchen Zustand machen und willst doch Schritte thun, ihn heraufführen zu helfen? Und jetzt willst Du sie thun – und wie? Können ein paar Menschen und noch dazu arme, ausgestoßene, zum Theil verwilderte Menschen das Bestehende umstürzen, und eine neue Ordnung der Dinge heraufführen? Verändert können, müssen unsere Zustände werden – aber nicht durch einen Umsturz aller gegebenen Verhältnisse, sondern durch deren vernünftige Weiterentwicklung und Fortbildung. Ach Wilhelm, ich[86] hätte Dich für verständiger gehalten, hätte nimmer geglaubt, daß Du dem Verführer ein so williges Ohr liehest!« –

»Verführer – nein, Erretter! Das ist nicht die Sprache der Heuchelei, welche man sonst nur zu hören gewohnt ist – es ist die Stimme der Wahrheit, welche mich mächtig ergreift. – Gieb' ihn her, diesen Brief – ich eile damit in die Schenke, ich lese ihn vor in unserm Kreis und man wird mir mit Jubelgeschrei zuhören – komm mit – gieb den Brief!«

»Bist Du rasend?« rief Franz abwehrend. »Nimmermehr! – Komm zu Dir! Bedenke, welches Unheil Du anrichten würdest, wenn sie den frevelhaften Worten dieses Briefes Beifall riefen, wenn Dein erhitztes Gemüth sie zu gleicher blinder Hitze fortrisse, Du setztest Alles auf's Spiel!«

»Du hast Recht, daß Du zur Vorsicht räthst,« sagte Wilhelm gefaßter – »ja, sie könnten Alles verderben, und meine eigne frohe Wuth könnte jetzt vernichten, was wir erst im Dunkeln bauen müssen – Du bist verständiger – ich werde noch Nichts sagen, aber ich muß hinaus in's Freie – mir wirbelts im Hirne – mir ist, als wollt' es mir die Brust zersprengen – mir ist, als hätt' ich in meinen Armen Kraft, eine Welt ihrem gewohnten Gang zu entreißen und Alles zu zertrümmern. Leb' wohl! – oder gehst Du mit?«[87]

Franz sagte: »Ich bleibe hier. – Aber Du versprichst mir, von diesem Briefe keinem etwas zu sagen? Du versprichst, wenigstens jetzt und bis Du Die selbst darüber deutlicher geworden, von diesen Gedanken nicht zu reden, welche dies Schreiben in Dir erweckt hat? Um Deiner selbst willen – um der guten Sache willen – gleichviel, ob die Sache die gute sei, welche ich dafür halte, oder diejenige, welche Du dafür hältst – versprich es, jetzt nicht von diesen Dingen zu reden!«

»Ja, ich versprech' es! Ein Wort ein Mann!« sagte Wilhelm ernst.

»Es ist gut, ich glaube Dir –« versetzte Franz. »Gute Nacht!«

»Gute Nacht – wenn Du jetzt schlafen kannst,« sagte Wilhelm mit wilder Stimme, die halb wie Gelächter klang, und ging fort.

Franz war allein.

Er setzte sich auf den hölzernen Schemel vor den Tisch, auf welchem die Lampe stand und das verhängnißvolle Schreiben lag.

»Ich will es jetzt nicht noch ein Mal lesen,« sagte er zu sich und schob es in den Tischkasten, in welchem seine Papiere und Schreibereien lagen. Dann verlöschte er die Lampe, sie sollte nicht umsonst brennen. Das Oel ist theuer und ein armer Arbeiter muß das bedenken. Die[88] Julinacht draußen war hell, durch das kleine offen stehende Fenster der Kammer schauten die Sterne hell zu ihm herein, sie leuchteten ihm genug zu seinen verworrenen Träumereien. Er hatte seinen Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, das Haupt in die Hand gestützt. So sann er. Bald rieselte es wie eisiger Schauer über seine ganze Haut, bald fühlte er sein Herz, seine Schläfe, seine Adern heftig pochen – dann glitt eine große Thräne langsam, sehr langsam und sehr heiß über seine bleiche Wange.

Er flüsterte leise für sich. Solch' stillgeführtes Selbstgespräch allein mit sich oder mit seinem Gott war für ihn eine Art von Bedürfniß geworden. Seine Genossen verstanden ihn ja nicht – nicht einmal Wilhelm, das hatte er erst jetzt wieder erfahren. Ein Wesen gab es freilich, das ihn vielleicht verstanden hätte – aber von all' diesen Dingen wollte er ja nicht einmal zu der schweigend verehrten Geliebten sprechen, selbst wenn er es gekonnt hätte.

