Fünfter Dialog

Ein Liebes-Dialog

im Geiste aller Zeiten zwischen Ella und Louis.

[121] ELLA: Du siehst mich noch immer an?

LOUIS: Noch immer, noch immer.

ELLA: So starr!

LOUIS: Ich komme nicht weg.

ELLA: Dieses Schwarze aus Deiner Pupille bohrt sich wie ein Dolch ein, und ich weiß nicht, welche Empfindungen es in mir erwekt.

LOUIS: Es sind Alles nur Ahnungen und Andeutungen, Simbole für unsichtbare Dinge – bis die Tat geschehen.

ELLA: Kannst Du mir nicht sagen, was Du jezt denkst?[122]

LOUIS: Unmöglich. Und wenn – so möcht' ich es nicht wißen. Und wenn – so möcht' ich es nicht sagen.

ELLA: Und ich soll immer warten?

LOUIS: Das ist Dein Loos. Wir müßen auch warten, nur auf uns selbst. Ihr – müßt auf Andere warten.

ELLA: Weißt Du, was das heißt: immer warten müßen? Ein junges Mädchen sein und immer warten müßen? Immer zusehen, ob auf der andern Seite 'was geschieht, ob der Blik rolt? Und wenn – dann gleichgültig scheinen und sich verstellen? Und wenn nicht – dann loken müßen? Den Stolz verschluken? Und dann immer stärker loken müßen? Mit gelben Kleidern und Moschus und Opoponax? Bis endlich – endlich – und dann nicht den Kopf verlieren, die Situazion ausnüzen, während Er balzt? – Und dann von den Nachbarn bespukt werden? Und von den Freundinnen angeschrieen werden? Und Ihm noch den Wahn vertreiben, als wär' Er betrogen worden? – Weißt Du, was das heißt? –

LOUIS: Sprich nicht so keuchend. Bewege Dich nicht, wie eine Bestie. Ich weiß, daß Ihr auf Raub ausgehen müßt. Und daß ein Turmfalke mehr erwischt, als wie ein Spaz.[123] So sich abmühen müßen! Für diesen einen Moment, in dem der Himmel über uns einzustürzen scheint! Für diese paar Sekunden, in denen wir zur Menschen-Konkurenz zugelaßen werden! Und die wir mit Schmerzen, nicht mit Lust, genießen! So viel Berechnungen! So viel Spekulazionen! So viel Ellen Kaschmir! So viel Stiefletten! So viel Equipaschen, Odörs, Fächer, Operngläser, Tanzstunden ...

LOUIS: Deine Brust geht hoch, wie ein Meer.

ELLA: Weil ich den Sturm in Deinem Auge heranziehen sehe.

LOUIS: Zwischen Deinen Augenbrauen, hier, wo die kleinen Falten sich bilden, da liegt eine ängstige Stelle.

ELLA: Weil ich nicht weiß, ob Du mit vollen Segeln fahren wirst. Ob Du den Sturm brechen wirst.

LOUIS: Um die Lippen ein kranker, abgehärmter Zug wie Enttäuschung, Verachtung, Ekel, Abgenuztheit.

ELLA: Die Angst vor Feiglingen. Vor Männern, die umbiegen. Vor Schwäzern. Vor Maulhelden. Vor Herkuleßen, die mit dem Löwenfell in der Sonne spazieren gehen, und immer die Keule zu Haus gelaßen haben.[124] Dein Haar zittert und kräuselt sich. Dieser Duft ist undefinirbar, man kann ihn nur Ella nennen; es gibt kein tertium comparationis... nur diese eine Welle laß mir ...

ELLA: Sprich jezt nicht spanisch; sondern handle deutsch; da – hier berausche Dich – und nenn' es dann, wie Du willst sie schüttet ihn mit ihren Haaren zu.

LOUIS: Ich will auch Deine Achselhaare bewundern.

ELLA: Laß es! Laß das! Ich bin kein Ballettmädchen, das in die Proszeniumsloschen koketirt.

LOUIS: In diesen kleinen Lökchen nisten die Liebesgötter am liebsten.

