Warum verstummt das Lied?

[205] »Warum verstummt das Lied, daß heiße Welle

Sich stürmisch einst aus deiner Brust ergoß?

Das Lied, das dunkel bald, bald wieder helle

In fremde Herzen strömend überfloß?

Ist's unerhörten Mißgeschickes Grelle,

Die, dich versteinernd, dir die Lippe schloß?

Wie? Oder ward dir solches Glück zu eigen,

Daß es zu feiern nur mit sel'gem Schweigen?«


Das ist es nicht. Kein Uebermaß der Wonnen,

Kein ird'scher Schmerz hält mich in seinem Bann,

Und fahre ich nicht fort wie ich begonnen,

So ist's nur, weil ein Traumbild mir zerrann,

Ein holder Wahn, ein süßer Märchenbronnen,

Aus dem ich immer neue Kraft gewann,

Im Lebenskampf mich standhaft zu bewähren,

Des Lebens Leid im Liede zu verklären.


Was dieses Traumbild war! Es war der Glaube

An eines Gottes treue Vaterhand,

An eine Heimat über'm Erdenstaube,

An meines Wesens ewigen Bestand!

Seit er dem grimmen Zweifel ward zum Raube,

Ist stumm mein Lied, mein Inn'res ausgebrannt,

Und lähmend dringet mir auf allen Wegen

Der Moderhauch der Endlichkeit entgegen!
[206]

Wenn blinde Mächte nur das Weltall lenken

Die selber weiter nichts als Stoff und Kraft,

Dann fluche ich dem Fühlen und dem Denken,

Den Folterknechten unsrer grausen Haft,

Dann lob' ich jeden, der mit Taumeltränken

Dem marternden Bewußtsein sich entrafft,

Daß er, samt seines Geistes reinsten Trieben,

Ob heut', ob morgen spurlos muß zerstieben!


Dem finstern Rätsel nimmer nachzusinnen,

Beglückt, wem sich der einz'ge Ausweg bot!

Mir liegt er fern; auf Stunden nicht entrinnen

Kann ich dem Wehgefühl so bitt'rer Not.

Soll diesem Sein kein höh'res sich entspinnen,

So ist es mir nur ein geschminkter Tod,

Ein Truggesicht mit gleißnerischen Zügen,

Die frechste, die verruchteste der Lügen! –


Dem starren Weltgesetz muß ich mich neigen,

Das mich zum Staub erniedrigt, zum Atom!

So wall' ich denn, versenkt in düstres Schweigen,

Auf Erden hin, ein Schemen, ein Phantom,

Bis, fortgerissen von dem Todesreigen,

Erfaßt von der Vernichtung dunkelm Strome,

Die Qual, die Leben heißt auf diesem Sterne,

In meinem Grabe ich vergessen lerne!

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Auswahl und Nachlaß, Stuttgart 1895, S. 205-207.
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