An ***

[36] Du forderst rückhaltslos Vertrauen?

Du willst in deinem frommen Wahn

Zutiefst in meine Seele schauen,

Den stürmereichen Ozean? –


Du willst behutsam, leise tauchen

In meine Wunden deine Hand?

Du wähnst mit sanften Liebeshauchen

Zu mildern ihren heißen Brand? –


Wenn ich nun deinen Wunsch erfüllte,

Wenn all' die Schmerzen, Stück für Stück,

Ich nun vor deinem Blick' enthüllte,

Wie bebtest du entsetzt zurück!
[36]

Wie schnell entwiche deinen Wangen

Der Jugend heit'rer Rosenschein,

Und deinem Herzen das Verlangen,

Ein Tröster solchem Weh zu sein!


Schon halb erfaßt von dem Verderben

Spräch'st du: Was kann ich dir mehr sein? –

Nichts bleibt dir übrig als zu sterben –

Stirb denn, wie du gelebt: allein! –


Das will ich! ja, so will ich's halten!

Ob auch mein Herz vergeht und bricht;

Das Gift, davon ich muß erkalten,

In fremden Becher flöß ich's nicht.


Nein, unser Weg ist nicht gemeinsam,

Denn Glück und Hoffnung sind noch dein.

So lebe wohl und laß mich einsam

In meiner Todesstunde sein. –

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 36-37.
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