ELLA: Du mußt mich bei Vernunft behalten. Beide dürfen wir nicht den Verstand verlieren. Eines muß steuern.

LOUIS: Ich will auch den Tau von diesen Armen trinken, von diesen vollen, die weich wie mit Wolle von Schafen umkleidet sind.

ELLA: Muß das, was uns die Angst auspreßt, erst in Perlen auf unserer Haut stehen, bis wir Euch begehrenswert erscheinen?[125]

LOUIS: Hier hat der Impf-Doktor seiner Zeit seine Lanzette eingesenkt: Eins, Zwei, Drei, – o hier! Vier, Fünf, Sechs, – noch Eins: Sieben Male – als wenn ein junger Knabe seine Fingerspizen hier eingedrükt, als wenn Eros Dich hier berührt hätte, und eine giftige Säure hätte die Eindrüke festgehalten, – Sieben Impf-Male – wie das reizend steht! – wie ein Perlen-Armenband – ein Braßlett des schwarzen Totes – und sie sind silberweiß –

ELLA: Und das macht Dir Freude? – Du Kind!

LOUIS: Die wachsende Fülle, Deine Körperlast, die Ueppigkeit Deines Fleisches hat die Narben auseinandergetrieben, und nun stehen sie groß wie Nelken, gesprengelt und getüpfelt.

ELLA: Du Kind! – Daran belustigst Du Dich?

LOUIS: Es ist wie ein Zeichen der Echtheit. Es ist das garantirte, abendländische Weib. Nur Ihr habt diese großen, strahlenden Kerzen auf den Armen, Ihr Weiber, Alles bauscht Ihr auf, macht Krinolinen darum, macht Alles größer, sogar Wunden und Schmerzen, wikelt Alles in weiße Schürzen ein, um uns zu blenden, zu betäuben ...

ELLA: Mein Gott! Wir achten doch nicht darauf. Was wißen wir als kleine Kinder?[126] Wir werden hingetragen, und der Arzt sticht hinein.

LOUIS: Und die Natur macht Alles schön bei Euch. Sogar Reue, Kummer, Gram, Wunden, Totesfälle in der Familie, offizielle Trauer, Bleichsucht, Ohnmacht, Alles schlägt bei Euch zum Besten aus, und wir – müßen bewundern – müßen anbeten, – müßen werben er drükt sie heftig an sich, küßt sie.

ELLA: Du Narr! Du zerbrichst mich!

LOUIS: Ich kann nicht mit leisen Erosfingern kneten, wie der Knabe, der hier Deine Haut berührt hat; bei mir geht es auf die Knochen.

ELLA: Bist Du fertig mit Deiner Narben-Rede?

LOUIS: Ich sprach so lange von diesen hübschen Narben, – aus Verlegenheit – weil ich hoffte, es werde mir ein Wort einfallen, um den Geruch Deiner Haare zu bezeichnen, die mich berauschen, und die ich nicht weiß, wie ich sie nennen soll ...

ELLA: Da, Du Hamster sie überschüttet ihn auf's Neue mit ihren Haaren.

LOUIS: Es ist wie Nuß – wie Haselnuß – aber 1000 Mal verdünt – und etwas brenzlich –[127]

ELLA: Du spinst Fantasieen!

LOUIS: Ihr könt es nicht riechen. Ihr habt nicht die Organe dazu. Blondes Haar ist wie ein Geruch, der von tausend Stunden herkomt, gerade noch erriechbar, ein Geruch aus der Vergangenheit – besonders Gekräuseltes ...

ELLA: Junge, Du willst mich verrükt machen!

LOUIS: Der Zug um Deine Lippen ist jezt milder, weicher, freudiger.

ELLA: Weil ich dir jezt vertraue. Weil ich weiß, daß du stark bist. Weil ich weiß, daß Du mich verteidigen würdest; daß Du nicht davonliefest – aber Du bist verrükt – jezt wenigstens in diesem Moment bist Du verrükt – und vielleicht ist das das Wertvollste, was Ihr Männer besizt ...

