Ein Gebet

[107] O wie schlug das Herz mir schnelle,

O wie seltsam mir geschah,

Als ich dort in der Kapelle

Deine Mutter beten sah.


Das Gebet voll Lieb' und Schmerzen,

Das sich ihrer Brust entschwang,

War es nicht mit meinem Herzen

Innerster Zusammenklang?


Galt nicht dir ihr frommes Sehnen?

Dir nicht ihrer Andacht Brand?

Netzen hätte ich mit Thränen

Mögen ihre treue Hand.
[108]

Aus dem Kampf, dem qualdurchgrauten,

Dämmerte mir sanfte Ruh',

Und mit sel'gen Wonnelauten

Rief mein Innerstes ihr zu:


»Ja uns trennt des Lebens Gleißen,

Trennt der Erde bunt Gewirr!

Tochter darf ich dich nicht heißen,

Aber Mutter bist du mir!


Die, von höchster Huld erkoren,

Meines Daseins Schmuck und Zier,

Die den Heiland mir geboren,

Mutter! sei gesegnet mir!«

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 107-109.
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