Jetzt sprach er zu sich:

»Und was haben sie denn nun da Anderes gesagt und geschrieben, daß es mich so gewaltsam bewegt hat? Waren es nicht hier und da meine eigenen Worte, was ich da las? – und doch wirbelt mir das Hirn, brennt meine Stirn – mir ist, als sei ich plötzlich fieberheiß hinausgestoßen[89] in eine große Nacht und läge da ringend in Fieberphantasieen mit tausend bleichen, wilden und wesenlosen Spukgespenstern, die ich nicht zu verscheuchen vermögte, die immer wieder sich zu mir herandrängten in ihre wirbelnden Kreise, mich mit fortzureißen, daß ich selbst nicht mehr weiß, wo aus, noch ein. Ich zürnte Wilhelm, daß er den verführerischen Stimmen dieses Schreibens, die mir doch so wahnwitzig, ungerecht und gotteslästerlich sind, ein so williges Ohr lieh, daß er sich ganz von ihnen bethören ließ – und doch hallten sie auch mir immer wieder, wie harmonisches Getön in den Ohren, in der Seele und wollen mich auch umstricken und überwältigen.« –

»Es ist fast vergebens, daß ich sage: hebe Dich von mir, Versucher! Er will nicht gehen – es ist als habe meine Seele keine Macht mehr über ihn! –«

Er lehnte sich wie erschöpft an die Wand zurück und fuhr fort: »Das sind auch die Versuchungen der Armen, von denen die Reichen nichts wissen, sie werden wohl auch oft hart versucht von ihren Schicksalen, von ihren Wünschen – und selbst aus ihrer eklen Uebersättigung an den Bedürfnissen des lüsternen Lebens, selbst durch ihre Befriedigung, ihre Uebersättigung entspringt ihnen eine neue Quelle der Versuchung – aber wie unerschöpflich dagegen ist doch die, welche zugleich mit dem Leben des Armen entquillt und es nimmer verlassend durchfluthet.«[90]

»Den Armen quält der Hunger, der Frost, der Mangel an Allem, was zu den Lebensbedürfnissen gehört – und sich von irgend einer dieser Qualen zu befreien, weiß er dein gesetzliches Mittel. Denn wie er auch arbeiten mag – seine Arbeit wird so gering bezahlt, daß sie nimmer jene schlimmen Begleiter des Armen verbannen kann, welche von dem Augenblick an, als er auf hartem schlechten Lager geboren wird, ihn mit schauerlicher Treue auf allen seinen Wegen begleiten – – aber am Schlimmsten ist doch der Versucher, der zu dem Armen tritt und ihn höhnisch fragt: warum bist Du arm? Habe den Muth, es nicht mehr sein zu wollen und Du bist es nicht mehr – und Tausende Deiner Brüder sind es nicht mehr – – aber diesen Muth zu haben, ist ein Verbrechen – – das sieht wohl der Arme ein und schaudert vor dem Verbrechen zurück – er will es nicht begehen, er kann standhaft bleiben – er kann den Versucher immer sieghaft bekämpfen, aber er kann ihn nicht vernichten – er kann den Feind seiner Ruhe nicht verbieten, wiederzukommen.«

»Wenn einst diese Versuchungen aufhören könnten – wenn eine in Liebe und Gleichheit verbrüderte Gesellschaft sie unmöglich machte? Wenn alle Menschen es vermöchten in heiliger Eintracht neben einander zu leben, daß nicht die Einen darben müßten, wo die Andern mitten im Ueberfluß sich noch unbefriedigt fühlen?«[91]

Nachdem er eine Weile still und sinnend am Fenster gestanden, stumm in die Nacht hinaus und empor zu den Sternen geschaut hatte, trat er wieder zurück an den kleinen Tisch, auf dem die verlöschte Lampe stand. Er zündete sie wieder an, setzte sich nieder, nahm Feder und Papier zur Hand und begann zu schreiben. Er wußte es: wenn so in ihm alle Gefühle in Aufruhr waren, wie jetzt, dann kam der Gott des Liedes über ihn. In Versen versuchte er es, den gewaltigen Sturm seines Herzens ausrasen zu lassen, indem er ihn durch die Worte und Töne, welche er ihm gab, zwar noch vermehrte und erhöhte, aber ihn so auch wohlthuend und weihevoll für seine Seele machte.

So schrieb er jetzt:


Es zieht ein Ahnen durch die Menschenseelen

In banger Lust, in des Verlangens Pein,

Als könnten Erd' und Himmel sich vermählen,

Als könnte auch die Menschheit glücklich sein.

Doch alles Leben ist ein dumpfes Quälen,

Vergeblich Jagen nach des Glückes Schein,

Es ist ein Ringen ohne Rast und Frieden,

Denn alle Ruh ist aus der Welt geschieden.


Und ob auch ringsum Freudenblumen blühen –

Wer ist, der sie zum Heil der Menschheit bricht?

Die Menschheit ringt im Staub, in dumpfem Mühen,

Der Arme weiß von anderm Ziele nicht,[92]

Der Sclave kann nicht für das Recht erglühen,

Von dem nur leis' die innre Stimme spricht.