LOUIS: Deine Lippen werden troken, rüffig, beweglicher, der starre Zug ist gewichen, ein Frösteln und Zittern durch diese Deinem Willen entzogenen blaßroten Rüfen, dies deutet Grausamkeit an, oder Angst davor, – es ist nicht schön – Du bist jezt nicht schön – diese Züge sind brutal, tierisch – Du bist jezt auch nicht Du – nicht, die Du im Leben bist – in Dir wütet jezt auch ein Verhängnis ...[128]

ELLA: Sei still – und beobachte nicht. Denke nicht beim Küßen. Oder sprich, dann aber laß mich in Ruh'. Du Peiniger! Du liegst furchtbar schwer auf mir. Siehst Du denn nicht, daß meine ganze linke Brust gequetscht ist. Du Freßer! Nein laß das! Nein, ich will mich nicht entblößen. Ich – äh – ich schäme mich ... Ich will durchaus nicht tugendsam scheinen. Ich bin keine Baletöse. Aber dies kann ich nicht leiden. Nein, ich bitte Dich, knöpfe hier nicht auf. Laß die Achsel. Du kanst doch auch so. Du Tirann! – Du zerreißt mein Hemd! – So – jezt ist mein Hemd zerrißen – der Stikeinsaz – der kostet allein M. 1,50 – den hat meine jüngere Schwester gemacht. – Du meinst wohl ...

LOUIS: Sei ruhig! – küßt sie heftig sonst erdroßele ich Dich ... ich schimpfe Dich! – Nimm Dich in Acht, Du ...

ELLA: Pst! – Horch! – war das nicht die Tür?

LOUIS: Welche Tür?

ELLA: Die Gang-Tür. – – Ja, weiß Gott ...

LOUIS: Hast Du nicht zugemacht?

ELLA: Wo? – Draußen? – Nein![129]

LOUIS: Nein hier, die Zimmertür.

ELLA: Natürlich – die ist zu. – Aber das hilft mich nichts. Sie wißen doch, daß Du da bist.

LOUIS: Dürfen sie's nicht wißen?

ELLA: Ach wohl. – Aber ich will's nicht haben, – Wegen meiner Mutter, – ich schäme mich doch, – weil sie sich schämt.

LOUIS: Es hat Dir also Niemand 'was einzureden.

ELLA: Mir? – Ach nein – sie sind ja alle arm! –

LOUIS: Deine – Mutter – Deine ...

ELLA: Ach ja! – Vater ist ja krank – der liegt ja schon seit 10 Jahr – kann sich nicht bewegen – der liegt immer auf dem Rüken – liest immer Gesangbuchslieder – »Befiehl Du Deine Wege ...« – ganz laut mit der Brille.

LOUIS: Der weiß aber nicht, daß – Du ...

ELLA: I wo? – Der erschlüge mich mit der Bettscheere – der will doch immer haben, daß ich Diakonißin werde.[130]

LOUIS: Nun und die Andern?

ELLA: Ach Ida – na die is ja doch beim Weißnähen – die lernt doch noch.

LOUIS: Wie alt ist die?

ELLA: Ach die ist doch erst 15 Jahr.

LOUIS: Wird die ebenso hübsch?

ELLA: Ach Gott, ich weiß nicht – ist en ganz nettes Mädchen ...

LOUIS: Nun und die Mutter?

ELLA: Ach die Mutter ist ja furchtbar fleißig – wäscht den ganzen Tag – und wäscht auch außer dem Hause – aber die muß ja doch für Vater sorgen – und dann hab' ich doch noch zwei Brüder ...

LOUIS: Zwei Brüder!

ELLA: Ja – und der Eine kommt jezt auf Lateinschule, der braucht Cornelius Nepos und die lateinische Grammatik von Elend – die hab' ich heute gekauft – dort liegt sie – und Hefte und Geschichtsbuch –[131] und was der Junge zerreißt ... und was der ißt...

