Endziel

[5] Wein schöner Süd! ein fremder Gast

Bin ich zu dir gekommen,

Allein mit Freundesarmen hast

Du mild mich aufgenommen.


Je länger ich bei dir verweilt

So heller ward mein Sinnen,

Du hast die wunde Brust geheilt

Und alle Schmerzen drinnen.


Aus ihrer dumpfen Grabesruh

Erwecktest du die Lieder

Und als ich schied, riefst du mir zu:

»O kehre baldigst wieder!«
[6]

Mein schöner Süd! du bist der Stern,

Dem zustrebt mein Verlangen,

Doch hält mich hier im Norden fern

Des Müssens Bann gefangen.


Den theuern, köstlichen Ertrag

Von deinen Liebesspenden,

Den muß ich jetzo Tag für Tag

Vergeuden und verschwenden!


Doch wenn ich einst den Sieg gewann,

Die Wirren all geschlichtet,

Dann flüchte ich zu dir, wie man

Zu einem Freunde flüchtet. –


Um mir an deinem Blüthenscherz,

An deinen Sonnenblicken

Den müden Geist, das müde Herz

Auf's neue zu erquicken.

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 5-7.
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