Ein großer Fluch ist in die Welt gekommen,

Er lastet schwer – er wird nicht weggenommen!


»Den Armen ist das Himmelreich beschieden –«

Einst klang dies Wort als Tröstung durch die Welt,

Der Mensch soll dulden, leiden nur hienieden,

Der Glaube ist es, der ihn aufrecht hält!

Im stillen Hoffen auf des Himmels Frieden

Ertragen alles Leid, wie's Gott gefällt,

So heischen es die frommen Christuslehren,

Durch Himmelstrost die Erde zu verklären.


Doch warum nur die Armen so ermahnen?

Warum, nur sie verweisen auf das Dort?

Warum daß nur auf ihren Lebensbahnen

Das Grab erscheint als einzger Friedensort?

Warum? – und wieder naht ein banges Ahnen –

O flieh', Versucher, fliehe von mir fort!

Die Menschen nur – nicht Gott ist zu verklagen,

Die Menschen, die den Gott an's Kreuz geschlagen.


Ach käm' er, diese Welt erlösend, wieder

Und stiftete ein irdisch Liebesreich,

Wo alle Menschen nicht nur Glaubensbrüder,

Wo sie in Wahrheit all' einander gleich,[93]

Dann käm' der Himmel zu der Erde nieder,

Dann wär' gelöst der Fluch von Arm und Reich,

Und Millionen sänken Brust an Brust

Und würden sich des Daseins Glück bewußt!


O daß er käme zu der armen Erde

In dieser bösen unglücksel'gen Zeit –

Auf daß es Frieden bei den Menschen werde,

Auf daß er sie aus ihrer Schmach befreit'

Und durch die Liebe alles Sein verklärte,

Das jetzt durch Druck und Sclaverei entweiht.

O daß ein Gott zu uns herniederkäme

Mit unserm Wahn auch unser Leid uns nähme! –


Er stand auf, legte die Feder weg, trat an's Fenster und faltete seine Hände.

»Schöner Traum,« sprach er wieder, seine sinnende Stirn in die rechte Hand drückend: »vielleicht erfüllbar auf einem schönern Sterne! – Vielleicht, daß da oben unter diesen Tausenden strahlender Kugeln, auch eine solche Erde ihre ewigen Bahnen zieht, auf der alle Wesen in brüderlich heiliger Eintracht vereint leben – vielleicht, daß dort dieser Traum mehr ist, als ein müssiges Spiel der Phantasie – aber hier kann er nimmer zur Wirklichkeit werden, auf dieser unfähigen Erde mit diesen schwachen Wesen, die sich Menschen nennen. Wir haben ja mit uns selbst nie Frieden im Innern – wir können nicht, wir[94] dürfen nicht im geträumten seligen Frieden leben – wir müssen kämpfen, damit wir unsere Kraft üben, kämpfen und ringen.«

»Wir sollen uns nehmen, was man uns verweigert? Wir sollen die Reichen zwingen, mit uns zu theilen. – Und unser Gewissen? Und unser Gott?«

»Ha! Das ist es! Auch mit der Religion wollen sie ein Ende machen – auch den Glauben nennen sie eine Dummheit! Und da wachen laut in meiner Brust Tausend Stimmen auf und schreien dagegen – da ist mir, als rissen sie mir mein Herz aus, während ich noch athme – und ließen mich allein in einer Nacht – nicht sanft und mild und hell wie diese – in einer Nacht ohne Sterne.«

»Ach, seht Ihr auf mich herab Sterne des Himmels, gebt mir Licht!«

»Es war auch einmal so eine Stunde, wo ich den Himmel fragte, ob es einen Gott gebe! Da lebte meine Mutter noch und hört' es und ward bleich – und sank auf ihre Kniee nieder und betete einen frommen Spruch und weinte laut. Sie faßt' es gar nicht, daß man so fragen könnte, und meinte vor Schauder zu sterben. Was ist's denn nun weiter? fragt' ich sie noch. – Weiter? Es ist Alles – sagte sie. – Wenn Du keinen Gott mehr hast, bist Du auch kein Mensch mehr – – Sie wußte es nicht[95] zu erklären – aber ich ging fort, dachte lange darüber nach und fühlt' es: sie hatte Recht.«

»Mir ist, als hört' ich das dunkle Wort meiner Mutter von den Sternen herüber.«

»Und die Armen – die Reichen?«

»Ach, nur Menschenrechte den Armen, sonst nützt es ihnen auch nicht, daß sie Gott haben!«

»Gebt uns Menschenrechte – gieb uns Menschenrechte, o Gott!«

»Sollen wir sie uns selbst nehmen?«

»Hebe Dich von mir, Versucher!«[96]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 2, Leipzig 1846, S. 76-97.
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