LOUIS: Das ist ja unglaublich ... nun, und der Andere? –

ELLA: Ach, der ist ja fein heraus – der ist Schloßer – das is ein geschikter Mensch – der verdient für seine 20 Jahr en hübsches Stük Geld – aber nu will er heiraten – seine Elise – 'ne dumme Schußel – und da hat er mich nun – 'für's Erste' – 'zum Anfangen' – auch um 300 Mark angebettelt – nu, was will ich denn machen? – ich hab's ihm doch geben müßen – mein Gott! die ganze Familie liegt ja doch auf mir ... liebkost ihn Ach nein, Du darfst nun kein Gesicht machen – ich sag' Dir das nicht deswegen –

LOUIS: Kind, – ich bitte Dich ...

ELLA: Horch! – nu ise draußen! – Es war Mutter. – Die hat nur nach Vater gesehen – nu ist die Luft rein –

LOUIS: Wo liegt denn Dein Vater?

ELLA: Der liegt ganz hinten – ach, der ist ganz zufrieden! nu hatse doch nichts gemerkt! – Sonst hätt' ich heute Abend wieder meine Schimpfe bekommen ...[132]

LOUIS: Ja, aber mein Gott! ...

ELLA: Ach Gott, Du fragst und fragst ... Du bist wie ein Kind ... Komm' her! sei lieb! – Gott, was Du für en Gesicht machst! ...

LOUIS: Gott, wenn ich das Alles höre ...

ELLA: Nu was denn?

LOUIS: Ach, alles dies Elend –

ELLA: Dummer Junge, die Grammatik ist nur von Elend.

LOUIS: Ach, das ist Alles so traurig!

ELLA: Was bildest Du Dir ein?! – Wir sind gar nicht traurig! – Man muß »das Läben äben nähmen«, sagt der Sachse. – Wir haben heute Dampfnudel mit Zwetschgen gehabt, und der Kleine hat gegeßen – na beinahe hätt' ich gesagt: wie en Schloßer! – also: wie en Drescher ...

LOUIS: Und der Schloßer?

ELLA: Der Schloßer ißt Mittags nicht zu Hause.[133] – Also nu man lustig! – »Siropp!« sagt der Engländer.

LOUIS: Was sagt der Engländer?

ELLA: »Siropp!« oder »Sirupp!«

LOUIS: Ach: cheer up! – Das heißt: Sei lustig! – Das hat aber mit Sirup nichts zu tun.

ELLA: Na, das 's egal. Wenn der Mann nur süß ist.

LOUIS: Na, erzähl' mir sonst Etwas, Kind. Wie lebst Du?

ELLA verhült daß Gesicht: Ach – miserabel! – Ach, es ist 'n Unglück ...

LOUIS: Aber wieso? – Du bist doch hübsch! Du hast 'nen Haufen Verehrer – gestern, in der Konditorei, drängte sich ja Alles um Dich – Du wählst Dir Den aus, der Dir gefällt – und dann –

ELLA: Und dann?

LOUIS: Bist Du versorgt. – Und Nachts hast Du ja Deine Ruhe.

ELLA: Ach, was Du Dir nicht Alles vorstelst! ...[134]

LOUIS: Wieso?

ELLA: Meinst Du denn, das geht nur so? ...

LOUIS: Na, wie denn?

ELLA: Und das Schikaniren – und die Plage – und die Not – und das Aufpaßen – und die Verachtung – und das Feilschen – und die Krankheiten – und die Zumutungen – und doch immer elegant – und immer freundlich – und immer schik – und immer in Handschuhen ... und dann – plötzlich winkt ein Herr

LOUIS: Ein Herr winkt?

ELLA: Ein Herr in Uniform – und Du verschwindest – ohne Rettung – ohne Hülfe – wie eine Blume, die man von der Wiese bricht – verduftest – fort! ...

LOUIS: Du kanst Dich doch verteidigen?

ELLA: Nichts kanst Du! Du bist rechtlos, Du bist kein Mensch mehr, bist eine Sache – ein Stük Gepäk, welches man auf der Eisenbahn aufgibt ... Das heißt: Du bist ein Mensch, und man betont dies Wort ausdrüklich noch besonders – aber in Wahrheit bist Du eine Sache – – weil ...[135]

LOUIS: Weil?

ELLA: Weil Du Deinen Nebenmenschen Freude gewährt hast – weil Du ein Mädchen der Freude bist – ein Mädchen aus dem Volk, das nicht lange über seine Gaben nachgedacht hat ...

LOUIS: Und dann?

ELLA: Und dann – erscheinst Du in einem Saal, grün drapirt, und da sizen ernsthafte Herrn, in Röken und Kappen, bebrillt, mit dicken Foljanten ... und da geht es dann an ...

LOUIS: Nun:

ELLA: Von der sitlichen Weltordnung – und dem Winken mit den Augen, und den Bliken, und dem Kleine-Schrittchen-machen, und dem Weiße-Rökchen-Bauschen und den hohen Stifletten ... und Alles ist verboten – Alles ist Sünde – Alles ist gesezlos ...

LOUIS: Und dann heißt es?

ELLA: Dann heißt es: auf so und so lange als Bestie verschikt, und geknebelt, und beschimpft, und ausgehungert, bis die Brüste welken, und ausgedört, bis die Augen erlöschen ...[136]

LOUIS: Und dann?

ELLA: Dann – erstikt der Laut – und die Seele erstikt – und es fallen Einem Gesangbuchsverse ein – und ich höre den Vater deklamiren: »Schmücke Dich o liebe Seele ...«

LOUIS: Und dann?

ELLA: Und dann – dann – nach Wochen, nach Monaten, nach einem Viertel-Jahr – wenn Du wieder in Deinem Stübchen sizst – und hast wieder Deine weiße Wäsche – und bist wieder voll und blühend – und die Veilchen duften durch's Zimmer – und es ist Samstag Abend – dann kommen sie – diese Herrn –

LOUIS: Welche Herrn?

ELLA: Die Herrn aus dem grünen Zimmer ...

LOUIS: Die Herrn aus dem grünen Zimmer?

ELLA: Die selben Herrn aus dem grünen Zimmer – mit ihren Brillen – die Herrn Doktoren und Aßeßoren und auch manchmal: Pastoren – und der Eine will ein weißes Hemdchen, und der Andere will ein gelbes Hemdchen, und der Dritte ein seidnes Hemdchen, und der Vierte ein Spizenhöschen, und der Fünfte[137] will nur die Strumpfbänder lösen, und der Sechste will mit den Schuhsolen auf den Kopf geschlagen werden, und dem Siebten fällt der Zwiker hinunter – – jezt schillert die sitliche Weltordnung in allen Farben, und geht kühn einher, wie eine Dirne, und schäkert in kleinen Schrittchen, und trägt hübsche Stiefletten, und schmeißt mit den Bliken, und bauscht die Unterröke ... was hast Du denn? – aber, so wein' doch nicht! ...

LOUIS: Ach, das ist ja Alles so gräßlich! ...

ELLA: Das ist doch kein Grund zum Weinen! – Komm', mein Junge, sei vernünftig – es ist die hohe Polizei und das Christentum – welches uns diese Behandlung zu teil werden läßt – wenn das erst vorbei ist, dann wird es auch mit uns besser werden ...

LOUIS: Was hat denn das Christentum hier zu tun?

ELLA: Ach Jotte, Du weißt ja doch: am Charfreitag dürfen wir nicht ausgehen – weil unser Herr und Heiland für uns nicht gestorben ist – am Charsamstag dürfen wir kein Eßen holen, weil wir auch zum Abendmahl nicht gehen dürfen – und am Ostersontag dürfen wir nicht unter der Sonne spazieren gehen, weil doch unser Herr und Heiland für uns nicht auferstanden ist – wir Mädgens bleiben dann allemal im Bett liegen und lesen SacherMasoch...[138] aber so wein' doch nicht, mein Junge. – Hier, nimm mein Taschentuch! – Wart', das is schmuzig! – wart', ich hol' Dir eins!

LOUIS: Nein, bleib im Bett! – Es geht vorbei ...

ELLA: Nu heult der wie 'n Schloßhund! ... Komm, sei lieb – mach keine Dummheiten! – Jotte, is das en Mannsgeschlecht! – Ich hab' doch gar nichts gesagt! – Hier hast Du meine Haare, Du Freßer! – – Nu, ich hätte Dir doch en Taschentuch geholt! – Nu sieh 'mal, puzt der sich an meinem Hemdeinsatz ab.

LOUIS: Das macht ja nichts; 's ist ja nur Waßer.

ELLA: Nein Tränen sind's.

LOUIS: Du sagtest doch, Du müßest nun doch das Hemd in die Wäsche geben.

ELLA: So hab' ich's nicht gemeint. Ich meinte, das Hemd sei zu schlecht für Dich und wolte Dir 'n Taschentuch holen.

LOUIS: Ist für mich grad' gut genug.[139]

ELLA: Na, wenn Dir's nichts macht.

LOUIS rüttelt sie: Du grauenhaftes Frauenzimmer!

ELLA: Du, hör' 'mal!

LOUIS sich verbeßernd: Ich wolte sagen: Du Kanalje!

ELLA: Na, das is nicht viel beßer.

LOUIS küßt sie: Du Pracht-Geschöpf!

ELLA: Nu wirst Du wieder vernünftig.

LOUIS: Ihr sezt Einem ja mit Fäusten den Kopf zurecht – mit brutalem Schimpfen.

ELLA: Wer hat geschimpft? – Du hast geschimpft!

LOUIS küßt sie: Aus Verzweiflung.

ELLA: Schon wieder Verzweiflung?

LOUIS: ... Um Dich ganz in der Hand zu haben – Dich fest in meinem Kopf zu haben – um Dich aufzufreßen ...[140]

ELLA: Gott, brüll nicht so!

LOUIS: Jezt gehörst Du mein!

ELLA: Noch nicht!

LOUIS: Rühre Dich!?

ELLA: Gott, faß' mich nicht so! – Du tust mir weh! ...

LOUIS: Rühre Dich?!

ELLA: Gott, das tut mir weh!

LOUIS: Ich hab' kein Erbarmen mit Dir! – Du hast mit mir auch kein Erbarmen gehabt ...

ELLA: Weil Du nicht wußtest, was Du ... Gott, drük' mich nicht so!

LOUIS: Laß mich Deinen Busen seh'n!

ELLA: Ich mag nicht.[141]

LOUIS: Das ist ja schon zerrißen ... fort mit dem Einsaz!

ELLA schreit: Nu reißt Der mir das ganze Hemd entzwei.

LOUIS: Dein Schwesterchen näht ihn Dir wieder hinein.

ELLA: Ja, dafür muß ich aber bezahlen.

LOUIS: Du bezahlst ja für die ganze Familie.

ELLA: Sieh 'mal hier, da hat mich vorgestern ein Herr gebißen.

LOUIS: War das der Herr aus der Konditorei?

ELLA: Ja natürlich.

LOUIS: Ja natürlich? – Also doch! ...

ELLA: Gott, ich weiß ja nicht, was Du meinst.

LOUIS: Dann hast Du mich also doch angelogen. –[142]

ELLA schreit: Gott – laß mich! – Was fält Dir ein? – Mmmm! – Du bist wohl verrükt. Du brichst Einem ja die Knochen entzwei.

LOUIS küßt sie: Du Pracht-Geschöpf! – aus der Hand Gottes tadellos hervorgegangen ...

ELLA: Ja, aber aus Deiner Hand werd' ich kaum tadellos hervorgehen ...

LOUIS: Du Hure, Du – zerstörst jede Begeisterung ...

ELLA: Laß mich – halt! um Gotteswillen! – nur einen Moment ...

LOUIS: Kein – Erbarmen – mehr ...

ELLA: Halt! – Ach Gott! – Ach! ... – Du Geier! ...[143]

Quelle:
Oskar Panizza: Dialoge im Geiste Huttens. München 1979, S. 121-144.
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